MÜNCHEN (BLK) – Im September 2009 ist posthum der Roman von Roberto Bolaño im Hanser Verlag erschienen. Es wurde von Christian Hansen aus dem Spanischen übersetzt.
Klappentext: Literatur von einem anderen Planeten: Roberto Bolaños posthum erschienener Jahrhundertroman „2666“ über die unaufgeklärte Mordserie an Frauen in Mexiko ist eine atemberaubende Reise ins finstere Herz der modernen Welt. Wir begeben uns auf die Suche nach dem Schriftsteller und ehemaligen Nazi Benno von Archimboldi der in Santa Teresa, einer Wüstenstadt an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, verschwunden ist. Ebendort wurden Hunderte von Frauen Opfer von Vergewaltigung und Mord. Wer sind die Mörder, und was hat Archimboldi mit ihnen zu tun? Das literarische Vermächtnis des aus Chile stammenden und 2003 in Barcelona verstorbenen Bolaño ist Gangster- und Bildungsroman, Science-Fiction und Reportage.
Roberto Bolaño, 1953 in Chile geboren und nach dem Militärputsch 1973 inhaftiert, ging ins Exil nach Mexiko und 1976 nach Spanien. 2003 starb er in Barcelona. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise. Bei Hanser erschienen „Die wilden Detektive“ (Roman, 2002), „Telefongespräche“ (Erzählungen, 2004), „Chilenisches Nachtstück“ (Roman, 2007) und nun 2009 ein weiteres Hauptwerk: „2666“. Dieser Roman erhielt in den USA den National Book Critics Circle Award. (wer/kum)
Leseprobe:
©Carl Hanser Verlag©
Die Tote lag auf einer kleinen Brache in der Siedlung Las Flores. Sie trug ein weißes, langärmliges Hemd und einen gelben, knielangen Rock höherer Konfektionsgröße. Spielende Kinder hatten sie gefunden und ihre Eltern benachrichtigt. Eine der Mütter verständigte die Polizei, die eine halbe Stunde später eintraf. Die Brache grenzte an die Straßen Peláez und Hermanos Chacón und reichte bis zu einem Abwassergraben, hinter dem sich die Mauern einer verlassenen und schon verfallenen Molkerei erhoben. Die Straße war menschenleer, weshalb die Polizisten zuerst dachten, jemand habe sich einen Scherz erlaubt. Dennoch parkten sie ihren Streifenwagen in der Calle Peláez, und einer der Beamten sah sich auf der Brachfläche um. Nach kurzer Zeit entdeckte er zwei Frauen, die mit verhüllten Köpfen betend zwischen den Sträuchern knieten. Von weitem sahen sie aus wie alte Frauen, aber das täuschte. Vor ihnen lag die Leiche. Ohne sie zu stören, machte der Polizist auf demselben Weg kehrt und winkte seinen Kollegen heran, der rauchend im Wagen auf ihn wartete. Dann gingen beide (der aus dem Auto mit gezückter Pistole) wieder zurück zu den Frauen, blieben neben ihnen stehen und betrachteten die Leiche. Der mit der gezückten Pistole fragte, ob sie die Tote kennen würden. Nein, Señor, sagte die eine. Wir haben sie noch nie gesehen. Die ist nicht von hier.
Das geschah 1993. Januar 1993. Seit diesem Vorfall begann man, die Frauenmorde zu zählen. Vermutlich hatte es schon vorher Morde gegeben. Die erste Tote hieß Esperanza Gómez Saldaña und war dreizehn Jahre alt. Vermutlich war sie nicht die Erste. Vielleicht aus Bequemlichkeit, weil sie das erste Mordopfer des Jahres 1993 war, führt sie die Liste an. Obwohl sicherlich bereits 1992 Frauen ermordet wurden. Frauen, die nicht auf die Liste kamen oder die nie gefunden wurden, die man anonym in der Wüste verscharrt oder deren Ascheman in tiefer Nacht verstreut hatte, wenn nicht einmal der, der sie verstreut, weiß, wo genau er sich befindet.
Die Identifizierung von Esperanza Gómez Saldaña war relativ einfach. Der Leichnam wurde zunächst in eines der drei Kommissariate von Santa Teresa gebracht, wo er von einem Untersuchungsrichter in Augenschein genommen und von Polizeibeamten begutachtet und fotografiert wurde. Wenig später, während vor dem Kommissariat ein Krankenwagen wartete, traf der Polizeichef Pedro Negrete in Begleitung zweier Adjutanten ein und untersuchte die Leiche erneut. Anschließend zog er sich mit dem Richter und drei Beamten in ein Büro zurück und fragte, zu welchen Schlussfolgerungen sie gelangt seien. Sie wurde erwürgt, sagte der Richter, das ist sonnenklar. Die Polizisten nickten schweigend. Weiß man, wer sie ist? fragte der Polizeichef. Alle schüttelten den Kopf. Gut, das kriegen wir raus, sagte Pedro Negrete und verließ zusammen mit dem Richter das Kommissariat. Einer der Adjutanten blieb da und befahl, ihm die Polizisten zu bringen, die die Tote aufgefunden hatten. Sie fahren schon wieder Streife, sagte einer. Dann bringt sie her, wenn sie zurück sind, ihr Schwachköpfe. Inzwischen wurde die Tote in die Leichenhalle des städtischen Krankenhauses gebracht und dort vom Gerichtsmediziner obduziert. Seinem Bericht zufolge war Esperanza Gómez Saldaña erwürgt worden. Sie zeigte Hämatome am Kinn und am linken Auge. Starke Hämatome an Oberschenkeln und Brustkorb. Sie war vaginal und anal vergewaltigt worden, wahrscheinlich mehrfach, da sich in Scheidengang und Darm Risse und Wunden fanden, aus denen sie stark geblutet hatte. Um zwei Uhr morgens beendete der Gerichtsmediziner die Autopsie und ging nach Hause. Ein schwarzer Krankenpfleger, vor vielen Jahren aus Veracruz in den Norden gekommen, übernahm den Leichnam und schob ihn in ein Kühlfach.
©Carl Hanser Verlag©
Literaturangabe:
BOLAÑO, ROBERTO: 2666. Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2009. 1096 S., 29,90 €.
Weblink: