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no. 8: zeitenwenden
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aufgelesen |
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Sándor Márai: Die GlutMünchen: Piper 1999. Aus dem Ungarischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christina Viragh. 224 Seiten. |
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Seit fast einem Dreivierteljahr findet sich hartnäckig ein Buch in der Spiegel-Bestsellerliste -- ein schmales Buch mit einem Frauengesicht mit melancholischen Augen auf dem Einband. Sándor Márais Die Glut ein Bestseller -- das ist aus zahlreichen, sehr verschiedenen Gründen erstaunlich! |
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Márai selbst, dessen Bücher in seinem Heimatland Ungarn lange verboten waren, erfährt vom späten Ruhm seines Werks nichts mehr: Er nahm sich 1989 das Leben, bevor der Eiserne Vorhang fiel und lange bevor 1999 die Frankfurter Buchmesse mit dem Thema 'Ungarn' die Rezeption seines Werkes entscheidend förderte. Im Klappentext wird sein Werk auf eine Stufe gestellt mit dem Musils und Roths, und in der Tat ergreift den Leser der Hauch der k.u.k-Monarchie. In seiner Melancholie, dem gesellschaftlichen Milieu, in dem die Geschichte angesiedelt ist, ist dieser Roman ein spätes Vermächtnis einer vergangenen Epoche. Was nun beschert der Glut so viele Leser, die aus einer Zeit der Hochgeschwindigkeit, der Globalisierung, des neuen Gründerbooms, der oberflächlichen Vergnügungskultur hineinblicken in das so gänzlich andere, ganz unspektakuläre Leben von Márais Figuren? Denn eigentlich passiert in diesem Roman ... nichts. Es gibt nicht eine einzige wirklich dramatische Szene, keine Sensationen, keinen Eklat, es fließt kein Blut. |
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Der Roman ist einzig der lange Monolog eines alten Mannes, der am Ende seines Lebens Bilanz zieht und sich eine letzte Begegnung mit seinem vormals besten Freund herbeisehnt. Dieser besucht ihn schließlich tatsächlich, und sie haben endlich Gelegenheit, miteinander abzurechnen. Warum hat der Besucher einst seinen Freund mit dessen Frau betrogen? Warum wagte er es nicht, ihn auf der gemeinsamen Jagd aus dem Weg zu räumen? Warum sprach die Frau des Erzählers seitdem kein einziges Wort mehr mit ihrem Mann? Warum liegen nun drei zerstörte Leben vor den beiden alten Männern, glücklose, einsame, verzweifelte Jahrzehnte? Warum war das Band der Freundschaft nicht stark genug, den Verrat am Freund zu verhindern, warum aber doch zu stark, als daß die beiden einander einfach hätten gehen lassen können? |
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Entgegen den Erwartungen des Lesers (und anders als in der Rezension in einer Frauenzeitschrift beschrieben) kommt es jedoch letztlich nicht zu einer Abrechnung zwischen den beiden. Der Monolog des Erzählers wird nur durch einige relativ belanglose Sätze seines Gegenübers unterbrochen, im übrigen setzt sich sein Gedankenstrom unbeirrt fort. Es reicht, dem Verräter die Hand gegeben, ihm noch einmal in die Augen gesehen zu haben. Genugtuung gibt es nicht mehr, keine Erlösung, keine Vergeltung -- alles ist unwichtig geworden angesichts der Tatsache, daß die von beiden so sehr geliebte Frau schon lange im Grab liegt, angesichts der Tatsache, daß selbst das, was uns als das Wichtigste im Leben erscheint: Liebe und Freundschaft, mit uns verweht wie Staub. |
