Palma de Mallorca, 10. Okt 2005_
Der Sommer hört hier sehr langsam auf. Nach drei Monaten Ferien kommt
der Alltag, auch das Berufsleben, nur ganz gemütlich wieder in
Bewegung. Nur ein Wirtschaftszweig, neben dem Tourismus, hat
ununterbrochen durchgearbeitet. Denn jetzt, im Herbst, sollen drei der
vier neuen Autobahnen fertig sein, außerdem die neue Tiefgarage zu
Füßen der Kathedrale in Palma -- und das erfordert natürlich Arbeiten
im Akkord. Nicht zu vergessen das neue Kongreßzentrum und die U-Bahn
-- ja, wirklich, die U-Bahn! Mit beidem wurde bereits begonnen. Da
sieht doch der umfassende Hafenausbau, um in Zukunft bis zu zehn
Kreuzfahrtschiffe pro Tag aufnehmen zu können, wie ein Nebenschauplatz
aus.
Auf der Insel erzählt man sich eine Geschichte, die -- wie alle
kleinen, unvergessenen Geschichten --, eine zu jeder Zeit aktuelle
Wahrheit enthält. Vor nur wenigen Jahren soll ein Engländer, der eine
Wanderung durch die Berge, die Tramuntana, machte, auf einen alten
Inselbewohner getroffen sein. Beide blieben am Holzgatter zum
Grundstück des Mallorquiners stehen, der alte Mann erzählte von seinen
Schafen, der Mandelernte, von seiner Casita, in der eine
Campingliege ihm als Bett diene, zumindest für ein
Mittagsschläfchen. Der Engländer schilderte seinen Wanderweg. Der
Einheimische gab ihm Hinweise, welche Grundstücke er queren dürfe und
welche neuerdings verschlossen seien -- seit die Reichen aus aller
Welt die alten Güter in Küstennähe kauften. Sicherlich redeten sie
auch noch über das Wetter; selbst in einem Land, in dem immer die
Sonne scheint, ein beliebter Zeitvertreib. Der Fremde wollte sich
gerade verabschieden, da hielt ihn der Mallorquiner am Ärmel fest und
sagte: "Du bist nicht von hier, das weiß ich nun. Darf ich mir
daher erlauben, dich etwas zu fragen?"
"Selbstverständlich!", bat der Engländer jovial. Ob es
stimme, begann der alte Mann und schaute an seinem Gegenüber vorbei
Richtung Tal, ob es wirklich stimme, daß der Rest der Welt größer sei
als diese Insel?
Der Engländer, selbst ganz Inselmensch, wollte kein Besserwisser
sein und beruhigte den Mallorquiner. Es gäbe da einen
Größenunterschied, aber über den könne man auch großzügig
hinwegsehen. Seither gibt es hier in einigen Geschäften Globen zu
kaufen, deren Flächen zu 80% von einer Insel bedeckt sind, die
Mallorca ähnelt. Auf dem übrigen Platz tummelt sich der Rest der Welt,
inklusive Nord- und Südpol.
Es ist kein Geheimnis, daß die Mallorquiner seit Anfang der
fünfziger Jahre ihr Inselland freizügig an die, die aus diesem Rest
der Welt stammen, verkaufen. Darüber sind sie, ohne Zweifel, reich
geworden -- und werden es noch. Im Ort Estellencs, einem Bergdorf an
der Westküste, erzählt man sich gern die Geschichte von Gabriel, auch
er ein Schafshirte mit Mandelbaumplantage. Gabriels direkter Nachbar
ist der Enkel vom alten Dornier. Dieser Enkel machte bekanntlich ein
gutes Geschäft, als er den angeschlagenen Konzern noch rechtzeitig an
Mercedes-Benz verkaufte. Seither gehört der Familie ein maurisches
Landgut am Fuß des Galazó. Gabriel ging nun eines Tages zum
Dornier-Enkel und sagte, daß eine Hotelkette ihm ein Angebot gemacht
habe für seine Mandelplantage, viel Geld, und außerdem würden sie auch
ein prächtiges, mehrstöckiges Hotel mit Badeanstalt für über tausend
Gäste darauf bauen -- das sei doch was, oder? Herr Dornier verstand
sofort und bat um fünf Bedenkminuten. Als er wiederkam, brachte er für
sich und Gabriel gleich zwei Gläser Hierbas mit. Die
Summe, die der Schafshirte angeblich von der Hotelkette angeboten
bekommen hatte, überbot Herr Dornier großzügig. Sie stießen sofort die
Gläser aneinander. Gabriel ist seither Schafshirte und Euromillionär,
und natürlich hatte es nie ein Angebot von einer Hotelkette für seine
Plantage gegeben.
Diese zwei Bewegungen sind auf der Insel deutlich zu spüren. Laut
Inselregierung werden im Jahr 2010 fünfzig Prozent der hier Ansässigen
Ausländer sein. Sie können Land kaufen, Fincas bauen, ihren Geschäften
nachgehen. Die Infrastruktur, die sich gerade die Deutschen auf der
Insel schaffen, gleicht der einer mittelgroßen deutschen Stadt. Der
hiesige sogenannte Wurstkönig Herr Abel wollte schon mal eine Partei
gründen, um seine (zweifelhafte) Einflußsphäre
auszubauen. Glücklicherweise scheiterte er damit, stellte sich aber
nun im vergangenen Wahlkampf als Inselaußenposten der CDU dar.
Auf diese und andere Vereinnahmungen reagieren die Mallorquiner
verständlicherweise mit Regionalismus und Rückzug.
