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no. 22: zeugenschaft -> bowling for columbine
 

Härter als die Wirklichkeit?

Inszenierungsstrategien in Bowling for Columbine

von Manfred Rüsel

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* druckbares
* diskussion

Was bedeutet es für unser Informationszeitalter, wenn sogar der Dokumentarfilm gar nicht mehr existieren kann, weil wir inzwischen in fiktiven Zeiten leben? Welcher dokumentarische Anspruch im Kontext von Zeugenschaft läßt sich jenseits allgegenwärtiger Bildmanipulationen und Computeranimationen in glaubwürdiger Form noch filmisch umsetzen? Manfred Rüsel erkundet sehr genau die aktuellen Grenzen der filmischen Darstellbarkeit von Realität am Beispiel seiner kritischen Analyse des mit dem Oskar preisgekrönten Dokumentarfilms Bowling for Columbine von Michael Moore. Er öffnet damit den professionellen Werkzeugkasten der Filmanalyse auch für den methodisch interessierten Heimwerker. Diese mustergültige Analyse des Dokumentarfilms wird damit zu einem Lehrbeispiel, das sich auch in der Anwendung auf andere Filme zur Nachahmung empfiehlt. Aber hier ist für den interessierten Leser nicht nur der versierte methodische Kniff des Filmanalyseprofis der Mehrwert, sondern das gewählte Beispiel führt auch mitten hinein in eine ebenso polemische wie philosophische Debatte über den Unterschied zwischen Fiktion und Realität ('non-fiction').

 

 

Vorwort

Kein Dokumentarfilmer stand jemals so im Rampenlicht wie der Regisseur Michael Moore, der spätestens mit seinem Oscar-Gewinn 2003 und der anschließenden vehement geführten Anklage gegen die Bush-Administration weltweite Berühmtheit erlangte. Kein Dokumentarfilm lockte so viele Zuschauer in die Kinos wie Bowling for Columbine (2002) und zwei Jahre später Fahrenheit 9/11. Kein Regisseur taugt so zum systemkritischen Bestsellerautor wie Michael Moore (z.B. Stupid White Men, 2001), und natürlich meldete er sich zur Hurrikan-Katastrophe in den USA mit einem offenen Brief, und natürlich plant er bereits den Film dazu.

In seiner Oscar-Rede verteidigte Moore den Dokumentarfilm als wahrhaftiges Gegenkonzept zu einem gesellschaftspolitischen und medialen System, in dem sich -- ganz im Geiste Baudrillards -- die Realität auflöse und durch die Fiktion ersetzt werde. Spiegeln Moores Dokumentarfilme die Wirklichkeit oder nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit oder vielleicht nur den subjektiven Blick des Regisseurs auf die Wirklichkeit? Oder manipulieren sie gar die Wirklichkeit? Und was ist überhaupt ein Dokumentarfilm? Die folgende Filmanalyse zu Bowling for Columbine will das audiovisuelle Konzept Moores verdeutlichen.

 

I. Inhalt/Kritik

"Was ist so anders an uns Amerikanern? Sind wir von Natur aus so mordlustig?" Dieser Frage eines Vaters, dessen Sohn bei dem Blutbad an der Columbine-High-School in Littleton am 20. April 1999 ums Leben kam, geht Michael Moore in seiner Dokumentation Bowling for Columbine nach. Und in der Tat scheinen die Fakten eine klare Sprache zu sprechen -- in keinem anderen "vergleichbar zivilisierten" Land der Welt sterben so viele Menschen eines gewaltsamen Waffentodes (Deutschland: 381, Frankreich: 255, Kanada: 165, Großbritannien: 68, USA: 11.127).

Der Waffenbesitz ist den Amerikanern 'heilig' -- zumindest, wenn man der größten Waffenlobby, der National Riffle Association, Glauben schenkt. Als deren Präsident fungierte 2001, dem Zeitpunkt der Dreharbeiten, der alternde Hollywood-Star Charlton Heston, und er hat nichts anderes zu tun, als nach jedem schrecklichen Attentat und der darauf folgenden Diskussion um eine schärfere Waffengesetzgebung mit dem gleichen Automatismus den Waffenbesitz als Garant für die amerikanische Freiheit zu überhöhen.

