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no. 22: zeugenschaft
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Zeugen und ZuschauerPeter Weiss' Die Ermittlung |
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von Robert Buch |
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Die Ermittlung, Peter Weiss' Dramatisierung des Auschwitz Prozesses, lotet die Grenzen unseres Verstehens angesichts des Holocaust aus. Dabei bezeugt das Geschehen auf der Bühne ebenso Primo Levis "Paradox des Zeugens," vom Unsagbaren dennoch Zeugnis abzulegen, wie die Kritik am juristischen Diskurs und dem Versuch, die zur Verhandlung stehenden Verbrechen gesetzlich in den Griff zu bekommen. Im Stück Peter Weiss' zeigt sich derart nicht ein historisch abgeschlossenes Geschehen, sondern eine Art unheilvoller Dauerzustand der Moderne. |
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Zu Anfang seines Buchs Was von Auschwitz bleibt wendet sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben, eher en passant, gegen den Topos der Unsagbarkeit, der im Zusammenhang mit dem Genozid an den europäischen Juden immer wieder bemüht wird. "Warum," fragt der Autor, der ausdrücklich auf der Singularität von Auschwitz besteht, "die Vernichtung mit dem Ansehen der Mystik schmücken?" Entgegen dem Eindruck, den dieser polemische Seitenhieb erweckt, gewinnt jedoch eine Figur just aufgrund ihrer Sprachlosigkeit und ihres Verstummens für die Analyse des Philosophen paradigmatischen Wert. Denn im Mittelpunkt des vielbeachteten Buchs steht die Figur des Zeugens, steht, genauer gesprochen, das 'Paradox des Zeugens.' Der von Primo Levi geprägte Ausdruck besagt, daß die Überlebenden, wie Levi selbst, eigentlich gar nicht Auskunft geben können über das ganze Ausmaß des Leidens und Schreckens der Konzentrationslager. Ihr Zeugnis ist immer unvollständig; die eigentlichen oder 'vollständigen' Zeugen wären Levi zufolge allein die Untergegangenen oder die im Lagerjargon sogenannten Muselmänner, diejenigen die den tiefsten Punkt des Abgrunds, wie Levi schreibt, berührt haben. Als 'Muselmännern' wurden jene KZ-Häftlunge bezeichnet, bei denen ein Zustand äußerster körperlicher Erschöpfung, völliger Apathie und Sprachlosigkeit eingetreten war. Nur wenige sind aus diesem Bereich zwischen Leben und Tod zurückgekehrt; wenige haben diesen Zustand der radikalen Enthumanisierung überlebt. |
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Man kann Agambens eher beiläufige Polemik gegen ältere Annäherungen an das Problem der Zeugenschaft (einen guten Überblick bietet der Sammelband von Ulrich Baer) einfach als eine Art Absetzungsversuch von seinen Vorläufern verstehen. Im Grunde scheint die Frage der 'Sagbarkeit' oder Darstellbarkeit jedoch durch die Einführung des Muselmanns lediglich auf eine andere Ebene verschoben. Denn der Muselmann personifiziert die Unfähigkeit zu sprechen. Von ihm zu berichten, heißt dementsprechend, Zeugnis abzulegen von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen. Die paradoxe Geste verbindet Unvereinbares: Zeugnis ablegen zu müssen und es nicht zu können -- zumindest niemals 'vollständig.' |
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Agambens Überlegungen im Anschluß an Primo Levi werfen viele Fragen auf. Zum Beispiel die nach dem zugrundeliegenden Maßstab oder dem Ideal, das sowohl bei Primo Levi als auch bei Agamben immer wieder durchklingt: was sollte ein vollständiges Zeugnis eigentlich sein? Was kann Vollständigkeit hier bedeuten? Wie kann es verwundern, daß ein Ereignis, welches alle unsere (negativen) Maßstäbe sprengt, niemals 'vollständig' eingeholt werden kann? Eine andere Frage betrifft den Status des Muselmanns und die aus seinem Beispiel