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Die Zeit bei der „Zeit“

Theo Sommer über seine Jahre mit Helmut Schmidt

© Die Berliner Literaturkritik, 26.10.10

HAMBURG (BLK) – Im Juli 2010 erscheint beim Hoffmann und Campe Verlag das neue Buch von Theo Sommer „Unser Schmidt. Der Staatsmann und der Publizist“.

Klappentext: „Politiker und Journalisten haben eines gemeinsam: Sie sollen heute schon über Dinge urteilen, die sie erst morgen verstehen.“ Helmut Schmidt. „Das ist auch nicht schwieriger, als wenn man als Politiker in ein neues Ressort kommt und sich einarbeiten muss“, sagte Helmut Schmidt, als er 1983 seinen Herausgeberposten bei der Zeit antrat. Ganz so einfach scheint es dann doch nicht gewesen zu sein, zumindest nicht für diejenigen, die bereits beim Blatt tätig waren. Er schärfte den Ressortleitern schon mal ein, „die Wohngemeinschafts- und Gossensprache der 68er-Generation“ zurückzudrängen. Die konterten: „Eine Redaktion ist kein Ministerium.“ Dennoch: In dem Bestreben, eine tolerante, weltoffene Zeitung zu machen, herrschte Einigkeit. Pointiert und unterhaltsam zeichnet Theo Sommer den Aufstieg Helmut Schmidts zur politisch-moralischen Instanz nach.

Theo Sommer kam 1930 in Konstanz zur Welt. In Tübingen und den USA studierte er Geschichte und Politische Wissenschaften. Nach seinem Studium fing er 1958 bei der „Zeit“ an, zunächst im Ressort Politik, dann arbeitete er dort zwanzig Jahre als Chefredakteur. 1969/70 wurde Theo Sommer unter Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt zum Leiter des Planungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung ernannt. Von 1992 bis 2000 war er Herausgeber der „Zeit“ und heute Editor-at-Large. Bei Hoffmann und Campe veröffentlichte er Hamburg. Porträt einer Weltstadt (2004/2007).


Leseprobe: 


