Von Gisela Ostwald
NEW YORK (BLK) - Wer T.C. Boyles scharfe Zunge liebt, seinen Sarkasmus und den Spott in Porträts berühmter Männer wie Frank Lloyd Wright und Alfred Kinsey, wird nach der Lektüre des jüngsten Buches erstaunt aufschauen. Der Erzählung „Das Wilde Kind“ fehlen diese Markenzeichen. Stattdessen schildert der amerikanische Kultautor den Leidensweg des Protagonisten, eines französischen Kaspar Hausers aus den Bergen des Languedoc, und seinem trotz ständiger Enttäuschungen geduldigen Lehrer voller Mitgefühl.
Vor Boyle hatte François Truffaut die Geschichte des als Victor von Aveyron bekannten Jungen schon 1970 in seinem Film „Das wilde Kind“» („L’enfant sauvage“) aufgegriffen. Victor ist einer von zwölf gut dokumentierten „wilden Kindern“, die der schwedische Biologe Carl von Linné vor fast 250 Jahren als eigene Spezies Homo sapiens ferus kategorisiert hatte. Als erster bekannter Fall ging der des „hessischen Wolfskinds“ in die Bücher ein. Er war 1344 gerade dreijährig in der Wetterau gefunden und angeblich von Wölfen aufgezogen worden.
Boyles „Wolfskind“ wird von seiner Stiefmutter im Wald ausgesetzt. Sie schneidet ihm die Kehle durch. Er überlebt mit einer langen Narbe. Der Junge hat nie sprechen gelernt und stößt nur tierische Laute aus. Er ernährt sich von Nüssen, Würmern, hin und wieder einem Kleintier, das er mit Haut und Haaren verschlingt. Als er 1798 von Jägern auf einem Baumwipfel ausgeräuchert und gefangen wird, ist er splitternackt, verdreckt, unempfindsam gegen Kälte und Feuer. Sobald sich die erste Gelegenheit bietet, flieht er zurück in seine Welt, die Wildnis.
Doch die Menschen lassen ihm keine Ruhe. Ein Naturforscher nimmt sich seiner an. Er landet in einem Heim für Gehörlose in Paris, wo der junge Arzt Jean Itard einen zivilisierten Menschen aus ihm zu machen versucht. Der Junge lernt den Luxus eines Bettes und gekochte Speisen lieben, doch alle Bemühungen, ihn zum Sprechen und Lesen zu bringen, scheitern kläglich. Immer wieder bricht das Wilde aus ihm hervor. Durch die Pubertät fällt er weiter zurück. Als er unbefangen vor einer Ordensschwester und den jüngeren Heimkindern onaniert, ist das Ende fünfjähriger Bemühungen gekommen, das „Wolfskind“ Victor zu einem angepassten Menschen zu erziehen.
Im Haus der Köchin Madame Guérin wird ihm das Gnadenbrot gewährt. Für die Gesellschaft ist er untauglich. Für die Natur, nach der er sich sehnt, sind ihm die Instinkte aberzogen worden. Alles, was bleibt, ist der Blick auf die Wolken, wenn er mitten in Paris auf dem Pflaster von Madame Guérins Hof liegt und von der verlorenen Freiheit träumt. Einsam, vernachlässigt und verwahrlost, ein Gefangener zwischen zwei Welten, stirbt Victor im Alter von 40 Jahren. Boyles Geschichte ist ergreifend, ohne in sentimentale Verklärung zu verfallen. Sie ist sprachlich brillant wie alle seine Werke.
Im amerikanischen Original ist die Erzählung vom „Wolfskind“ Victor eine von mehreren Kurzgeschichten in dem Buch „Wild Child“. Der Hanser Verlag ließ bisher nur die Titelgeschichte übersetzen und gibt sie in einem schmalen Band heraus.
Literaturangabe:
BOYLE, T.CORAGHESSAN: Das Wilde Kind. Hanser Verlag, München 2010. 112 S.,12,90 €.
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