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Und das ist die Quintessenz dieses Romans: ein memento mori inmitten unserer spaßsüchtigen Zeit, eine Erinnerung daran, was uns im Leben wirklich treibt, und die Botschaft, daß wir alle auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens nur mit diesem selbst antworten können. Wenn wir einst selbst greise im Lehnstuhl sitzen und zurückblicken, werden wir sehen, welche Antworten wir mit unserem Sein gegeben haben, welchen Sinn all das hatte. Und so ist auch der Erfolg des schmalen, unspektakulären Buches zu erklären: Inmitten einer Zeit des Sinnverlusts, der Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit ermöglicht der Blick aus unserem Jahrhundert in ein vergangenes die Rückbesinnung auf das, was letztlich einzig Bedeutung hat. |
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Und so kann, wer besorgt auf die Feldbuschs und Raabs dieser Tage blickt, nachts wieder ruhig schlafen: Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens wird wohl erst mit den Menschen selbst diesen Planeten verlassen. |
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(Bettina Krüger) |
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Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen mussFrankfurt am Main: Eichborn 1999. 540 Seiten. |
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Man mag sich erinnern: Im letzten Jahr, nicht nur pünktlich vor der ominösen Jahrtausendwende, sondern auch rechtzeitig, um zum Weihnachtsgeschäft auf den Bestsellertischen plaziert werden zu können, erschien ein Buch, dessen Titel unweigerlich zum Stehenbleiben zwang: Bildung. Alles, was man wissen muss. |
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Nur Zyniker konnten hier einen Scherz vermuten (ein Schelm, wer Böses dabei denkt), versprach doch der Klappentext angesichts eines "Wissens im Umbruch", eines "Bildungssystems in der Krise" und dem immer lauter werdenden "Ruf nach einem Kanon" mit dem circa 500-seitigen Handbuch, das man mittlerweile staunend in Händen hielt, "die erste Neuorientierung hinsichtlich der Kernbestände unserer Kultur". Und als sei ein solches Versprechen nicht bereits genug, um selbst die Ungläubigsten noch zu überzeugen, sprang gleich qua Zitat auch noch der Bundespräsident höchstpersönlich in die Bresche: Wissen, nur durch Bildung erschließbar, sei heute "die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land". Aufs Wesentliche müsse man sich konzentrieren und allen "ein breiteres Grundwissen" vermitteln. -- Wer wollte dafür nicht gerne DM 50 auf den Ladentisch blättern? |
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Lassen wir also den Scherz beiseite (schließlich trägt dies Eichborn Buch auch nicht mehr die einst klassische Fliege im Einband), und seien wir uns sicher: Dietrich Schwanitz' Buch, sozusagen ein Brevier zur Rettung der aufgescheuchten Bildungsnation, ist durchaus ernst gemeint. Um Kritik wird daher gebeten: |
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Der Ruf nach sicherem Halt wird in Zeiten des Umbruchs stets unweigerlich erhoben, und er ist zuallermeist ein konservativer. Was schließlich liegt näher, als angesichts allgemeiner Ratlosigkeit -- und wer sähe gegenwärtig noch ernsthaft normative Orientierungskonzepte am Horizont? -- die kulturellen Glaubensinhalte herbeizuzitieren, an denen man sich 'damals', so muss man annehmen, noch so gut orientieren konnte? Dietrich Schwanitz tut dies zwar nicht explizit, doch ist es schon erstaunlich, mit welcher Konsequenz im ersten, knapp 400-seitigen und der Einfachheit halber mit "Wissen" überschriebenen Teil seines Bildungsbuches so ziemlich alles ausgespart wird, was die wachsende Komplexität ausmacht, die unsere gegenwärtige Lebenswirklichkeit kennzeichnet. Weder die sozialen und ökonomischen Umwälzungen einer sich unentwegt hybridisierenden und globalisierenden interkulturellen Gesellschaft, in der zuallererst