Wie kommt es aber dazu, daß von der Waffe so häufig Gebrauch gemacht wird -- schließlich hat das Nachbarland Kanada eine ähnlich hohen Waffenbesitz? "Da draußen laufen Spinner rum!" führt James Nichols, der Bruder eines Oklahoma-Attentäters, als Grund für die Knarre unter seinem Kopfkissen an. Dass Unmengen von hochexplosivem Material in seiner Hütte lagern, sei doch völlig normal -- so der ziemlich durchgeknallt wirkende Nichols. Und ein Bürger über Schüler mit etwas schrillerem Outfit: "Zeitbomben, die jederzeit losgehen können."

Self-fullfilling-prophecy? Ein deutliches Ja von Michael Moore. Waffen würden so häufig eingesetzt, "weil wir eine Atmosphäre geschaffen haben, in der jeder Angst hat, von einem anderen angegriffen oder verletzt zu werden". Und die Verursacher? "Die Konservativen und die Rechten sind dabei, die Menschen in Angst zu versetzen. Denn es gibt keine bessere Methode, die rechte Agenda interessant zu machen, als eine Atmosphäre der Angst zu kreieren -- die Angst vor dem Fremden, vor dem Anderen, dem Angriff von Innen" -- so Moore in einem Spiegel-Interview anlässlich des Deutschlandstarts seines Films im November 2002. Ihr willfähriges Instrument seien die Massenmedien. Erst sie lösten durch die überproportional häufigen Berichterstattungen über wirkliche oder vermeintliche Gefahren die kollektive Massenhysterie aus: schwarze Gewalttäter, Killer-Bienen, Rasierklingen in Kindernahrung, tödliche Rolltreppen -- nichts sei vor den Action-News sicher. Außer Ursachenforschung. Denn "Wut, Haß und Gewalt verkaufen sich gut", konstatiert der sich selbst als liberal bezeichnende Produzent einer erfolgreichen Reality-Serie über Streifenpolizisten (Cops).

Michael Moore beherrscht die emotionalisierende und überrumpelnde Klaviatur des Films perfekt. Sachliche Distanz zum Gegenstand ist nicht sein Ding und leise Ironie schon gar nicht. Verfechter des kühl-sachlichen Dokumentarfilms werden keine Freude haben an dem subversiven Bowling for Columbine. Moore manipuliert ohne Ende. Da sehen wir einen Ausschnitt aus dem ersten Western Der große Eisenbahnraub (USA 1903), dort Bilder der Michigan-Miliz bei Schießübungen, dann Kindheitsaufnahmen vom Regisseur, dann eine Dokumentation über Killer-Bienen aus Afrika... Michael Moore haut uns 100 Jahre Filmgeschichte genauso um die Ohren, wie er in drei Minuten die Kolonialisierung Amerikas von den Pilgervätern bis heute in einem Cartoon der South Park Macher Trey Parker und Matt Stone zusammenfaßt. Für jede Aussage gibt es das passende Bild. Und wenn es nicht paßt, wird es eben passend gemacht. Wie ist es um den Zustand einer Nation bestellt, in der sich sechsjährige erschießen? Antwort: Das Bild einer zerschlissenen, kraftlos am Mast hängende US-Flagge.

Nach zwei Stunden Film, einer Unmenge an Informationen, rasanten Montagesequenzen und tausenden Bildeindrücken verlassen wir das Kino -- kopfschüttelnd: "Unglaublich, diese Amis..."

Bowling for Columbine gehört sicherlich zu den intelligentesten, aber eben auch zu den subersivsten Filmereignissen der letzten Jahre.

 

II. Bowling for Columbine -- Ein Dokumentarfilm?

"Dokumentarfilm: Filmform, die eine möglichst wirklichkeitsnahe Darstellung anstrebt. [...] Anspruch ist es, einen realen Sachverhalt in seinen wesentlichen Aspekten zu enthalten. Dabei kann es um eine authentische Wiedergabe von Lebenswelt ebenso gehen wie eine Vermittlung von Erfahrungen oder Lebengefühlen." (Rainer Rother, Sachlexikon Film)
"Viele bedeutende Dokumetarfilme von 1930 bis 1960 waren ganz oder teilweise inszeniert." (Wilhelm Roth, Der Dokumentarfilm seit 1960)
"Gibt es den Dokumentarfilm überhaupt?" (Klaus Kreimeier, Dokumentarfilm 1892-1992)
"We like non-fiction because we live in fictitious times." (Michael Moore bei seiner Oscar-Rede)

