FRANKFURT/ MAIN (BLK) – Der S.Fischer Verlag hat im September 2010 die ganz persönlichen Reiseimpressionen von Roger Willemsen herausgegeben. Sie sind unter dem Titel „Die Enden der Welt “ erschienen.
Klappentext: Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen unterwegs, um seine ganz persönlichen Enden der Welt zu finden. Manchmal waren es die großen geographischen: das Kap von Südafrika, Patagonien, der Himalaja, die Südseeinseln von Tonga, der Nordpol. Manchmal waren es aber auch ganz einzigartige, individuelle Endpunkte: eine Bahnstation in Birma, ein Bett in Minsk, ein Fresko des Jüngsten Gerichts in Orvieto, eine Behörde im kriegszerrütteten Kongo. Immer aber geht es in diesen grandiosen literarischen Reisebildern auch um ein Enden in anderem Sinn: um ein Ende der Liebe und des Begehrens, der Illusionen, der Ordnung und Verständigung. Um das Ende des Lebens – und um den Neubeginn.
Roger Willemsen ist Publizist und Fernsehmoderator. Er wurde 1955 geboren und studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn, Florenz, München und Wien. 1991 kam er zum Fernsehen, wo er vor allem Interview- und Kultursendungen moderierte und Dokumentarfilme produzierte. Er führte über zweitausend Interviews und drehte zahlreiche Künstler-Porträts. Seit 2010 ist er Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Leseprobe:
©S.Fischer Verlag©
Toraja
Unter Toten
Mein Freund Hannes war ein kleingewachsener Beau mit stattlichem Schädel, dichtem, nach hinten gestriegeltem Schwarzhaar und einem Totenkopf auf dem Ring. Mehr noch als mein Freund war er mein Mentor, der manchmal nuschelnd Monologe über die Todesdarstellungen an mexikanischen Kalvarienbergen, über die Mumiengewölbe von Palermo oder über den nekrophilen Holzschneider Posada und seine Totentänze hielt. Wo immer er sie fand, in der Folklore, im Kunstgewerbe, in der Sepulkralskulptur, auf Glanzbildern oder im Jahrhundertwende- Kitsch, überall sammelte Hannes Todesdarstellungen.
Seine gesamte Wohnung, ein Altbau mit verschlungenen Korridoren, ein wahrer „Bau“ also, war mit Skeletten bevölkert, grinsenden, tanzenden, reitenden, grabenden, Wache haltenden, kopulierenden, immer grotesken Knochenmännern mit großen, vorwurfsvollen Augenhöhlen. Freunde und Besucher hatten so ihre Meinungen zu der Sammelleidenschaft, die dies zusammengetragen hatte. Doch wie Hannes war, interessierte er sich wenig für die Theorie, er objektiviere hier nur seine eigene Angst er interessierte sich überhaupt nicht besonders für sich selbst –, vielmehr sah er der Menschenphantasie bei ihrer Beschäftigung zu, so, wie sie selbstvergessen den Tod in die Welt krakeelte.
Als eine unmittelbare Ableitung davon war Hannes alles Kreatürliche kostbar. Er traute einfach dem Körper in seinen spontanen Lebensäußerungen mehr als der Moral. Dem Sex, dem Kotzen, Kacken, Pissen, Husten, Furzen, Erröten, Eregieren schrieb er eine gewisse Lesbarkeit zu, Blut, Samen, Säfte, alles teilte sich mit, Lebensäußerungen im Wortsinn, das waren sie.
Dann habe ich mich eines Tages angeschickt, für ein halbes Jahr nach Südostasien zu reisen, und auch Sulawesi, das alte Celebes, wie die Insel noch hieß, als man auch „Batavia“ zu „Jarkata“ sagte und „Ujung Pandang“ zu „Makassar“, stand auf meinem Routenplan. Ich verabschiedete mich von Hannes, der sich von seinem mit Totenkopf-Netsukes bedeckten Schreibtisch erhob, sich umarmen und küssen ließ, und empfing dafür seinen Rat:
„Wenn du wirklich bis nach Sulawesi kommst, dann reise unbedingt ins Toraja-Land, die Gegend von Rantepao! Du wirst die berühmten Pfahlbauten mit ihren bunt bemalten Satteldächern sehen, und wenn du kannst, dann besuche eine Totenfeier. Sie zelebrieren dort ein paar der originellsten Totenkulte der ganzen Welt.“
Ja, ich hatte gehört von diesen hochbeinigen Pfahlbauten, geschwungenen, ganz ohne Nägel gebauten Wohnschiffen mit den Bambusdächern, den gemalten Friesen auf den Giebeln, den Schnitzarbeiten, den Büffelschädeln an der Fassade, den Reisspeichern gegenüber. Fabelhafte Leute waren diese Toraja, einem kambodschanischen Seefahrergeschlecht entsprungen, vor den muslimischen Kriegern an der Küste ins Landesinnere der orchideenförmigen Insel geflohen und dort in unwegsamen Tälern heimisch geworden. Sie waren zwischen alle Religionen gefallen. Im Wesentlichen animistisch und vom Fortleben der Toten am alten Lebensort überzeugt, nahmen sie muslimische Elemente in ihre Glaubenspraxis auf, und, als die ersten Missionare kamen, gleichermaßen christliche.
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Literaturangabe:
WILLEMSEN, ROGER: Die Enden der Welt. S.Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2010. 541 S., 22,95 €.
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