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600 Männer und eine Frau

Der Roman „Snuff“ von Chuck Palahniuk

© Die Berliner Literaturkritik, 29.09.08

 

MÜNCHEN(BLK) – Der Roman „Snuff“ von Chuck Palahniuk ist im August 2008 im Manhattan Verlag erschienen.

Klappentext: ( Snuff-Film (v. engl. to snuff out = jemanden auslöschen) bezeichnet die filmische Aufzeichnung eines Mordes, der zum Zweck der Unterhaltung des Zuschauers und mit kommerzieller Absicht begangen wurde. Der Zweck des Mordes selbst ist seine Aufzeichnung.) Auf einem Filmset sind 600 Männer und eine Frau zu einem ganz besonderen Ereignis zusammengekommen: In einem Snuff-Video der Extraklasse soll die alternde Pornolegende Cassie Wright von 600 Männern genommen und so ein neuer Weltrekord im Gruppensex aufgestellt werden. Allerdings wird Cassie diesen Dreh wohl kaum überleben, und das ganze Set rätselt, warum sie ihren Tod durch eine vaginale Embolie in Kauf nimmt. Keiner ahnt, dass zwei der anwesenden Männer nicht nur zum Gang-Bang-Weltrekord, sondern auch zur Lösung dieses Rätsels beitragen werden: Mann Nr. 600, ein Pornoveteran, der immer nur Cassie liebte. Und Mann Nr. 72, ein romantischer Jüngling, der mit Rosen am Set erschienen ist. Nicht zu vergessen Sheila, das Mädchen mit der Stoppuhr, das Cassie verdächtig ähnlich sieht …

Der amerikanische Bestsellerautor Chuck Palahniuk, geboren 1962, träumte lange davon, Schriftsteller zu werden. Doch erst ein persönlicher Einschnitt in seinem Leben gab ihm schließlich den Impuls, seinen Traum zu verwirklichen. Seit seinem Überraschungserfolg „Fight Club“ genießt Palahniuk nicht nur bei zahlreichen Lesern Kultstatus, er hat sich mit seinen folgenden Romanen auch in die Riege amerikanischer Bestsellerautoren geschrieben. Chuck Palahniuk lebt in Portland, Oregon. (bah/car)

Leseprobe:

© Manhattan Verlag ©

Mr. 600

Einer stand den ganzen Nachmittag nur mit Boxershorts bekleidet am Büffet und leckte den orangen Staub von Kartoffelchips. Neben ihm löffelte einer Zwiebeldip mit einem Chip. Eine Ladung nach der anderen, immer mit demselben durchweichten Chip. Männer haben unzählig viele Arten, etwas anzupissen, auf das sie Anspruch erheben.

Das Servicepersonal hat zwei Klapptische aufgebaut, auf denen sich offene Mais-Chips-Tüten und Limodosen stapeln. Wenn einer ran muss – die Assistentin ruft die Nummern aus –, latscht der Betreffende los, den Mund noch voll Popcorn, die Finger brennend vom Knoblauchsalz und klebrig von Ahornriegeln, und absolviert sein kleines Gastspiel. Manche, die nur einmal drankommen, sind bloß hier, damit sie sagen können, dass sie dabei gewesen sind. Wir Veteranen, wir sind hier, weil wir uns mal wieder sehen lassen wollen und um Cassie einen Gefallen zu tun. Um ihr einen Schwanz mehr für ihren Weltrekord zur Verfügung zu stellen. Um bei dem historischen Ereignis dabei zu sein.

Auf dem Büffet stehen Tupperdosen mit Kondomen neben Tupperdosen mit Minibrezeln, winzigen Schokoriegeln, in Honig gerösteten Erdnüssen. Auf dem Fußboden liegen mit den Zähnen aufgerissene Verpackungen von Schokoriegeln und Kondomen. Mit denselben Händen, mit denen sie M&Ms schaufeln, fahren sie in ihre Boxershorts und kneten ihre halbsteifen Schwänze. Schokoladenfinger. Erektionen mit Grillaroma.

