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no. 22: zeugenschaft -> onkel rudi
 

Die Unschärfe des Bildes

Einige Anmerkungen zu Gerhard Richters Onkel Rudi

von Philipp Ostrowicz

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* literatur
* links
* druckbares

"The medium is the message" -- Marshall McLuhans bekanntes Diktum gewinnt in Gerhard Richters Malerei, die Unschärfe als Technik und nicht als deren scheinbares Versagen kultiviert, eine neue Dimension in Bezug auf die Bewahrung historischer Ereignisse im kollektiven Gedächtnis: Führt doch Richters ästhetische Unschärfe den 'Alterungsprozeß' des kollektiven Gedächtnisses vor Augen, in dem die Erinnerung an historische Ereignisse zunehmend 'unschärfer' wird, der aber gleichzeitig auch Raum für neue Zugänge und Verstehensmöglichkeiten bietet.

 
"das Photo [ist] zuverlässiger und glaubhafter als jedes Bild.
Es ist das einzige Bild, das absolut wahr berichtet, weil es 'objektiv'
sieht; ihm wird vorrangig geglaubt, auch wenn es technisch mangelhaft
und das Dargestellte kaum erkennbar ist."
G. Richter

 

Am Morgen des 10. Juni 1942 wurden die Einwohner des tschechoslowakischen Dorfes Lidice von Sondereinheiten der Gestapo, des SD, der Schutzpolizei unter dem Kommando der SS, zusammengetrieben und ermordet. Es starben 192 Männer und 71 Frauen. Das Dorf wurde vollständig zerstört und 198 verbliebene weibliche Einwohner wurden ins Konzentrationslager Ravensbrück, die 98 Kinder des Dorfes ins Jugendkonzentrationslager in Lodz deportiert. Dies war ein Vergeltungsakt der deutschen Besatzungsmacht für die Ermordung Reinhard Heydrichs, dem stellvertretenden Reichsprotektor (zu dieser Zeit Statthalter der deutschen Besatzungsmacht in ihrem 'Protektorat' Böhmen und Mähren), vom 27. Mai 1942. An diesem Tag sprengte die tschechoslowakische Untergrundorganisation Sokol seinen Wagen in die Luft; Heydrich starb am 4. Juni an seinen Verletzungen. Die offizielle Begründung der deutschen Besatzungstruppen für die Zerstörung Lidices und die Ermordung der Einwohner lautete, daß diese mit den Attentätern zusammengearbeitet hätten, was heute jedoch widerlegt ist. Im Anschluß an die Ermordung seiner Einwohner wurde das Dorf zunächst in Brand gesteckt und schließlich durch Maschinen vollständig dem Erdboden gleich gemacht, so daß nur eine kahle Ebene zurückblieb.

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Abb. 1

Die Ermordung der Menschen und die Zerstörung der Gebäude wurden von mehreren Photographen dokumentiert. Die Photographie in Abbildung 1 zeigt die Leichen in Lidice im Hinterhof des Bauerhofes der Familie Horak und vier Angehörige der deutschen Erschießungseinheit. Bei den Toten handelt es sich um die Männer des Dorfes, die im Keller des Bauernhofes eingeschlossen und anschließend im Hof erschossen wurden. Gleichzeitig mit den Photographen waren auch Kameraleute bei der Zerstörung des Ortes anwesend, die diese im Auftrag von Karl Hermann Frank, dem Staatssekretär beim Reichsprotektor, filmten. Von der Erschießung selbst gibt es weder Film- noch Photodokumente. Die Zerstörung des Ortes erregte weltweit Entsetzen und wurde bereits kurz nach Bekanntwerden literarisch/filmisch aufgegriffen. Heinrich Mann gab seinem Roman über die Besetzung der Tschechoslowakei durch Deutschland den Titel Lidice, Heinrich Hennings drehte 1942 den Film The Silent Village, Bertolt Brecht schrieb Teile des Drehbuchs sowie das Lidicelied für den Film Hangmen also die von Fritz Lang ("Auch Henker sterben", USA 1943). So schlug sich die Zerstörung des Ortes als direkte Reaktion derer, die davon erfuhren, in der zeitgenössischen Literatur und in Filmen nieder. Am 13. Juni 1942 berichtete der Daily Herald auf der ersten Seite unter der Schlagzeile "Deutsche richten ein Dorf hin" über die Geschehnisse in Lidice. Als direkte Folge bildete sich in Großbritannien unter Leitung des englischen Abgeordneten der Labour-Partei Barnett Stross die Bewegung "Lidice shall live". Diese fand vor allem bei Bergarbeitern viele Anhänger, da in Lidice vornehmlich Bergleute gelebt hatten. Lidice wurde zum weltweiten Symbol -- wie Barnett Stross es in Uwe Naumanns Lidice: ein böhmisches Dorf beschreibt -- für "Schrecken, Haß und Tod" durch die Nationalsozialisten.

