Von Alexandra Balzer
STRAELEN (BLK) – Mucksmäuschenstill ist es im Atriumhaus an der Kuhstraße im niederrheinischen Straelen. „In der hellen und warmen Stille kann ich das Herzklopfen der Romanhelden spüren“, beschreibt Wuneng Yang. Der Literatur-Übersetzer aus China hat in der, wie er findet, „niedlichen Stadt“ im Kreis Kleve nahe der holländischen Grenze Unterschlupf auf Zeit gefunden. Mehr als 700 Übersetzer aus allen Teilen der Welt kommen Jahr für Jahr in das erste und auch heute noch weltweit größte Arbeitszentrum der Branche. Vor 30 Jahren gegründet, trägt das Europäische Übersetzer-Kollegium (EÜK) auch heute noch zur weltweiten Völkerverständigung bei.
In Straelen finden die Übersetzer zeitlich befristet „ein Zuhause“, sagt Yang. „Es ist ein Heim für uns meist einzelgängerische Übersetzer.“ 30 Appartements stehen auf 2500 Quadratmetern Wohnfläche für ein entspanntes Arbeiten zur Verfügung: „Optimale Arbeitsbedingungen, optimales Zimmer, Ruhe“, lobt Übersetzer Marcelo Backes. „Eine Ruhe, die ich so nie erlebt habe. Ich höre in Straelen sogar meine Augen, wenn die Lider zuschlagen“, sagt der Brasilianer.
Und zwischendurch: Küchenlatein. Denn die Gemeinschaftsküche ist auch Begegnungsstätte. „Du arbeitest viel und in einer Minute hast du ein gutes Gespräch sozusagen prompt zur Verfügung“, erzählt Backes. „Hier sind Fachkollegen aus aller Welt. Sie sprechen alle Deutsch, zwar mit mehr oder weniger Akzent, können sich gegenseitig doch bestens verstehen. Und sie stehen einander freundlich und hilfsbereit bei“, sagt Yang. „Hier fühle ich mich nicht hilflos und einsam.“
Das gläserne Dach verleiht der Bibliothek im Herzen des Gebäudes eine ganz besondere Atmosphäre. Der Geruch von alten Büchern liegt in der Luft. „Das ist die weltweit erste und größte Spezialbibliothek für Literatur- und Sachbuch-Übersetzer“, sagt Regina Peeters vom EÜK. In den Regalen reihen sich über 110.000 Bände eng aneinander. Etwa 25.000 Lexika in mehr als 275 Sprachen und Dialekten von Afrikaans bis Zulu stehen den Übersetzern zur Verfügung. Klassische Weltliteratur und ihre Übersetzungen sind dort ebenso zu finden wie Theater- und Opernführer. Alte Versandhauskataloge preisen Mode vergangener Jahre an, die heute vielleicht sogar wieder „in“ ist.
Doch manchmal liegt die Tücke buchstäblich im Detail: So bereitete Yang bei der Übersetzung des Grass-Romans „Die Blechtrommel“ ins Chinesische ein einzelnes Wort ganz heftige Brauchschmerzen: Brausepulver. Denn Brausepulver gibt es in China gar nicht und daher mangelt es auch an der notwendigen Vokabel. Literatur-Nobelpreisträger Grass fehlte bei einem Treffen mit Yang in Straelen das Verständnis: „Es muss doch in China irgendetwas geben, was prickelt“, sagte er damals.
Am 10. Januar 1978 wurde das Kollegium auf Initiative des Beckett-Übersetzers Elmar Tophoven und Klaus Birkenhauer, damals Vorsitzender des Verbandes der literarischen Übersetzer, gegründet. Unterstützung erfuhren die Gründer dabei von den Schriftstellern Heinrich Böll, Samuel Beckett und Mario Wandruszka. Finanziell wird die Arbeit des Kollegiums durch das Land NRW, die Kunststiftung NRW und weitere Gesellschaften und Stiftungen ermöglicht. Gemeinsam mit der Kunststiftung wurde im Jahr 2001 der mit 25.000 Euro dotierte „Übersetzerpreis“ ins Leben gerufen. Erfolgreiche Projekte wie der „Translator in Residence“ folgten.