Die Filmgeschichte beginnt mit einem Dokumentarfilm -- oder doch nicht. Die Gebrüder Auguste und Louis Lumière zeigen in einem 1895 gedrehten knapp einminütigen Film Arbeiterinnen und Arbeiter beim Verlassen einer Fabrik. Doch was als authentisches Abbild von Realität erscheint, ist in Wirklichkeit genau inszeniert. Denn in der Minute Drehzeit, die für die knapp 20 Meter lange Filmrolle zur Verfügung stand -- längere Filmstreifen erlaubte das Kameragehäuse noch nicht und das Mittel der Montage sollte erst acht Jahre später entdeckt werden -- passiert Einiges: Ein Fabriktor öffnet sich, gut gekleidete Frauen und Männer strömen lachend heraus, gehen rechts und links an der Kamera vorbei, ein Hund bringt beinahe einen Fahrradfahrer zu Fall, das Tor schließt sich. Der Film ist aus. Heute wissen wir, daß die Gebrüder Lumière lange geprobt haben, bis die Szene im Kasten war. Die Fabrikarbeiter waren genau instruiert, kleideten sich für die Szene in ihrem besten Sonntagsstaat. Der dramaturgische Höhepunkt mit dem Hund und dem Fahrradfahrer -- in einer anderen Version des Films taucht eine Kutsche auf -- war ebenso kalkuliert wie die Choreographie der Herauseilenden. Den Rahmen für die kleine Erzählung bildet das sich öffnende und wieder schließende Fabriktor.

Was also unterscheidet eine filmische Dokumentation von einer Spielfilmfiktion? Treffen Begriffe wie 'Sachlichkeit', 'Objektivität' und 'Authentizität', die gemeinhin mit Dokumentationen verbunden werden, auf Bowling for Columbine zu? Oder passen auf Michael Moores oscardekoriertem Film in der Sparte Dokumentation nicht auch Begriffe wie 'Inszenierung', 'Manipulation' und 'Indoktrination' -- Begriffe, die eher dem Spielfilm zugeordnet werden?

Angesichts der Vielfalt, die dokumentarische Filmstil in seiner über hundertjährigen Geschichte ausgeprägt hat, fällt eine trennscharfe Definition dessen, was den Dokumentarfilm ausmacht, schwer.

Einige dokumentarische Stilrichtungen sind beispielsweise:

  • lyrisch-dramatischer Stil: Nanuk, der Eskimo (USA 1921, Robert Flaherty), Mikrokosmos (F 1996, Claude Nuridsany u. Marie Pérennou)
  • didaktisch-aufklärerischer Stil: z.B. die Naturkokumentationen von Bernhard Grzimek oder Horst Stern
  • avantgardistisch-experimenteller Stil: Berlin, Symphonie einer Großstadt (D 1931, Walter Ruttmann)
  • propagandistischer Stil: Der ewige Jude (D 1940, Fritz Hippler)
  • provokant-polemischer Stil: die 68er-Agitpropdokumentationen

Es gibt natürlich auch immer wieder Mischformen dieser Stilrichtungen. Insbesondere das Fernsehen hat in den letzten Jahren neue, 'fernsehtaugliche' Formate entwickelt -- seien es die aus Spielhandlung und Original-Aufnahmen bestehenden Doku-Dramen von Heinrich Breloer (Die Manns -- ein Jahrhundertroman, 2001) und Horst Königstein (Speer und Er, 2005) oder die Mischung aus klassisch didaktisch-aufklärerischem Stil mit Strategien des Unterhaltungskinos (Individualisierung, Indentifizierung, Emotionalisierung) der ZDF-History-Dokumentationen.

 

III. Sequenzliste

Die Sequenzliste stellt ein gutes Hilfsmittel für den methodisch-didaktischen Einsatz eines Films dar, da sie das Sprechen über den Film und das Auffinden bestimmter Szenen erleichtert. Üblicherweise dienen Orts- und/oder Zeitwechsel (Szenen) als Kriterium, da Bowling for Columbine jedoch durch seine besondere Struktur eine extrem hohe Anzahl an kurzen Szenen aufweist, wurden die Sequenzen unter logisch-inhaltlichen Aspekten zusammengefaßt.