Im Jahr 1967 dann organisierte der Berliner Galerist René Block aus Anlaß des 25. Jahrestages der Zerstörung von Lidice eine Ausstellung in seiner Galerie. Er bat 22 deutsche Künstler, die von seiner Galerie vertreten wurden, darum, kostenlos eines ihrer Kunstwerke zur Verfügung zu stellen, die in einer Ausstellung "Hommage a Lidice" ausgestellt werden sollten und als Geschenk für ein zu errichtendes Museum in Lidice gedacht waren. Er folgte damit dem Aufruf von Barnett Stross, der zur Bildung einer Kunstsammlung für Lidice aufgerufen hatte. Neben bereits etablierten Künstlern wie Joseph Beuys, Dieter Roth oder Günther Uecker, waren auch die damals noch wenig beachteten Sigmar Polke, Jörg Immendorff und Gerhard Richter in Blocks Ausstellung vertreten. Richter stellte das Ölbild Onkel Rudi von 1965 hierfür zur Verfügung. Das Ölbild (in der Größe 87 x 50 cm) gleicht einer unscharfen Photographie und zeigt einen Soldaten in Wehrmachtsuniform, der vor einer Mauer posiert. Im Hintergrund läßt sich ein Gebäude erahnen, das eine Kaserne sein könnte. Im Gegensatz zu der direkten Reaktion von 1942 war die Ausstellung nach 25 Jahren auf die historische Vermittlung der Geschehnisse angewiesen. Richter -- 1932 geboren -- war 1943 zehn Jahre alt. Lidice kann zu diesem Zeitpunkt weiterhin als Symbol der kollektiven Erinnerung gelten, doch gerade die Generation Richters gehört eben nicht mehr unmittelbar zu denen, die die Auslöschung Lidices 'miterlebt' haben. So ist -- im Gegensatz zu den Reaktionen Mitte der 40er Jahre -- die Erinnerung an Lidice für Richter nur eine indirekte, vermittelte. Eben dies ist auch für das Verständnis des Ölbildes von Bedeutung.

Erst kürzlich erschien Jürgen Schreibers Buch Ein Maler aus Deutschland, das die Geschichte der Familie von Richter thematisiert. Schreiber beschreibt in seinem Buch vor allem die Lebensläufe von Richters Tante Marianne und seinem früheren Schwiegervater Prof. Dr. Heinrich Eufinger. Richters Tante fällt 1945 -- nach Zwangssterilisierung durch die der NS-Psychiatrie -- dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten zum Opfer, Richters Schwiegervater führte zur gleichen Zeit als Direktor der Dresdner Frauenklinik Zwangssterilisierungen durch.