in Frage steht, was mit "unserer Kultur", geschweige denn ihren "Kernbeständen" eigentlich gemeint ist, noch die einschneidenden Veränderungen, die die exponentielle Entwicklung der neuen Medien im Bereich der Information und somit des Wissens darstellt, spielen hier eine Rolle. Um all dies braucht man augenscheinlich nicht wirklich zu wissen. Die Rettung naht vielmehr durch ein Ausblenden solcher "Verwirrungsherde" und eine Rückbesinnung auf den traditionellen Bildungskanon. Denn nichts anderes präsentiert Schwanitz letztlich, dessen veränderter Blickwinkel auf denselben lediglich darin besteht, die politische Geschichte Europas als guter Anglist aus einer anglophilen statt der klassisch deutschen Perspektive zu schildern. So wird dann schnell klar, was es mit der "Neuorientierung hinsichtlich der Kernbestände unserer Kultur" auf sich hat: Die Erkenntnis, daß man sich eigentlich gar nicht neu zu orientieren braucht, da es doch genügt, mit geschultem Blick den Wert des Althergebrachten wieder zu betonen, um so gegen alle postmodernen Fährnisse gewappnet zu sein. Die Robinson-Utopie, die Schwanitz per Zitat seinem Buch voranstellt, bestimmt hier gleich zu Beginn den Ton: Die gegenwärtigen Umwälzungen werden nicht als Zeichen der Veränderung, sondern als Schiffbruch verstanden. Dieser jedoch hat, wie bekannt, sein Gutes, befreit er doch auf einen Schlag von allem lästigen Ballast und produziert auf der imaginären einsamen Insel den erleichternden Anblick einer tabula rasa. So kann dann getrost auf alte Gewißheiten zurückgegriffen und mit festem Blick auf die vier Wände der Festung Europa wieder von vorne angefangen werden. |
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Wenn daher Schwanitz in seiner Vorrede an den Leser davon spricht, Magie und Reichtum von Literatur und Kultur denjenigen wieder zugänglich zu machen, die sich "allem musealen Bildungsmüll verweigern" und von Bildung einen Bezug zur "eigenen Lebendigkeit" fordern, und dabei mit Recht feststellt "Da wir uns weiterentwickelt haben, müssen wir mit unserem kulturellen Wissen von einem neuen Standpunkt aus wieder ins Gespräch kommen", so bedeutet das leider in der konkreten Umsetzung nichts anderes, als daß der bürgerliche Bildungskanon in einem gewollt schnoddrigen Ton neu aufbereitet wird, welcher eher peinliche Blüten treibt, und von dessen "Lebenswirklichkeit" man nicht so recht weiß, wen sie denn wohl eigentlich ansprechen soll. Eine tatsächlich auch formal umgesetzte, dynamische und für Veränderung offene Konzeption von Bildung, die das geforderte Gespräch zwischen traditionellen Bildungsinhalten und lebendiger Gegenwart auch wirklich realisieren würde, sucht man in Schwanitz' Buch vergeblich. Dies ist umso irritierender, als man von dem systemtheoretisch bewanderten Uni-Aussteiger Schwanitz etwas ganz anderes erwartet hätte. Lediglich auf den letzten vier Seiten (!) des Textes, in dem mit "Das reflexive Wissen" überschriebenen Kapitel, werden die selbstreflexiven und an der Konstruiertheit der Formen unserer kulturellen Kommunikation orientierten Einsichten im Ansatz entwickelt, mit denen sich ein den gegenwärtigen Herausforderungen angemessenes Bildungskonzept vielleicht tatsächlich beschreiben ließe. -- Erstaunlicherweise sind diese Prinzipien jedoch im teils anbiedernden, teils herablassenden Ton der übrigen Darstellung bereits im voraus über Bord geworfen. |