Lfd.
Nr.
Kurz-InhaltZeit
(Min.)
1Doku-Material: Die National Riffle Association kündigt einen "interessanten Film" an
-- Schwarzblende --
2Montagesequenz: Der 20. April 1999 -- "ein typischer Tag in den USA"
3North Country Bank/Michigan: Michael Moore eröffnet ein Konto und erhält ein Gewehr als Geschenk2
4Titelsequenz: s/w-Dokumaterial vom Bowling (Musik: Teenage Fanclub -- Take the Skinnhead's Bowling)3
5Michigan: Waffen, Waffen, Waffen4
6Stand-Up-Comedian7
7Trainingslager der Michigan-Miliz (Musik: Billy Murray -- I Want To Go Back To Michigan)8
8Interview mit James Nichols, Bruder des Oklahomas-Attentäters Terry Nichols11
9Interview mit Brent und DJ, Nachbarn des Columbine-Attentäters Eric Harris14
10Interview mit James Nichols, Bruder des Oklahomas-Attentäters Terry Nichols17
11Montagesequenz: Waffennarren und Morde (Musik: Beatles -- Happiness is a Warm Gun)19
-- Schwarzblende --
12Littleton/Colorado, Interview mit einem Makler, mit Evan McCollum, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei Lookheed Martin, dem "größten Waffenhersteller der Welt"20
13Montagesequenz: USA-Weltpolitik (Musik: Louis Armstrong -- What a Wonderful World)25
-- Schwarzblende --
14Littleton und Umgebung: Air-Force-Akademie, Plutonium-Fabrik, Norad, Raketentransporte
15Das Columbine-Massaker (Originalmusik von Jeff Gibbs, trauriger Duktus)28
-- Schwarzblende --
1610 Tage später: Charlton Heston vor der NRA, Trauerreden der Eltern 34
17Interview mit Matt Stone, Cartoonist der Serie South Park37
18Montagesequenz: Die 'Null-Toleranz-Politik'39
19Interview mit Marilyn Manson43
20Interview mit zwei betroffenen Schülerinnen46
21Montagesequenz: Gewaltursachen/Gewaltstatistik (Musik: Beethoven -- "Freude, schöner Götterfunken", verfremdet)47
22Interview mit dem Vater eines Columbine-Opfers: "Was ist so anders an uns Amerikanern? Sind wir von Natur aus so mordlustig?"50
23Cartoon: Die Geschichte der USA50
24Montagesequenz: Angst-Paranoia54
25Interview mit Prof. Barry Glassner, Autor von The Culture of Fear und Arthur Busch, Staatsanwalt in Flint / Feindbild schwarzer Mann (Musik: aus Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi)57
26Die Medien: Action-News63
27Interview mit Dick Herlan, dem Produzenten von Cops -- einer erfolgreichen Reality-Serie über die Polizei -- und World's Wildest Police Video65
28Das Gegenmodell Kanada69
-- Schwarzblende --
29Buell-Grundschule, Flint/Michigan: Mord an der 6-jährigen Kayla durch einen 6-jährigen Mitschüler (Originalmusik von Jeff Gibbs: Lost Children)79
30Interview mit Staatsanwalt Arthur Busch und mit Robert Pickell, Sheriff in Flint (Musik: Lost Children);85
31Montagesequenz: Hysterie nach dem 11.09.2001 (Musik: The Offspring -- Americana)93
32Die K-Mart-Aktion96
33Besuch bei Charlton Heston in Hollywood103
34Bowling in Columbine: Mord an drei Mitarbeitern der Bowling-Bahn. (Musik: David Reid, Adam Morrison: Won't You Be My Neighbour?)112
35Abspann zu What a Wonderful World, interpretiert von Joey Ramone114

 

IV. Filmsprache

 

a. Expositionsanalyse

1. Sequenz: Bowling for Columbine beginnt mit einem Ausschnitt aus einem alten Schwarzweiß-Imagefilm der National Riffle Association. Ein uniformierter Vertreter dieser Waffenlobby ist in einer Halbnah-Einstellung zusehen. Er spricht in die Kamera (= zum Publikum): "Die National Riffle Association hat einen Film produziert, den Sie sehr interessant finden dürften. Hier ist er."

Schwarzblende.