Mit seinem Ölbild Onkel Rudi thematisiert Richter die Verstrickung der eigenen Familie in die Geschehnisse des 'Dritten Reichs'. Als Vorlage für dieses Ölbild verwendete Richter eine Photographie seines eigenen Onkels Rudolf Schönfelder, des Bruders seiner Mutter, der 1944 als Soldat in der Normandie an der Front fiel. Der Titel "Onkel Rudi" bezeichnet zum einen den Verwandtschaftsgrad zwischen Richter und Schönfelder, greift allerdings über diese persönliche Bedeutungsebene hinaus. Die bloße Bezeichnung "Onkel", also die eines nahen Verwandten, etabliert auch ein mögliches Verwandtschaftsverhältnis zwischen Betrachter und der abgebildeten Person. Gibt der Betrachter den Titel wieder -- "Onkel Rudi" --, so bedeutet dies auch "mein Onkel Rudi". Ähnliches kann für den Namen "Rudi" geltend gemacht werden. Er steht ohne Familiennamen, ohne weitere Erläuterung, wirkt gleichzeitig unpersönlich und wird so häufig im deutschen Sprachraum verwendet -- es könnten auch Onkel Fritz, Otto, Willi oder Paul sein --, daß er prototypisch für die Namen von Männern einer ganze Generation stehen kann. Gleichzeitig ist "Rudi" die Diminutivform von Rudolf, wirkt so zusätzlich verharmlosend und ist Ausdruck emotionaler Nähe zur dargestellten Person. Auf diese Weise wird der individuelle Titel bzw. der individuelle Name der dargestellten Person, der sich auf eine konkrete historische Person aus dem familiären Umfeld des Künstlers bezieht, überindividuell und löst sich von dieser persönlichen Beziehung ab. Ebenso scheint die Verbindung zu Lidice bzw. die Verortung des gemalten Raumes als höchst unbestimmt. Der abgebildete Ort ist nicht näher definiert und läßt sich nicht bestimmen. Der Soldat posiert vor einer Mauer, im Hintergrund eine Kaserne. Das Ölbild hat so keinen direkten inhaltlichen Zusammenhang mit Lidice (es wäre auch z.B. denkbar gewesen, eine der existierenden dokumentarischen Photographien der Vernichtung zur Grundlage eines Ölbildes für die Ausstellung auszuwählen). Figur und Raum gewinnen so -- kontextuell ungebunden - paradigmatischen Charakter.

Entscheidend für die Wirkung von Richters Ölbild ist dessen Entstehung und seine Medialität. Richter benutzt eine Photographie als Vorlage, die er dann abmalt. Das Ölbild läßt die photographische 'Herkunft' seines Sujets deutlich erkennen. Das Abmalen einer photographischen Vorlage ist typisch für sein Werk -- besonders bekannt dürfte hierbei der fünfzehnteilige Zyklus 18. Oktober 1977 über die RAF sein. Die Wechselbeziehung zwischen Malerei und Photographie, die Spezifika des gemalten Bildes auf der einen und der Photographie auf der anderen Seite, sind ein zentrales Thema Richters in seiner Auseinandersetzung mit den Themen 'Realität' und 'Reproduktion von Realität'. Richter stellt die beiden Medien Photographie und gemaltes Ölbild einander gegenüber. Die Photographie steht bei Richter für eine dokumentarische 'originalgetreue' Abbildung der Realität. Richter bezieht sich dabei auf die Rezeption durch den ungeübten 'unprofessionellen' Betrachter. Es ist zwar evident, daß der scheinbar objektive Charakter der Photographie höchst fragwürdig ist, sofern es um die Widergabe einer vorhandenen 'Realität' (d.h. eines Außenreizes, der mithilfe der Technik des Apparats festgehalten wird) geht. Photographie kann eben auch 'lügen', d.h. etwas von der Realität abweichendes darstellen (wie es z.B. in der Ausstellung "Bilder, die lügen" im Deutschen Historischen Museum 2004 gezeigt wurde). Dennoch muß man feststellen, daß die Photographie als Medium von 'unprofessionellen' Betrachtern weiterhin als 'authentische' Abbildung von Realität gelesen wird, ihr ein Beglaubigungscharakter beigemessen wird. Nur so hat die Photographie eben auch die Möglichkeit zu lügen, die die Malerei ihrerseits nicht hat. Einem Ölbild wird niemand den Charakter der Authentizität als unmittelbares Charakteristikum zubilligen wollen, bei der Photographie hingegen funktioniert dies nach wie vor.