gezogenen Schlußfolgerungen. Bei beiden Autoren wird der Muselmann zu einer gleichermaßen hyperbolischen wie emblematischen Figur. Während bei Primo Levi die emphatische Erinnerung als Ausdruck der Zerrissenheit eines Überlebenden und Zeugen verstanden werden kann, wird der Muselmann bei Agamben zum späten Erben des antiken homo sacer, dem der Philosoph bereits drei Studien (darunter das Buch über Auschwitz) gewidmet hat. Er entwickelt aus der Figur eine Anzahl weitreichender Konsequenzen, die sich jedoch bereits auf den ersten Seiten in den wiederum eher beiläufig skizzierten Voraussetzungen seiner Überlegungen andeuten. Agamben nimmt die Figur des Muselmann zum Anlaß, das Versagen herkömmlicher ethischer Begriffe wie Würde, Verantwortung und Schuld zu demonstrieren, die seiner Auffassung nach in unserem Verständnis auf fatale Weise mit juristischen und theologischen Kategorien vermengt sind. In der Erscheinung des Muselmanns kollabiert schließlich, neben der Differenz von Leben und Tod, die Unterscheidung, auf die die erwähnten ethischen Grundbegriffe bezogen sind: diejenige von Mensch und Nicht-Mensch. Aber so sehr das Menschliche und Nicht-Menschliche in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zu verschwinden drohen, so sehr beharrt Agamben darauf, daß es just in dieser Zone ist, in der sich das Menschliche abzeichnet. "Der Muselmann ist der Nicht-Mensch, der sich hartnäckig als Mensch zeigt." In der auf die Spitze getriebenen Enthumanisierung, da, wo das Menschliche restlos getilgt zu sein scheint, soll es, so Agamben, allererst in Erscheinung treten. Der "vollständige Zeuge des Menschen" ist derjenige, "dessen Menschlichkeit vollständig zerstört worden ist." Mensch ist der, "der den Menschen überleben kann", oder, wie es an späterer Stelle heißt: "Menschen sind Menschen, insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen." |
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Zu den Voraussetzungen der ausführlichen Demonstration der ethischen Aporien von Auschwitz, die eine Reihe von Wissensfeldern durchquert, gehört Agambens Überzeugung der Unzuständigkeit des Rechts in diesem Gebiet und der Unzulänglichkeit der bloßen Feststellung der Fakten. Kein rechtliches Verfahren kann das durch Auschwitz hinterlassene Problem erschöpfen. Ja, Agamben meint sogar, die verschiedenen Strafverfahren hätten eher zu einer Abwendung geführt und einer Haltung Vorschub geleistet, die das Problem für 'erledigt' hielte. Obwohl er auf der Unerläßlichkeit von Strafverfolgung und Verurteilung besteht, möchte er Platz machen für die Einsicht in die Art und Weise, wie Auschwitz unsere ethischen und juristischen Kategorien mit sich, wie er an einer Stelle nicht ohne Pathos schreibt, in den Abgrund reißt. Obgleich er nichtsdestotrotz auf der Notwendigkeit juristischer Verarbeitung beharrt, meint er, daß die Aufarbeitung "der historischen (materiellen, technischen, bürokratischen, juristischen...) Umstände" keine neuen Einsichten mehr erwarten lasse. Und dennoch konfrontiert uns der organisierte Massenmord mit einer "Wirklichkeit, die notwendig ihre faktischen Elemente übersteigt: das ist die Aporie von Auschwitz". Daher bleibt trotz genauester Faktenkenntnis und Rekonstruktion dieses Geschehen "eigenartig opak". |
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Viele der Motive und Beobachtungen, die Agamben in seinem Buch verknüpft, erinnern an einen früheren Versuch, die Grenzen unseres Verstehens angesichts von Auschwitz auszuloten: Peter Weiss' Die Ermittlung. Es besteht in mancherlei Hinsicht sogar eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Agambens so provozierenden wie anregenden Überlegungen zum Thema und Peter Weiss' dokumentarischem Experiment. Auch bei Weiss geht es zentral um das Problem der Zeugenschaft, die Grenzen der Justiz und die Grenzen der Darstellung. Zumindest auf den ersten Blick. Denn bei genauerem Hinsehen relativieren sich mit Blick auf die Ermittlung Agambens aporetische Bestimmungen; ja, Weiss' dramatische Reflexion durchkreuzt, was zu den oftmals apodiktisch festgelegten Voraussetzungen von Agambens philosophischer Meditation gehört. |
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Peter Weiss' Dramatisierung des Auschwitz-Prozesses liegt eine Vorentscheidung zugrunde, die er in einer vielzitierten Vorbemerkung zu seinem Stück darlegt: "Bei der Aufführung dieses Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre." Der zweite Teil dieser Erklärung läßt die Wahl der Gerichtsverhandlung in Sachen Mulka, des Frankfurter Auschwitz-Prozesses der Jahre 1963-65, als eine geschickte Art und Weise erscheinen, das Problem der Darstellung des Lagers zu vermeiden. Aber der erste Teil der Vorbemerkung erklärt bereits die Rekonstruktion der Gerichtsverhandlungen selbst zu einer Sache der Unmöglichkeit. Es mögen rein praktische Erwägungen gewesen sein, die den Autor zu dieser Einschränkung bewogen haben: Dauer und der Umfang des Prozesses machten eine Komprimierung des Materials einfach unumgänglich. Dementsprechend nennt der Autor das Ergebnis dieser Arbeit ein Konzentrat aus Fakten, das die Geschichten Einzelner weitgehend absorbiert habe. Er verteidigt damit vor allem seine Entscheidung für die Anonymität der Figuren, insbesondere der Zeugen, die in der Tat von zentraler Bedeutung für das Stück und dessen Annäherung an den NS-Genozid ist. |
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In einer Reihe von Deutungen ist die Wahl dieses Sujets, des Gerichtsverfahrens, das an die Stelle einer Rekonstruktion der Wirklichkeit des Lagers tritt, nicht bloß als darstellungstechnische Strategie verstanden worden. Verhandelt wird ihnen zufolge nicht nur Auschwitz (wenn auch vermittelt durch den Prozeß), sondern gleichzeitig diese Verhandlung selbst. Die Ermittlung mißt die Grenzen des juridischen Verfahrens aus; das Drama vollzieht mit anderen Worten eine Art Kritik an dem Versuch, die zur Verhandlung stehenden Verbrechen gesetzlich in den Griff zu bekommen. Nicht wenige Aspekte des Stücks legen eine solche Lesart in der Tat nahe. Ja, in vielerlei Hinsicht scheint der Gegenstand der Verhandlung diese unmöglich zu machen. Die Ermittlung setzt ein in medias res und endet ebenso abrupt. Es entsteht der Eindruck eines andauernden, nicht-enden wollenden Vorgangs. So wie viele der für die Anklage auftretenden Zeugen die Fortdauer des Lagers in ihren Erinnerungen und Vorstellungen betonen, so suggerieren das fehlende Ende und ein Anfang, der irgendwo vor dem Anfang des Stücks liegt, die Unabschließbarkeit der Verhandlung. Der Zuschauer bleibt mit dem Eindruck zurück, daß die Ermittlung nicht wirklich aufhört, sondern auch nach dem Ende der Aufführung weitergeht. Den Fragen und Antworten, dem hartnäckigen Nachfragen und Nachhaken der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, den zögernden und ausweichenden Antworten der Zeugen und Angeklagten, den immer wieder erfolgenden Aufforderungen zu weiterer Präzisierung und den mal müden, mal trotzigen Erwiderungen -- diesem kontinuierlichen Schlagabtausch zwischen Richter, Anklägern, Verteidigern, Zeugen und Angeklagten eignet etwas Serielles und Monotones an. Die Vernehmung mündet in keinem Urteil; die Aufnahme der Beweise scheint zu keinem Abschluß zu finden. Die Zeugen der Anklage, ehemalige Häftlinge, stocken in ihren Aussagen, zögern und fallen ins Schweigen. Zwar betonen sie an mehreren Stellen, alles noch in äußerster Deutlichkeit vor sich zu haben, die 'Bilder' immer noch zu sehen ("Ich möchte vergessen / aber ich sehe es immer wieder vor mir"), aber gleichzeitig erweisen sie sich als unfähig, darüber zu berichten ("Ich konnte nicht darüber sprechen") und verstummen unter dem Druck der Nachfragen der Verteidigung, die ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellt und sie der Selbstwidersprüche -- das Paradox des Zeugens! -- bezichtigt. "Verteidigung: Es war also doch möglich / dies zu überleben". Die Angeklagten dagegen erklären wortreich, nichts von all dem gesehen zu haben, ja eigentlich gar nicht da gewesen zu sein, wo sie nachweislich waren, sich an ihre immer sehr eng definierten Aufgaben gehalten und keinerlei Notiz von dem, was um sie herum vor sich ging, genommen zu haben. Nur an wenigen Stellen kommt es zu einer Erörterung ihrer Motive, werden sie aufgefordert, sich zu erklären. Noch seltener hält sich das Verfahren bei den Leidensäußerungen der Angeklagten auf. Wie eine der beschriebenen Folteranlagen, die sogenannte Redemaschine, lenken die bürokratischen Regeln und die Dynamik des Verfahrens immer wieder zu den Sachen, d.h. zu den verhandelten Vorgängen, den Fakten zurück. Im steten Wechsel der Rede -- Rede und Widerrede von Angeklagten und Anklägern ('so war es' / 'so war es nicht') -- scheint alles so schnell zu verschwinden, wie es aufgetaucht ist. |
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Die vermeintliche Monotonie der inszenierten Gerichtsrede, die als Kritik an der Unzulänglichkeit des Verfahrens gesehen worden ist, ist zwei Besonderheiten der Bearbeitung des Materials durch Weiss geschuldet: Zum einen der bereits erwähnten weitgehenden Anonymisierung der Figuren und des Geschehens und, zum zweiten, der daraus resultierenden Universalisierung von Auschwitz. |
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'Anonymisierung' steht für den weitgehenden Verzicht darauf, den Opfern (bzw. "Zeugen" der Anklage) Namen zu geben. Zum einen soll dies offensichtlich an die systematische Entwürdigung erinnern, der die KZ-Häftlinge in den Lagern unterzogen wurden. Zum anderen handelt es sich dabei um den Versuch, der Namenlosigkeit der unzähligen Opfer gerecht zu werden und die tatsächliche Anonymität der Ermordeten nicht durch exemplarische Individualgeschichten vergessen zu lassen, obwohl das Stück auf den Rückgriff auf einzelne Schicksale durchaus nicht verzichtet (so besonders im "Gesang vom Ende der Lili Tofler" und dem darauf folgenden "Gesang vom Unterscharführer Stark"). Die Anonymisierung hat aber einen dritten Beweggrund und eine Konsequenz, die dem Stück seinerzeit scharfe Kritik eingetragen hat. Sie führt nämlich dazu, daß undeutlich bleibt, daß ein Großteil der Verfolgten und Ermordeten jüdischer Herkunft war. Aus diesem Grunde findet auch die Rassenideologie der Nazis und damit das zentrale Motiv der Vernichtungsmaschinerie in der Ermittlung lediglich beiläufig Erwähnung. Durch die weitgehende Ausblendung der näheren äußeren Umstände des organisierten Massenmords wird dieser in einem geschichtslosen Nirgendwo angesiedelt und auf diese Weise zugleich universalisiert. Es geht dem Stück scheinbar nicht um diesen konkreten Genozid, sondern um dessen fortwährende Möglichkeit und Aktualität. Ähnlich wie bei Agamben wird dabei aus dem Ereignis, zu dem es unter spezifischen Umständen gekommen ist, eine Art unheilvoller Dauerzustand der Moderne. "Ich kam aus dem Lager heraus / aber das Lager besteht weiter", erklärt einer der Zeugen der Anklage. Kurz zuvor hatte ein anderer Zeuge die ständige Möglichkeit der Wiederholung und sogar Überbietung der Massenvernichtung beschworen: "Wir / die noch mit diesen Bildern leben / wissen / daß Millionen wieder so