2. Sequenz: Es folgt eine Montagesequenz: Die Siegessäule in Washington bei Sonnenaufgang -- Flug über eine idyllische Kleinstadt -- Weizenfelder -- ein Bauer bei der Arbeit -- ein Milchmann bei der Arbeit -- ein Mann -- eine Lehrerin begrüßt ihre Schüler -- Panoramaansicht von Columbine -- eine rote Bowlingkugel verfehlt ihr Ziel -- eine aufreizende blondhaarige Frau in knappem Bikini mit einem halbautomatischen Gewehr (Filmausschnitt NRA) -- der Kopf der Freiheitsstatue (Kameraflug in Zeitlupe).

Dazu folgender Text, gesprochen von Michael Moore: "Der Morgen des 20. April 1999 war ein Morgen wie jeder andere in Amerika. Der Bauer drehte seine Runden. Der Milchmann lieferte die Milch. Der Präsident griff wieder ein Land mit unaussprechlichem Namen an. In Fargo/North Dakota ging Kerry McWilliams spazieren. In Michigan begrüßte Mrs. Hughes ihre Schüler zum Unterricht. In einer Kleinstadt in Colorado gingen zwei Jungs um sechs Uhr morgens Bowlen. Ja, es war ein gewöhnlicher Tag in den Vereinigten Staaten von Amerika."

Harter Schnitt.

3. Sequenz: Die North-Country-Bank-Sequenz: Michael Moore eröffnet ein Konto und erhält als Geschenk ein Gewehr. Die Kamera beobachtet ihn beim Betreten der Bank, beim Ausfüllen der entsprechenden Formulare, bei der Entgegennahme des Gewehrs.

Die dreiminütigen Exposition nimmt die formale Ästhetik des gesamten Films vorweg: durch die Kompilation von unterschiedlichem, bereits vorhandenen Bild- und Tonmaterial mit neu gedrehten Material und einer von Moore gesprochenen Off-Erzählstimme wird ein Grundton geschaffen, der in erster Linie ironisch-satirisch ist. Nur an wenigen Stellen des Films wird dieser Grundton aufgebrochen (s. weiter unten).

Der Vertreter der NRA, der einen "interessanten Film" ankündigt, wirkt unfreiwillig komisch. Das Schwarzweiß-Material signalisiert nicht nur Alter des Imagefilms, sondern das Rückwärtsgewandte dieser Waffenlobby. Ähnlich wie dieser Mann werden weitere im Film interviewte Vertreter der NRA aussehen -- in einer Uniform gekleidet und mit Bürstenhaarschnitt ausgestattet, gibt es, nicht nur für den nicht-amerikanischen Zuschauer wenig Unterscheidungsmerkmale zu einem US-Militär.

Die anschließende Montagesequenz ist eingerahmt von zwei starken Symbolen Amerikas: die Siegessäule und die Freiheitsstatue. Allerdings wird die Postkartenidylle der folgenden Bilder durch die unvermittelt eingeschnittenen Zerstörungen aus dem Kosovo-Krieg korrumpiert. Die nächsten Einstellungen verweisen bereits auf den inhaltlichen Zusammenhang von Columbine, Schule, Bowling und Waffenfetisch. Die letzte Montage von der lasziven Blondine mit Gewehr aus einem weiteren NRA-Werbefilm zum Frauengesicht der Freiheitsstatue wirkt bereits als ein zynischer Kommentar. Die Kamerabewegung um den Kopf der Freiheitsstatue herum ist in Zeitlupe aufgelöst (Gefahrenanzeiger) und der letzte Satz des Off-Kommentars lautet "Ja, es war ein gewöhnlicher Tag in den Vereinigten Staaten von Amerika." Der Zuschauer, der mit diesen konventionellen Erzählmuster vertraut ist, ahnt, daß eben kein gewöhnlicher Tag folgen wird.

Mit der dritten Sequenz bricht Moore die Chronologie auf und erzählt die für uns unglaublich anmutende Geschichte von der Waffenprämie für eine Kontoeröffnung. Erst 30 Minuten später dokumentiert er das Columbine-Massaker vom 20. April 1999.