Auch wenn Richters theoretische Aussagen als disparat und oft widersprüchlich gelten können, taucht die Frage nach der Glaubwürdigkeit beider Bildmedien in seinen theoretischen Aussagen regelmäßig auf. In den Notizen von 1964-1965 schreibt er beispielsweise: "Ein Photo wird gemacht, um über eine Begebenheit zu berichten. Wichtig für den Photographen und den Betrachter ist als Resultat der ablesbare Bericht, die in Form eines Abbildes fixierte Begebenheit." Mit dem Abmalen eines solchen Photos verfolgt Richter zwei Ziele. Zum einen entsteht auf diese Weise ein Ölbild (wobei Richter das Wort "Bild" immer als Synonym für Ölbild benutzt, in Absetzung zur Photographie), das -- nach Richter -- in seiner Bildlichkeit nicht den Anspruch auf konkrete Abbildung der Realität erhebt, sondern als Kunstwerk autonom steht und unabhängig von Wirklichkeit gelesen werden kann. "Es [das Ölbild] demonstriert die Zahllosigkeit der Aspekte, es nimmt uns unsere Sicherheit ..." Gleichzeitig behält das von einer Photographie abgemalte Ölbild im Gegensatz zu einem vom Künstler frei komponierten auch die Eigenschaft der Photographie, über etwas authentisch zu berichten. Die Photographie bildet eine Art dokumentarischen Hintergrund, auf dem das gemalte Bild aufbaut. Onkel Rudi wirkt also als Ölbild und als Photographie. Die 'Berichterstattung' des Photos wird erhalten, gleichzeitig wird aber auch das nicht-objektive eines gemalten Bildes mit einbezogen. Da das Ölbild wie eine Photographie wirkt, wird der objektive, realitätsgebundene Charakter des Dargestellten beglaubigt, gleichzeitig aber durch die gemalte Wiedergabe konterkariert und damit der Objektivitätscharakter der Photographie unterwandert.

Die Verwendung einer photographischen Vorlage zur Herstellung eines Ölbildes verweist im Kontext der Lidice-Ausstellung von 1967 auch auf Richters Biographie. Wie oben erwähnt, war Richter 1942 zu jung, um die Ereignisse in Lidice bewußt wahrgenommen zu haben. Er selbst, seine Generation und alle Nachgeborenen sind daher auf dokumentarische Vermittlung der historischen Vorgänge angewiesen. So ist die Vorlage in ihrer Form gleichzeitig auch Ausdruck einer Distanz zur Geschichte.

Die Wechselbeziehung zwischen Photographie auf der einen und gemaltem Ölbild auf der anderen Seite wird besonders deutlich bei der Analyse von Richters Maltechnik. Richter verwendet gezielt Unschärfe als malerisches Stilmittel, um die als Vorlage dienende Photographie zu verfremden. Generell wählt er für seine Ölbilder schlecht reproduzierte oder leicht unscharfe Vorlagen aus, die vergrößert auf eine Leinwand projiziert und anhand der Konturen nachgemalt werden. Ist die Unschärfe bereits mehr oder weniger explizit in der Vorlage vorhanden, wird sie durch das Abmalen weiter verstärkt: Es handelt sich bei der Unschärfe also um ein Charakteristikum, das nicht primär nur dem Gebiet der Malerei zuzuschreiben ist, sondern auch in der Photographie -- oft als Fehler oder Abweichung vorhanden oder gewertet -- vorhanden ist. Das Verhältnis zwischen malerischer Unschärfe und photographischer Unschärfe läßt sich analog zum oben beschriebenen Wirklichkeitsbezug von Photographie und Ölbild erläutern. Auch in der traditionellen Malerei finden sich verschiedene Formen von Unschärfe -- man denke beispielsweise an das Sfumato bei Leonardo Da Vinci oder an Landschaftsdarstellungen bei Caspar David Friedrich -- diese Unschärfe läßt sich aber nur als intendierte, d.h. vom Künstler gewollte interpretieren und nicht als Mangel in der Darstellung durch den Künstler. Bei der Photographie aber wird -- da die technischen Gegebenheiten der Kamera dies intendieren -- die scharfe Photographie als der anzustrebende Regelfall betrachtet, die Unschärfe als Abweichung oder Mangel, die entweder dem Unvermögen des Photographen oder der besonderen Situation (z.B. Schnappschuß bei schlechten Lichtverhältnissen) zugeschrieben wird. So wirkt Unschärfe in einer Photographie -- obschon Mangel -- oft noch als authentizitätssteigernd (man denke beispielsweise an Paparazzi-Photos, die oft gerade erst durch Unschärfe ihren Wert und ihre Aussagekraft erhalten).