©Hoffmann und Campe Verlag©


Einleitung
V or einem halben Jahrhundert, im Sommer 1961, bin ich Helmut Schmidt zum ersten Mal begegnet. Ich reiste von der Jahreskonferenz des Londoner Instituts für Strategische Studien aus Genf nach Hamburg zurück, als der zweiundvierzigjährige SPD-Politiker in mein Schlafwagenabteil zustieg. Er bezog das untere Bett, ich das obere. Wir haben damals die halbe Nacht bei Fürstenberg-Pils miteinander geredet. Gesprächsstoff hatten wir genug. Für strategische Fragen hatte ich mich seit längerem interessiert. Im Herbst 1957 hatte ich für die ZEIT Kissingers Nuclear Weapons and Foreign Policy besprochen und hatte dann im folgenden Jahr für den jungen Harvard-Professor bei einem Auftritt im Hamburger Amerikahaus gedolmetscht, da er sich außerstande sah, Spezialausdrücke wie second-strike capability oder intermediate range missiles in seiner Muttersprache wiederzugeben („Mit meinem Deutsch ist es wie mit meinem Gepäck: Es kommt erst morgen“, entschuldigte er sich). Auch hatte ich mich im Sommer 1960 in Kissingers International Summer Seminar an der Harvard University und danach als erstes deutsches Council-Mitglied des Londoner Institute for Strategic Studies intensiv mit strategischen Fragen beschäftigt. Schmidt und ich besaßen viele gemeinsame Bekannte in der strategic community. So fanden wir rasch Kontakt zueinander. 
 In jener Nacht im Schlafwagen habe ich zum ersten Mal Schmidts enorme Sachkenntnis bewundert. 1962 kam dann sein Buch Verteidigung oder Vergeltung heraus. Es verschaffte mir die Chance meines allerersten Fernsehauftritts; in der Wessel-Runde diskutierten Emil Obermann vom Süddeutschen Rundfunk, Hans Schmelz vom Spiegel und ich mit ihm über sein Werk – das erste überhaupt, das sich in Deutschland kompetent und autoritativ mit dem Thema auseinandersetzte. Eine lange Reihe langer Gespräche schloss sich in den folgenden Jahren an.
 Im Herbst 1969 lud mich Schmidt ins Frankfurter Interconti am Main, wo er als designierter Verteidigungsminister in Willy Brandts Kabinett seine Mannschaft zusammenstellte. Schon 1966 hatte er mir angeboten, falls er Verteidigungsminister würde, mit ihm auf die Hardthöhe zu gehen, um im Ministerium eine Planungsabteilung aufzubauen und zu leiten. Nun kam er darauf zurück. Abermals bot er mir an, im Verteidigungsministerium einen Planungsstab einzurichten. Außerdem sollte ich eine „kritische Bestandsaufnahme“ der Bundeswehr organisieren und das erste Weißbuch schreiben. Ich sagte zu und blieb – so war es von vornherein verabredet – ein knappes Dreivierteljahr. Es war eine kurze und wahnsinnig arbeitsreiche, aber aufregende und fruchtbare Zeit an seiner Seite. 
 Damals habe ich seine enorme Arbeitskraft zu bewundern gelernt. Ich sehe noch den Stapel von Vorlagen vor mir, auf zwei oder drei Teewagen vor ihm aufgebaut, die er nach all den Sitzungen, Truppenbesuchen und oft auch Parteiterminen bis weit nach Mitternacht durcharbeitete. Manchmal steckte ich frühmorgens um drei, wenn im Ministerbüro noch Licht brannte, den Kopf bei ihm hinein. Wir tranken einen dünnen Whisky und schickten einander dann ins Bett, denn für halb acht war schon wieder der erste Termin angesetzt. Von Schmidts Arbeitsweise habe ich damals übrigens viel gelernt. Problemidentifizierung, Definition der Notwendigkeiten und Möglichkeiten, Diskussion der Vorschläge, schließlich Beschluss und Umsetzung – das war eine Art von Führung, wie ich sie so nicht wieder erlebt habe, zugleich entschieden, offen für jede vernünftige Anregung, aber auch für jeden vernünftigen Einwand. Diskussion war für ihn ein notwendiges Element der eigenen Meinungsbildung und Beschlussfassung. 
 Wir blieben auch nach meiner Bonner Zeit in Fühlung. Einmal erlebte ich ihn wenige Jahre später, wie die Öffentlichkeit ihn nie zu sehen bekam: verbittert, wütend und zugleich reuevoll. Das war 1976, im Gästehaus des Hamburger Senats an der Alster. Er hatte ein paar Freunde gebeten, mit ihm den Entwurf der Regierungserklärung zu schmirgeln und zu polieren. Im vorangegangenen Wahlkampf hatte er, unvollkommen informiert oder schlecht beraten, eine Rentenerhöhung versprochen. Neue und unzweideutige Zahlen bewogen ihn dann, die Erhöhung zu verschieben. Das löste im Lande einen Proteststurm aus. Von „Rentenfiasko“ und „Rentenlüge“ war die Rede. Er machte einen Rückzieher. Im Entwurf der Regierungserklärung war davon nicht ein Wort zu lesen. Er wischte das Beamtenpapier unwirsch beiseite, stellte das Thema ganz an den Anfang und diktierte die großartigen Sätze: „Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Dies behaupten nur totalitäre Regierungen von sich. Hingegen steht es einer demokratischen gut an, wenn sie klarer Kritik folgt.“ Zwei Jahre später bekannte er: „Es ist bitter, solche Fehler einsehen zu müssen. Es ist bitter, sie öffentlich eingestehen zu müssen.“
 Dann kam 1977 der „deutsche Herbst“ des RAF-Terrors, der Mogadischu-Aktion, der Schleyer-Entführung. Helmut Schmidt hatte eine Reihe von Experten in den Kanzlerbungalow eingeladen, um über MBFR zu sprechen – die festgefahrenen Verhandlungen über Mutual and Balanced Force Reductions in Europa, die er wieder in Gang bringen wollte. Aber er kam nicht, oder lange nicht,denn an diesem Tag wurde bekannt, dass Hanns Martin Schleyer ermordet worden war. Er stieß erst zu unserer Gruppe, nachdem er die Rede aufgesetzt hatte, die er am nächsten Tag im Bundestag halten wollte. Ich habe ihn nie wieder dermaßen erschüttert, so unendlich müde, so schwermütig gesehen. „Ein großes Glas mit Eis und dann so viel Wermut, wie anschließend noch reingeht“, sagte er erschöpft zu der Ordonnanz; ich notierte mir den Satz auf einer Papierserviette. Am nächsten Tag nahm er vor dem Parlament in demutsvollem Bewusstsein von Versäumnis und Schuld die Verantwortung auf sich – ganz im Sinne von Max Webers Satz, dass alles Tun in Tragik verflochten sei. „Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in der Zukunft“, sagte er und fügte hinzu: „Gott helfe uns!

©Hoffmann und Campe Verlag©


Literaturangabe:
SOMMER, THEO: Unser Schmidt. Der Staatsmann und der Publizist. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010. 416 S., 22 €.

Weblink:
Hoffmann und Campe Verlag


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