 

b. Montage

Moores Film entstand am Schneidetisch. 200 Stunden selbst gedrehtes Material und eine Unzahl von Archivaufnahmen -- Fernsehnachrichten, Dokumentationen, Werbefilme, Spielfilme, Fernsehfilme, Telefonmitschnitte, Polizeifunk, Überwachungsvideos etc. -- verdichtete der Regisseur zu einem knapp zweistündigen Film, dessen zentrales Stilmittel die Montage ist. Moore ordnet das Material nicht chronologisch, sondern dramatisch an. Wenn er beispielsweise Interviews über den Oklahoma-Sprengstoffanschlag und den Littleton-Amoklauf miteinander verzahnt (Seq. 8-10), wird seine Motivation deutlich: Statt einer filmischen Einzelfallanalyse in chronologischer Reihenfolge stellt Moore größere Zusammenhänge nicht-linear, vermeintlich ungeordnet, dar. Seine Ursachenforschung beschränkt sich nicht nur auf die behandelten Gewalttaten (Oklahoma-Sprengstoffanschlag, Los-Angeles-Rassenunruhen, Littleton-Amoklauf, Ermordung einer sechsjährigen Schülerin in Flint, Mordanschlag im Columbine-Bowlingcenter), das dokumentarische Netzwerk spannt einen breiten, bisweilen assoziativ anmutenden Bogen von den Pilgergenerationen bis hin zum Terroranschlag auf die Zwillingstürme des World-Trade-Centers.

Michael Moore nutzt die Manipulationsmöglichkeiten der Montage für seine Theorie von der durch Konzerne, Politik und Medien geschürten kollektiven Massenparanoia, die zum ungehemmten Einsatz von Waffen als Konfliktlösungsmittel führe, der jährlich über 11.000 Menschen zum Opfer fielen.

Die suggestive Wirkung der Montage soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:

In Sequenz 25 interviewt Moore Barry Glassner, den Autor des gesellschaftskritischen Buches Kultur der Angst: "Man schaltet den Fernsehen ein und sieht gefährliche, schwarze Kerle, stimmt's? Ein namenloser Schwarzer, der angeblich irgendwas verbrochen hat. Wir sehen Schwarze, die Böses getan haben, oder hören Geschichten darüber. Unser Leben lang schon."

Während dieses Statements von Glassner sehen wir Nachrichten-Bilder von festgenommen Schwarzen. Dann montiert Moore Ausschnitte von Fernsehmoderatoren, die über diverse Festnahmen von Schwarzen berichten. Die Montage wird immer rasanter und zeigt uns schließlich ein Stakkato kurzer Bildfolgen (Montagesequenz) von schwarzen Kinder, schwarzen Passanten, schwarzen Geschäftsleuten. Zu jedem dieser Bilder, deren Verweildauer kürzer als eine Sekunde ist, hören wir das aus einer Moderation herausgefilterte Wort "suspect". Zusätzlich unterlegt wird das Bildergewitter durch das treibende Streicher-Presto des zweiten Satzes ("Stürmisches Sommerwetter") aus Vivaldis Die Vier Jahreszeiten. Die Sequenz endet mit einer TV-Dokumentation über die so genannten 'Killer-Bienen', die aus Afrika stammten und wesentlich aggressiver seien als die aus Europa eingeführten Bienen.

Fazit: Alle Schwarzen sind verdächtig, und aus Afrika kommt nur Böses.

Moore macht hier eigentlich nichts anderes als das, was er den Medien vorwirft: selektive Berichterstattung und Manipulation von Fakten. Denn der bizarre Bericht über die Killer-Bienen stammt aus einer Heim- und Gartensendung. Durch den unmittelbaren Anschluß an die Montagesequenz ("suspect") wird eine direkte biologische Verbindung von Killerbienen und schwarzen Amerikanern hergestellt. Ähnlich funktionierte die Montage in dem antisemitischen Propagandafilm Der ewige Jude (D 1940), in dem Ratten in der Kanalisation und Juden im Warschauer Ghetto durch die Montage miteinander verbunden werden.

Natürlich nutzt Moore dieses technisch-ästhetische Mittel satirisch. Dennoch wirkt so Moores Behauptung, die Amerikaner seien paranoid, eher als durch die bloße Beschränkung auf das Interview mit Glassner.