Bei Richters Onkel Rudi wird zwar auf den ersten Blick deutlich, daß es sich um ein gemaltes Bild handelt, dennoch bleibt die -- von Richter postulierte -- Glaubwürdigkeit der Photographie beibehalten. Zum Dokumentarischen bemerkt Richter in einem Interview von 1966: "Ein gemalter Mord ist gänzlich uninteressant, ein photographischer ergreift alle. So etwas muß man doch einfach in die Malerei einführen". Doch was bewirkt die gemalte Unschärfe als solche? Obwohl es Richter um den Erhalt der berichterstattenden Funktion des Photos geht, konterkariert er dies durch die gemalte Unschärfe. Der Betrachter kann das Sujet des Bildes im Gegensatz zu einer scharfen Photographie nicht sofort klar und deutlich erkennen; auf diese Weise entsteht eine Distanz zwischen Betrachter und Bild. Die Faktur des Ölbildes wird jetzt sichtbar. Die Medialität der Photographie tritt oft so stark in den Hintergrund, daß der Betrachter vergißt, es überhaupt mit einer photographischen Abbildung zu tun zu haben. Die Unschärfe von Richters Ölbild decouvriert gerade die Medialität des Dargestellten, d.h. dem Betrachter wird klar, es mit einer künstlich geschaffenen Abbildung zu tun zu haben. Er sieht nicht nur das, was dargestellt, sondern auch, daß etwas dargestellt wird: Die Unschärfe wird also durch ihren Charakter als 'photographischer Fehler' einerseits zu einem Medium der Beglaubigung, durch ihre Funktion als eine Art 'Bildstörung' beeinträchtigt sie andererseits die Erkennbarkeit des Sujets so sehr, daß sie die Authentizität des Dargestellten gleichzeitig in Frage stellt. Die Unschärfe weist damit auf die Fragwürdigkeit von Richters eigener Aussage bezüglich der 'Wahrhaftigkeit der Photographie' hin. Diese Wirkung wird insbesondere durch einen Vergleich zwischen der oben abgebildeten 'authentischen' dokumentarischen Photographie der Leichen in Lidice und Richters Ölbild deutlich: Auch die Photographie ist unscharf, sie erscheint aber dennoch unproblematisch und authentisch. Niemand wird in dieser Photographie ein fiktives Bild sehen, im Gegenteil beglaubigt die Unschärfe den dokumentarischen Charakter der Darstellung zusätzlich. Bei Onkel Rudi jedoch wird der dokumentarische Charakter einer bildlichen Darstellung -- und das wird noch deutlicher, wenn man das Original-Ölbild vor sich hat -- durch den Einsatz der malerischen Unschärfe wesentlich problematischer.

Auch bezogen auf das Sujet und nicht nur hinsichtlich der Medialität des Bildes hat die Unschärfe eine Funktion. Als Verwischung des Konkreten, als Konterkarierung des unhinterfragt Dokumentarischen der Photographie -- also einer scharfen und detailreichen Darstellung -- führt sie zu einer Abstrahierung vom konkret Dargestellten. Zwar erkennt der Betrachter bei Onkel Rudi, daß es sich um eine Person handelt, möglicherweise auch, daß es sich um einen Soldaten bzw. eine Person in Uniform handelt. Aber -- im Gegensatz zur Photographie -- ist die Zuordnung der dargestellten Person in ihrer Funktion bzw. historischen Situierung durch die unscharfe Darstellung erschwert. Der Titel Onkel Rudi verweist in seiner Harmlosigkeit nicht auf den spezifischen historischen Kontext, aus dem die Vorlage zu Onkel Rudi stammt. Nur durch genaueres Betrachten -- und vor allem durch Analogien mit bereits Bekanntem -- kann der Betrachter erkennen, daß es sich um eine uniformierte Person handelt, die -- die Form der Mütze und des Mantels weisen darauf hin -- historisch im 'Dritten Reich' einzuordnen ist. Nur indem sich der Betrachter auf bekanntes photographisches -- d.h. dokumentarisches -- Material bezieht, ist er in der Lage, das Dargestellte zu entschlüsseln.