warten können / angesichts ihrer Zerstörung / und daß diese Zerstörung an Effektivität die alten Einrichtungen um das Vielfache übertrifft". Der Schritt von der Einzigartigkeit zur allumfassenden Kondition ist jedoch nicht wie bei Agamben Ergebnis sprach- und subjektphilosophischer, kulturanthropologischer und politiktheoretischer Spekulation, sondern in einer marxistisch orientierten ökonomischen Deutung begründet. So finden sich im Stück immer wieder Andeutungen, die nahelegen, die Konzentrationslager hätten vor allem den Profitinteressen der deutschen Industrie gedient. Es ist diese 'Kontinuitätsthese' zwischen Kapitalismus und Faschismus, die anläßlich der ersten Aufführungen des Stücks Empörung ausgelöst hat. Da der Faschismus als Konsequenz des Kapitalismus gesehen wird, ist auch die Identität der Subjekte, die lediglich einem Systemzwang unterworfen sind, sekundär. Ähnlich wie in Primo Levis 'Grauzone', die Agamben besonders fasziniert, verschwimmen alle Unterschiede zwischen Opfern und Tätern. "Viele von denen die dazu bestimmt wurden / Häftlinge darzustellen [!] / waren aufgewachsen unter den selben Begriffen / wie diejenigen / die in die Rolle der Täter gerieten" erklärt ein Zeuge. "Wir waren doch genau solche Nummern / wie die Häftlinge" verteidigt sich später einer der Angeklagten. |
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Ungeachtet der mitunter fragwürdigen Suggestivität solcher Passagen und der berechtigten Kritik daran läßt sich jedoch eine andere Tendenz ausmachen, die derjenigen der Anonymisierung und Universalisierung entgegenwirkt und sie relativiert. Dieser Tendenz des Stückes steht nämlich die einer äußersten Konkretion entgegen, deren Wirksamkeit, meines Erachtens, alle anderen Eindrücke und suggestiven Deutungen in den Schatten stellt. Diese Konkretion ist der Unvorstellbarkeit des Geschehenen, der Leere, die es hinterlassen hat, und der Bilderlosigkeit abgerungen. |
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Zur Zeit der Arbeit an dem Stück hatte Peter Weiss Auschwitz selbst besucht und dabei das Gefühl einer unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen seinem Wissen über den Ort und den konkreten Orten und Räumen des Lagers gehabt. In dem berühmten Text Meine Ortschaft (abgedruckt in dem Band Rapporte) beschreibt er, wie er den Ort seiner 'Bestimmung' mit dem Gefühl der Leere und der Empfindungslosigkeit durchwandert. Der Besucher ist in der Lage, Folteranlagen, Gaskammern und anderes zu identifizieren. Aber dieser Ort ist für ihn kein Ort der Erinnerung. Es ist kein Ort seiner Vergangenheit, und die Bilder und das Wissen, die er von Auschwitz hatte, sind angesichts der tatsächlichen Örtlichkeit wie ausgelöscht. "Viel darüber gelesen und viel darüber gehört. [...] Was sagt dies alles, was weiß ich davon? [...] Ich hatte es vor mir gesehen, als ich davon hörte und davon las. Jetzt sehe ich es nicht mehr." (Rapporte, 118) Auf diesen beunruhigenden Verlust des Vorstellungsvermögens antwortet eine sorgfältige Registrierung der Räumlichkeiten in ihrer Leere und Verlassenheit. Beinahe mechanisch zählt der Betrachter auf, was er sieht, als ginge es darum, die bloße Existenz der einzelnen Bauten und Anlagen des Konzentrationslagers zu beglaubigen. Die deiktische Benennung hat etwas Formelhaftes, Beschwörendes. So sehr er hervorhebt, die Abwesenheit nicht übersehen zu können, so sehr füllt sich diese Leere unmerklich durch die Benennung auch dessen, was nicht zu sehen ist. Der Besucher beharrt zwar auf dem Schwund der Sichtbarkeit, auf der Vergeblichkeit seiner Suche und seiner Erkenntnisversuche. "[D]ies ist die Tür, durch die sie gingen, in die Räume, die in grelles Licht getaucht waren und in denen es keine