Ein letztes, kurzes Beispiel für die Manipulation von Originalmaterial:

In der Sequenz 15, die sich mit dem Columbine-Highschool-Massaker am 20. April 1999 beschäftigt, benutzt Michael Moore Originalaufnahmen der Schul-Überwachungskameras. In einer Einstellung sehen wir, wie ein Lehrer durch die Schulmensa flieht. Als geschossen wird, sucht er mit einem Hechtsprung Deckung unter einem Tisch. Dieser Sprung wird von Moore verlangsamt. Er zeigt ihn in Zeitlupe. Die Zeitlupe ist ein Filmmittel zur Erhöhung der Aufmerksamkeit. Als Element emotionaler Wirkungssteigerung wird sie häufig im Action-Kino, aber auch in der Werbung eingesetzt. Moores kurze Manipulation des Videobandes verfehlte ihre Wirkung nicht: Auf seiner Homepage www.bowling-for-columbine.com erkundigten sich besonders viele Fragesteller nach dem Gesundheitszustand eben jenes Lehrers -- und das obwohl vorher und nachher Dutzende von panischen Schülern bei der Flucht durch die Mensa gezeigt wurden!

 

c. Montagesequenzen

"Rasche Abfolgen von Bildern, um eine bestimmte Stimmung/Aussage zu treffen (beschreibende Montagesequenz) oder größere zeitliche und/oder räumliche Handlungen zu raffen (zusammenfassende Montagesequenz). Die Montagesequenzen werden in der Regel mit Musik oder einer Off-Stimme unterlegt (akustische Klammer)."

Beschreibende und zusammenfassende Montagesequenzen bilden das stilistische Zentrum des Films. Es gibt sieben eigenständige Montagesequenzen (Sequenz 2, 11, 13, 18, 21, 24, 31) und zahlreiche in einer Sequenz integrierte Montagesequenzen, die in erster Linie der satirische Kommentierung (Angst-Paranoia) dienen. Scheinbar Zusammenhangloses wird in einen Zusammenhang gebracht. So genannte 'disparate' Bilderfolgen erhalten erst durch den Kommentar oder die Musik ihre Aussage. Moore nutzt die Bildcollagen in der Regel kontrastierend. So werden von Moore aufgenommene Waffennarren mit Nachrichtenmaterial von Mordanschlägen kombiniert und dazu der Beatles-Song Happiness is a Warm Gun eingespielt (Seq. 11).

 

d. Musik

Die Musik in Bowling for Columbine wird illustrierend, polarisierend oder kontrapunktisch eingesetzt. Es gibt eigens für den Film komponierte Musik von Jeff Gibbs und Musiktitel 'aus der Konserve', die von Vivaldi bis zum 'Schock-Rocker' Marilyn Manson reichen.

Die Originalfilmmusik illustriert jene Sequenzen, die sich mit den Schulattentaten in Littleton und Flint beschäftigen. Sie haben einen traurigen Duktus (wie das Stück Lost Children in Sequenz 29) -- es sind auch jene Sequenzen, in denen der satirisch-ironische Grundton des Films unterbrochen wird.

Klassische und populäre Musiktitel werden vor allem als akustische Klammer der Montagesequenzen benutzt. Zu Archiv-Bildern grausamer Militäraktionen wird die Rolle der USA bei der Unterstützung antidemokratischer Regime aufgezeigt und mit der kontrapunktischen Musik des Armstrong-Klassikers What a Wonderful World unterlegt (Seq. 13). Die zentrale, ungefähr in der Mitte des Films platzierte Sequenz 21 ist ein Parforceritt über vermutete Gewaltursachen (Bowling und Gewalt, Videospiele und Gewalt, Scheidungsrate und Gewalt, Armut und Gewalt ...). Hier montiert Moore eine leicht verfremdete Variation des Schlußchors aus Beethovens 9. Symphonie ("Ode an die Freude -- Freude, schöner Götterfunken") hinzu.

In der Sequenzliste werden die verwendeten Musiktitel mit ihren Interpreten genannt.

 

e. Interviewstil / Rolle des Regisseurs

Michael Moore ist als Regisseur omnipräsent. Wir hören nicht nur seine Fragen, sondern sehen ihn häufig auch im Bild zusammen mit seinen Interviewpartnern. Das unterscheidet ihn deutlich von anderen Regisseuren, die ihr Gegenüber entweder nur aus dem Off befragen oder die Fragen herausschneiden (z.B. Guido Knopps ZDF-"History"-Interviewtechnik). Moore verteilt deutlich wahrnehmbar seine Sympathien bzw. Antipathien. So verhält er sich bei denjenigen Interviewpartnern, die seine These der kollektiven Angstparanoia bestätigen (z.B. der Cartoonist Matt Stone, Seq. 17, oder Staatsanwalt Busch, Seq. 25), wesentlich zurückgenommener als bei dejenigen, die seiner Meinung nach eine Mitverantwortung an den überproportional häufigen Gewalttaten in den USA tragen. Hier wandelt er sich von einem zunächst naiven zu einem hartnäckigen, bisweilen penetranten Fragesteller -- etwa in der Sequenz 33, wo er dem offensichtlich überforderten Charlton Heston mit einer Fotografie der getöteten sechsjährigen Schülerin nachstellt.