Für die Dechiffrierung des Bildsujets ist daneben auch die konkrete Einordnung innerhalb einer bestimmten Ausstellung maßgeblich. Das Ölbild wurde für die Ausstellung zum Gedenken an Lidice aus dem Jahr 1967 von Richter zur Verfügung gestellt. Es handelt sich hierbei um das 'Original-Bild' in Öl, das heute im Tschechischen Museum der Bildenden Kunst in Prag hängt. Die Interpretation wird durch den Rahmen der Lidice-Ausstellung 'erleichtert'. Es liegt nahe, die dargestellte Person als Angehörigen der deutschen Wehrmacht zu identifizieren. Hinge das Ölbild in einer Werk-Retrospektive -- wie kürzlich als Photo-Edition von 2000 in der Tübinger Richter-Ausstellung -- wäre es deutlich schwieriger für den Rezipienten, das Bildsujet ohne weitere Informationen zu verorten. Würde man es z.B. im Kontext einer Ausstellung zur Geschichte der DDR verwenden, ließe sich auch ein NVA-Offizier vermuten. Um der Bedeutung noch näher zu kommen, sei auf den historischen Kontext seiner Entstehung hingewiesen. 1963 erschien Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil in New York, ein Jahr später wurde es in Deutschland veröffentlicht. Arendt beschreibt den Gerichtsprozeß gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem, der als einer der Hauptverantwortlichen für die Judenvernichtung in Europa gilt. Sie beschreibt in ihrem Buch, daß Eichmann nicht aus ideologischer Überzeugung oder ausgeprägtem Haß gehandelt habe, sondern aus Gedankenlosigkeit und bürokratischer Logik. Für Arendt ist eben diese "Banalität des Bösen" das eigentlich Erschreckende an Eichmanns Handeln. Richters Ölbild steht historisch wie inhaltlich in diesem Kontext. Die Person 'Onkel Rudi' wird zur überindividuellen und typologischen Darstellung der "Banalität des Bösen". Der lächelnde Soldat auf Richters Ölbild wird -- durch die Unschärfe von seiner individuellen Bedeutung entkoppelt und durch den Kontext der Lidice-Ausstellung -- zu einem Stellvertreter der 'kollektiven Erinnerung' der Deutschen. Richter legt die Möglichkeit nahe, daß Rudi eben auch zu den Tätern gehören könnte. Lidice kann -- auch wenn es heute in der kollektiven Erinnerung in Deutschland nicht mehr vorhanden zu sein scheint -- 1967 noch als Sinnbild in den Kontext der kollektiven Erinnerung eingeordnet werden.

Richter sagt in einem Interview von 1966: "Der Gegenstand ist mir so wichtig, daß ich sehr viel Mühe bei der Auswahl des Sujets aufwende, so wichtig, daß ich ihn male. Mich fasziniert das Menschliche, Zeitbedingte, Reale, Logische an dem Geschehen, das gleichzeitig so irreal, unverständlich und zeitlos ist. Und ich möchte es so darstellen, daß diese Gegensätze erhalten bleiben."

 

autoreninfo 
Philipp Alexander Ostrowicz ist wissenschaftlicher Angestellter am Deutschen Seminar der Universität Tübingen, wo er über die "Ästhetik der Unschärfe" promoviert. Er studierte in Braunschweig, Florenz und Tübingen Neuere Deutsche Literatur, Linguistik, Neuere Geschichte und Rhetorik. Er ist assoziertes Mitglied des interdisziplinären dänischen Forschungsprojektes "Tysklandsprojektet" der Universitäten von Aarhus, Kopenhagen und der Syddansk Universität.
Homepage: http://www.germ-serv.de/ostrowicz/
E-Mail: philipp.ostrowicz@uni-tuebingen.de

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