Von Thilo Resenhoeft
Wer sind die Deutschen? Wie sehen sie aus, wie verhalten sie sich, wie gehen sie miteinander um? Wie kaum jemand anderes gibt das Fotografen-Ehepaar Gabriele und Helmut Nothhelfer Auskunft darüber. Seit mehr als 30 Jahren sind sie (beide Jahrgang 1945) mit der Kamera unterwegs, um ein Soziogramm der Deutschen zu schaffen. Ihre Motive finden sie im täglichen Leben, etwa auf Festen, auf der Straße, zu Jahrestagsfeiern, am Rande von Demonstrationen. Immer stehen die Menschen im Vordergrund, sei es eine Familie am Tag der offenen Tür der U.S. Air Force (Berlin-Tempelhof, 1975), seien es zwei junge Männer bei der Love-Parade (Berlin 1991). Jetzt zeigt der Band Momente und Jahre (Verlag Schirmer/Mosel) zahlreiche Bilder der beiden. Das deutsche Gesellschaftsprotokoll macht den Zeitgeist und seinen Wandel sichtbar.
Die Künstler beziffern ihr Werk derzeit auf genau diese 128 gedruckten Fotos, die Essenz aus drei Jahrzehnten. Ungezählte Bilder mehr sind entstanden, aber nur ein kleiner Teil schaffte es durch den harschen gemeinsamen Auswahlprozess: fotografieren, entwickeln, beurteilen, abziehen, goldtonen, trocknen und immer wieder beurteilen. Die geringe Zahl der Fotos macht deutlich, wie hoch die Messlatte liegt. Seit der Hochzeit 1973 gibt es die Doppelautorenschaft.
Über seine Arbeitsweise lässt das Paar wissen: „Geleitet werden wir nunmehr vor allem von dem magischen Raum, der durch den Blick und die Haltung der photographierten Personen entsteht, ihrer Ausstrahlung: einer Spannung von Abstoßung und Anziehung, die uns (wie auch den Betrachter) einbezieht und zugleich ausschließt und uns so unseren Platz zuweist.“ Wer vor's Objektiv der Nothhelfers gerät, wird es wohl merken, denn sie arbeiten nicht mit einem Teleobjektiv und müssen daher nahe ran.
Etwa beim deutsch-amerikanischen Volksfest in Zehlendorf (Berlin, 1974), auf dem Hoffest des Bürgerbüros Neukölln der SPD (Berlin, 1992) oder dem Heiratsmarkt auf dem Walter-Benjamin-Platz (Berlin, 2005). Auf den Momentaufnahmen das Ergebnis eines geschulten Blicks sprechen Kleidung, Körperhaltung, Blicke und Gesichtszüge eine überdeutliche Sprache. Natürlich, es bleibt der Fantasie überlassen, dies alles zu deuten, aber die Bilder liefern viele glaubhafte Hinweise und Anhaltspunkte dafür.
Die Langzeitstudie der Nothhelfers ist zu einem beständig fortgeschriebenen Porträt der Deutschen geworden und hat schon daher großen Wert. Man muss lange zurückblicken, um ein ähnliches Werk zu entdecken, und wird dann etwa bei August Sander fündig. Der hatte in den 1920-er Jahren die epochale Arbeit „Menschen des 20. Jahrhunderts“ geschaffen, für das er Mitglieder der Gesellschaft fotografierte, vom Bettler über den Handwerker bis zum Fabrikanten. Seine Bilder lassen heute viel vom damaligen Leben der Porträtierten und damit des ganzen Landes erahnen. Auch die Bilder der Nothhelfers werden aus diesem Grund mit jedem Tag wertvoller.
Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln, zu deren Hauptbeständen das Archiv Sanders zählt, hat 166 originale Fotografien der Nothhelfers erworben. Gabriele Conrath-Scholl, die Leiterin der Fotografischen Sammlung, charakterisiert deren Werk und dessen Bedeutung in einer umfassenden und klugen Einleitung zu dem neuen Band. Dort heißt es unter anderem: „(...) Auf diese Weise formiert sich eine Zeitcollage, die vielseitige Assoziationen weckt und in der sich die Vorbehaltlosigkeit, das Geschichtsbewusstsein, das ästhetische Empfinden und das psychologische Feingefühl des Photographenpaares vermitteln.“
Literaturangabe:
NOTHHELFER, GABRIELE & HELMUT: Momente und Jahre. Verlag Schirmer/Mosel, München 2009. 320 S., 58 €.
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