Moores Omnipräsenz liegt sicherlich auch in der direkten biografischen Betroffenheit begründet. Wie schon bei seinem ersten Erfolg Roger and Me (1989), in der er den Automobilkonzern General Motors und seine Standortpolitik in Flint/Michigan -- Moores Heimatstadt -- attackierte, macht er eigene Lebenserfahrungen zum Ausgangspunkt seiner Filme. Flint spielt gleichfalls in Bowling for Columbine eine wichtige Rolle. Einer der beiden Schüler, der im 2000 km entfernten Littleton das Massaker an der Columbine-High-School mit verübte, stammt aus Moores Nachbarschaft -- ebenso einer der beiden Oklahoma-Sprengstoffattentäter. Moores Grundschule in Flint wurde zum schrecklichen Schauplatz eines Mordes an einer sechsjährigen durch einen sechsjährigen. Sie hält damit den traurigen Rekord des jüngsten Gewaltopfers an einer Schule.

Und: Moores Cousin wurde ebenfalls erschossen.

Waffen -- der nächste biografische Schnittpunkt. In Sequenz 5 sehen wir Super-8-Filmausschnitte aus Moores Kindheit. Er erzählt uns von seinem frühen Kontakt mit Waffen aller Art, von seiner Mitgliedschaft in der National Riffle Association, von seinen prämierten Schießkünsten.

Der Regisseur sucht bewußt die Nähe zu seinen Interviewpartnern. Der dokumentarisch-distanzierte Blick ist ihm fremd. Aus einem Interview mit zwei seit dem Columbine-Massaker behinderten Opfern entsteht die Aktion gegen die Supermarkt-Kette K-Mart. Moore macht sich hier zum Anwalt der Opfer und setzt die Geschäftsleitung mit Hilfe der Medien so unter Druck, daß der Konzern sich nach einem Tag der 'Belagerung' als erste amerikanische Supermarktkette dazu entschließt, Munition aus ihren Regalen zu verbannen.

 

V. Michael Moores Rede anlässlich der Oscar-Verleihung am 24.03.2003

"On behalf of our producers Kathleen Glynn and Michael Donovan (from Canada), I would like to thank the Academy for this award. I have invited the other Documentary nominees on stage with me. They are here in solidarity because we like non-fiction. We like non-fiction because we live in fictitious times. We live in a time where fictitious election results give us a fictitious president. We are now fighting a war for fictitious reasons. Whether it's the fiction of duct tape or the fictitious 'Orange Alerts,' we are against this war, Mr. Bush. Shame on you, Mr. Bush, shame on you. And, whenever you've got the Pope and the Dixie Chicks against you, your time is up."

 

autoreninfo 
Manfred Rüsel (verheiratet, zwei Kinder) war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RWTH Aachen und Lehrer am Berufskolleg für Mediengestaltung in Köln. Er arbeitet seit 2002 als freiberuflicher Medienpädagoge insbesondere in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung, als Filmreferent für die Bundeszentrale für Politische Bildung, als Lehrbeauftragter der RWTH Aachen sowie als Autor. Betreibt nebenbei mit einem filmverrückten Kollegen die Firma "FilmLust" (Open-Air-Kinotourneen für das Bundesumweltministerium sowie ambulantes Stadtteilkino der außergewöhnlichen Art). Veröffentlichungen: Vom Umgang mit Film, Berlin: Volk & Wissen/Cornelsen 1998/2004 (zs. mit Werner Kamp). -- Wahrnehmung als Konstruktion. Das Referenzsystem von The Matrix in: Gößl/Fick (Hrsg.): Der Schein der Dinge. Einführung in die Ästhetik, Attempto 2002, (2002). -- Filmhefte zu Status Yo!, Kombat Sechzehn und Paradise Now. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2005. -- Lola rennt. Kopiervorlagen für den Unterricht, Berlin: Cornelsen 2006 (zs. mit Petra Anders).
Homepage: http://www.mruesel.de
E-Mail: mail@mruesel.de

 

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