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Bildung, daß weiß natürlich auch Schwanitz, kann kein inhaltliches, sondern immer nur ein formales Konzept sein. Es besteht darin, über die eigenen Wissensinhalte sowie deren Organisation, Motivation und Implikationen kritisch reflektieren zu können. Indem Schwanitz jedoch über die ersten 400 Seiten hinweg lediglich ein Panorama von historischen, politischen und kulturellen Daten aus seiner spezifisch eigenen Perspektive entfaltet, ohne die Entscheidungskriterien darzulegen, nach denen diese "große Erzählung" entwickelt und Ungesagtes ausgespart wurde, gibt er den Lesern wenig Gelegenheit, aus diesem 'Wissen' tatsächlich so etwas wie Bildung zu entwickeln. Da Schwanitz seine eigene Position nicht als solche kennzeichnet und ihre Motivationen nicht offenlegt, fehlt seiner Darstellung gerade das Moment der Selbstreflexion, ohne das sich letztlich überhaupt kein vernünftiger Begriff von Bildung entwickeln oder vermitteln läßt. |
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So wäre Schwanitz' implizit bis explizit vertretene Position, daß postmodernes Denken letztlich nur zu unproduktiver Verstörung führen kann, während die "großen Erzählungen" für den Zusammenhalt einer Kultur unverzichtbar sind, eben nur dann ein Beitrag zur Bildung der LeserInnen, wenn ihnen Gelegenheit gegeben würde, diese Position auch kritisch in Frage zu stellen. Dazu gehörte vor allem auch eine faire Darstellung der Gegenpositionen. Schwanitz unternimmt jedoch eine völlig unhinterfragte Präsentation der für nötig erachteten großen Erzählung und verzichtet auf jeden Hinweis ihrer spezifischen Konstruiertheit. So zeigt sich Bildung dann schließlich in Form einer Indoktrination mit Schwanitz' persönlichen politischen Überzeugungen, sei dies der Vorbildcharakter der englischen Verfassung und Geschichte, die Brandmarkung der als faschistoid erachteten Politik der Grünen oder die Trivialisierung des Feminismus, des Postkolonialismus und anderer akademischer Diskurse. |
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Konsequenterweise gibt es so in Schwanitz' Buch auch keine wirklich ernsthafte Diskussion des zugrundegelegten Bildungsbegriffes, die doch eigentlich an den Anfang seines Unterfanges gehört hätte. -- Falls man nicht von vorneherein beschließt, das 'Wissen' zu überspringen und gleich zum womöglich praktischeren 'Können' überzugehen, muß man sich tapfer durch 394 Seiten kämpfen, ehe Schwanitz in dem Kapitel "Einleitung über die Regeln, nach denen man unter Gebildeten kommuniziert; ein Kapitel, das man auf keinen Fall überspringen sollte" zum ersten Mal Anstalten macht, Grundsätzliches zu besprechen. Hier darf man dann jedoch schließlich erfahren, daß 'Bildung' letztlich nichts anderes bedeutet, als die Fähigkeit, auf einer akademischen Cocktailparty gut aussehen zu können. Schwanitz deckt hier dann dankbarerweise die Spielregeln des gebildeten Smalltalks auf und läßt es auch an praktischen Tips nicht fehlen. Kennt man zum Beispiel, so lernt man hier, zumindest ein Werk der 'Weltliteratur' halbwegs genau, kann man in jeder literarischen Diskussion ganz gleich welchen Themas mit einem Bezug auf dieses Buch seinen Ball im Spiel halten und den Erwartungen entsprechen, die die gebildete Kommunikation an ihre Teilnehmer stellt. -- Geplagte Literaturstudenten dürften hier erleichtert aufatmen. |
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Wenn eine solche Beobachtung der Praxis der 'gebildeten' Kreise als satirischer Initiationsritus auch durchaus ihren Wert haben mag, so bleibt einem im Kontext eines Lexikons zum Thema Bildung, in dem dies scheinbar die ultima ratio einer Untersuchung des zu vermittelnden Begriffes darstellt, das Lachen eher im Halse stecken. Die bildungshungrigen Leser jedenfalls zahlen für diesen schlechten Scherz einen stolzen Preis. |
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(Alexander Schlutz) |
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