Duschen gab, sondern nur diese viereckigen Säulen aus Blech, dies sind die Grundmauern zwischen denen sie verendeten in der plötzlichen Dunkelheit, im Gas, das aus den Löchern strömte. Und diese Worte, diese Erkenntnisse sagen nichts, erklären nichts. Nur Steinhaufen bleiben, vom Gras überwuchert." (123) Aber auf der letzten Seite seines Berichts im Inneren der Baracken meint er, in einem eigenartigen Zwischenzustand, im Zwielicht des abnehmenden Tages, das Geschehen, die Anwesenheit der Ermordeten, zu ahnen, zu spüren. Obgleich er auch hier nichts sieht, glaubt er, etwas zu hören: "hier ist das Atmen, das Flüstern und Rascheln noch nicht ganz von der Stille verdeckt" (124). |
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Diesem Aussetzen der Imagination, dieser Unfähigkeit, sich angesichts der tatsächlichen Örtlichkeit, der verlassenen Anlagen des Lagers, das Geschehene vorzustellen, wird im Stück mit verdoppelter Anstrengung begegnet. Ja, entgegen dem bewußten Verzicht auf 'Bebilderung', auf Darstellung des Undarstellbaren, entgegen der darstellerischen Enthaltsamkeit, die einer Art Bilderverbot gleichkommt, gelingt der Ermittlung eine Vergegenwärtigung von beklemmender Intensität. Das hat just mit den gerichtlichen Verfahrens- und Darstellungstechniken zu tun: insbesondere dem rhetorischen Mittel des Vor-Augen-Stellens, das darauf abzielt, Zuhörer in Zuschauer zu verwandeln, und der gleichzeitigen Affektlosigkeit des juridischen Prozederes. Penible Nachfragen des Richters und der Staatsanwaltschaft drängen die Zeugen immer wieder zu weiterer Präzisierung, zu Konkretisierung: der Örtlichkeiten und ihrer Anlagen, der Folter- und Tötungsmethoden, der Idiosynkrasien und Launen ihrer Folterer. Die asketische Beschränkung auf die Form des gerichtlichen Prozesses und der damit einhergehende weitestgehende Verzicht auf ausdrücklich moralische Kommentare resultiert in einem Effekt äußerster Gegenwärtigkeit, ja schmerzhafter Anschaulichkeit. Sie ist weiterhin begründet in der Fülle der Informationen und ihrer Konkretheit. Die genaue räumliche und versuchsweise statistische Rekonstruktion -- immer wieder werden die Zahlen der Opfer genannt -- verstärkt diese Wirkung. An die Stelle dramatischer Handlung ist die gerichtliche Verhandlung getreten, die darauf zielt, Evidenz zu produzieren: Beweise aufzuführen gegen die hartnäckige Verleugnung des Geschehenen durch die Angeklagten. Gegen deren Vorsatz, daß es, wie es einmal heißt, "nicht einen einzigen Zeugen geben" dürfte, wird eine endlose Zahl von Zeugen aufgeboten. Um 'Evidenz' handelt es sich aber auch, insofern es darum geht, das nicht mehr Sichtbare (auf dessen Suche Peter Weiss bei seiner Ortsbesichtigung gescheitert war), das, was niemand hätte sehen sollen ("Was Sie hier sehen und hören / das haben Sie nicht gesehen und gehört") und das sich der Vorstellungskraft Entziehende (und was zu sehen unerträglich wäre) wieder zur Sichtbarkeit zu bringen durch eine quasi topographische Vermessung der 'Ortschaft'. |
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Hatte der Autor in Meine Ortschaft am Schluß alle Einfühlungsversuche als unzulänglich verworfen, da er die Qualen nicht am eigenen Leib durchgemacht habe ("fassen kann er nur, was ihm selbst wiederfährt"), so scheint er in der Ermittlung eine Anordnung gesucht zu haben, die die schmerzhafte Einübung in ein solches Nachempfinden vorbereitet; auch wenn dieser Schmerz immer eine Art von Phantomschmerz bleiben muß: ungreifbar und unstillbar; gleichermaßen ort- und ruhelos. |