Mallorquin, ein Dialekt des Katalan, ist
erste Sprache an den staatlichen Schulen. Wer im öffentlichen Dienst
beschäftigt werden will, muß perfekt Mallorquin sprechen,
Castellaño wird nicht gefordert. Das, obwohl
3.500 offene Stellen (nur bei der Polizei) gemeldet sind. Ganz bewußt
grenzt man sich ab, bleibt unter sich. Die Pflege der eigenen
Traditionen, auch des Mallorquin, war unter Franco
verboten. Auch das ist ein Grund für eine Renaissance des
Regionalen. Traditionelles wird als eine neu gewonnene Freiheit
verstanden.
Die Geschichte der Insel erzählt von vielfältigen Versuchen der
Eroberung und sofortiger Vertreibung der Eindringlinge durch tapfere
Mallorquiner. Vielleicht ist es ihre tiefe Verbundenheit, ihr Stolz,
die den Inselbewohnern ihre Insel so groß erscheinen läßt. Vielleicht
ist Inselbewohnern aber auch grundsätzlich eigen, die natürliche
Begrenzung ihrer Umgebung durch gefühlte Ausdehnung wett zu machen. So
unterscheiden die Menschen, die seit vielen Generationen auf der Insel
leben, genau zwischen sich, den Mallorquinern, und den schon fremden
Palmanesen (durchaus hochnäsige Stadtbewohner), den Katalanen (als
Gruppe allgemein), den Peninsulas (die Festlandspanier da
drüben) und schließlich den Extranjeros (dem seltsamen
Rest der Welt). Aus der Perspektive eines Inselbewohners lebt man im
Zentrum einer eigenen Welt, die im Kleinen sehr groß ist. Die
Geldströme, die das Leben so schön, vielfältig und luxuriös machen,
kommen von Außen und scheinen auf alle Ewigkeit gesichert. Das Geld
fließt, solange hier die Wirtschaft wächst, die Infrastruktur
ausgebaut, das Angebot vervielfältigt wird. So sehen es die
Mallorquiner. Man könnte aber auch sagen: das Geld fließt, weil es
eine scheinbar grenzenlose Bereitschaft gibt, das Land auf dem alle
sitzen, auszubeuten und zu zerstören.
Es ist eine Zerreißprobe für die kleine, wunderschöne Insel. Die
Vorstellung einer grenzenlosen Ausdehnbarkeit über Wasser und Land
wird augenblicklich in zahlreichen Projekten sichtbar. Am sichtbarsten
jedoch sind die vier überdimensionalen Autobahntrassen, die in jede
Himmelsrichtung quer über die Insel gehen. Die rote Erde ist
aufgerissen, tief abgetragen, der schwarze Teer liegt wie ein
trostloses Pflaster in diesen Wunden. Begründet wird der Ausbau mit
den wachsenden Einwohner- und Besucherzahlen. Jährlich kommen allein
fünf Millionen deutsche Touristen auf die Insel -- verteilt über eine
Saison, die von circa April bis November dauert. Pünktlich zu jedem
Ferienbeginn kommt schon mal die Einwohnerzahl Bielefelds am Flughafen
an. Manchmal stehen auf den Anzeigentafeln in der Wartehalle nur noch
deutsche Städtenamen. Die Kreisläufe scheinen in Stein gemeißelt: Der
Massentourismus bringt das Geld auf die Insel, er braucht
Transportwege, eine funktionierende Logistik, er darf in nichts
behindert werden, kein Tourist darf im Stau stehen -- also
asphaltieren wir die Insel, was das Zeug hält. Der Einwand, daß die
monströse Zerstörung der Landschaft abschreckend wirken könnte, wird
nur von einer kaum hörbaren Minderheit (meist Betroffenen)
vorgetragen.
Die Mallorquiner öffnen sich großzügig der Welt, verehren liebevoll
ihren neuentworfenen Globus und verweigern sich keineswegs dem Geld,
das ihr karges Land einbringen kann. Sie leben über die Sorgen um
diese Zerreißprobe hinweg. In einigen Jahren ist die rote,
aufgeworfene Erde neben den Autobahnen von der Sonne ausgeblichen und
erinnert nicht mehr an klaffende Wunden. Niemand kann sich vorstellen,
daß der Massentourismus eines Tages woanders stattfinden
könnte. Mallorcas Gestein macht den Eindruck, über alle natürliche
Begrenztheit hinaus unendlich ausdehnbar zu bleiben. Der fast
amerikanisch anmutende Glaube an ewig mögliche Expansion bringt die
Luft zum Flirren. Und kommt man den Asphaltschneisen nicht zu nahe,
ist das Leben immer noch ausnehmend schön hier. Alle Selbsttäuschung
wird einem mandelblütenleicht gemacht -- der Sommer, in dem die Hitze
alles vergessen läßt, ist lang. So lang, daß man immer weiter an die
Größe der kleinen Insel glauben kann.
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autoreninfo

Larissa Boehning , Jahrgang 71, studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin, und ist vor einem Jahr von dort nach Palma umgezogen. Sie gewann verschiedene kleine Literaturwettbewerbe und wurde 2003 Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin. 2002 erhielt sie den Literaturpreis Prenzlauer Berg. 2003 erschien ihr Erzählband Schwalbensommer bei Eichborn. Letztes Jahr wurde ihr für ihre literarische Arbeit das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin verliehen. 2006 erscheint voraussichtlich ihr erster Roman. Seit dem Wintersemester 2003 unterrichtet sie im Rahmen eines Lehrauftrages an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Fachbereich Kulturwissenschaft und Germanistik kreatives und literarisches Schreiben.Homepage: http://www.larissaboehning.deE-Mail: larissa.boehning@gmx.de