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Die Verhandlung der Ermittlung führt, wie bereits bemerkt, zu keinerlei Urteilsfindung. Die Greuel, die aus dem anonymen Stimmengewirr aufsteigen, scheinen eine Serie ohne Anfang und Ende zu bilden; begleitet und beharrlich widersprochen von den Stimmen der Angeklagten, deren Gelächter im schärfsten, ja unerträglichsten Gegensatz zu den Aussagen der Zeugen der Anklage steht, deren Schilderungen, bei aller Evidenz, die sie gewinnen, wie die Zeugen selbst aufgrund der seriellen Dramaturgie wieder in der Reihe der gerichtlichen Vernehmung, aus der sie hervortreten, verschwinden. Einzuwenden ist, daß die Auslassung des Urteils nicht zu bedeuten hat, daß dessen Notwendigkeit in Frage gestellt wird. Die erwähnte Affektlosigkeit des Verfahrens und der Verzicht auf ausdrückliche moralische Reflexion des Geschehnen kann ebensowenig als Argument gegen die Unerläßlichkeit der juristischen Aufarbeitung gelten. Das unnachgiebige Leugnen jeglicher Beteiligung und Verantwortlichkeit durch die Angeklagten erübrigt jeden weiteren Kommentar. Obwohl die Aussagen der Angeklagten und der zur Lagerverwaltung gehörigen Zeugen den Großteil der Verhandlungen bestimmen und die der Zeugen der Anklage quantitativ überwiegen, erschöpft sich die Absicht der Arbeit nicht im Nachweis der Schuld. Peter Weiss' peinlich genaue Rekonstruktion der Vorgänge und ihrer konkreten räumlichen Umstände ist die Antwort auf die eigene Hilflosigkeit angesichts der leeren Räume der Vernichtung bei seinem Besuch von Auschwitz. Sie steht auch gegen Agambens Bemerkung, daß die Wirklichkeit des Lagers ihre faktischen Elemente übersteigt. Es ist just die Konzentration auf die Fakten, welche die Ermittlung eine schwer abzuweisende affektive Vergegenwärtigung zustande bringen läßt. Die Leidenschaftslosigkeit, mit der äußerstes Leiden hier zur Sprache gebracht wird, steigert die Wirksamkeit des Geschilderten. Auch wenn diese Wirkung den Reden der Zeugen entspringt, wird sie vor allem zu einer Sache der Zuschauer, so wie Die Ermittlung überhaupt (entgegen den Absichtserklärungen ihres Verfassers und entgegen den kritischen Reflexen ihrer Rezipienten) weniger Fragen der Darstellbarkeit und der Zeugenschaft aufwirft, als vielmehr einen Versuch darstellt, ein Theater der Scham und des Schmerzes zu kreieren. |
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Man mag dies, wie vor einiger Zeit aus anderem Anlaß Martin Walser, der von der "Überrepräsentation unserer Schande" sprach und damit einen Skandal auslöste, als Zumutung und Anmaßung zurückweisen oder Peter Weiss' vermeintlichem Masochismus zuschlagen -- so Karl Heinz Bohrer in einem Anfang der 70er Jahre geschriebenen und immer noch sehr lesenswerten Essay über den Autor. In ähnliche Richtung weist eine Beobachtung W.G. Sebalds, der Weiss' Präokuppation mit Schmerz und Gewalt als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Buße liest. Demzufolge wäre hier ein Bewußtsein am Werk, das die Gewalt, der es entronnen ist, in einem Fort an sich und damit zugleich an seinen Lesern und Zuschauern vollstreckt -- trotz oder gerade aufgrund der Einsicht in die Unangemessenheit aller seiner Anstrengungen. "Dein Schmerz ist eitel, du bist die Erschütterung, die Dich überkommt, nicht wert", sagt der Erzähler in Abschied von den Eltern angesichts der ersten Bilder aus den Konzentrationslagern. Ein Satz, der als Portalspruch über dem ganzen Werk Peter Weiss' stehen könnte. |
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autoreninfo
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Dr. Robert Buch, Assistant Professor am Department of Germanic Studies der University of Chicago, arbeitet z.Zt. an einer Studie über Bildlichkeit und Gewalt in Literatur und Kunst des späten 20. Jahrhunderts (Claude Simon, Peter Weiss, Georges Bataille, Francis Bacon).
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