Erdnuss-Atem. Rootbeer-Atem. Kartoffelchips-Atem. Allesin Cassies Gesicht gekeucht.

Hektiker kratzen sich die Arme rot. Pickelheringe, die vor der Kamera ihre Jungfernschaft verlieren wollen. Der da, Mr. 72, will mit ein und demselben Schuss defloriert werden und in die Geschichtsbücher eingehen. Klapperdürre Burschen, die ihre T-Shirts anlassen, TShirts, die älter sind als manche Darsteller hier, vor Ewigkeiten zum Start von Sex with the City vertrieben. Fanclub-Shirts aus der Zeit, als Cassie der Star von Lust Horizons war. T-Shirts, älter als Mr. 72, bedruckt vor seiner Geburt.

Manche quasseln laut in ihre Handys, debattieren über Aktienoptionen und heiße Börsentipps, während sie gleichzeitig an ihren Vorhäuten herumzupfen. Die Assistentin hat ihnen allen mit Neonstift eine Zahl zwischen eins und sechshundert auf den Bizeps geschrieben. Ihre Frisuren: Monumente aus Gel und Geduld. Gebräunte Haut, in Parfümwolken gehüllt.

Der Saal vollgestellt mit Klappstühlen aus Metall. Für Atmosphäre sorgen zerfledderte Herrenmagazine.

Die Assistentin heißt Sheila, eine Braut, die mit einem Clipboard herumläuft und nach Nummer 16, Nummer 31, Nummer 211 schreit, die ihr die Treppe rauf zum Set folgen sollen.

Manche tragen Tennisschuhe. Mokassins. Flipflops. Halbschuhe zu marineblauen Wadenstrümpfen, die von altmodischen Strumpfhaltern gehalten werden. Strandlatschen, an denen noch Sand klebt, der bei jedem Schritt knirscht.

Der alte Witz. Um eine Tussi zu überreden, bei einem Porno mitzumachen: Biete ihr eine Million Dollar an. Um einen Typen zu überreden: Frag ihn einfach … Eigentlich ist das gar kein Witz. Nichts, worüber man lachen könnte.

Mal abgesehen von uns alten Hasen vielleicht, die meisten dieser Nobodys sind hier wegen der Anzeige nach dem Abspann von Adult Video News. Aufruf zum Massen-Casting. Beim Casting brauchten sie nur einen Ständer und ein ärztliches Attest vorzuweisen. Das und eine Bescheinigung, dass man achtzehn ist, weil das hier ja kein Kinderporno sein soll.

Hier stehen rasierte Brustmuskeln und epilierte Schambeine zusammen mit einer mongoloiden Softballmannschaft in der Schlange.

Asiaten, Schwarze und Latinos. Einer im Rollstuhl. Für jeden Marktbereich etwas.

Der Kleine, Nummer 72, schleppt einen Strauß weißer Rosen mit sich rum, schlapp und welk, die Blüten stellenweise schon bräunlich. Er streckt eine Hand nach vorn, auf den Handrücken hat er was mit blauem Kuli geschrieben. Er sieht das an und sagt: „Ich will gar nichts von dir, aber ich liebe dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe …“

Andere tragen Schachteln mit großen Schleifen und langen Bändern dran, die Schachteln sind so klein, dass sie in eine Hand passen, dass sie fast zwischen den Fingern verschwinden.

Die Veteranen tragen Satinbademäntel, Preisboxerroben mit Schärpe, während sie auf ihren Auftritt warten. Pornoprofis. Die Hälfte von ihnen hatte was mit Cassie, hatte mit ihr von Heirat gesprochen, dann würde sie die Lunts oder die Desi & Lucy der Erwachsenenunterhaltung.

Kein Darsteller bei dem Dreh, der Cassie Wright nicht liebte und verehrte. Jeder wollte ihr helfen, Geschichte zu machen.

Andere haben ihren Schwanz noch nie in was anderes gesteckt als in die eigene Hand, noch nie was anderes gesehen als Cassie-Videos. Für sie ist das eine Art von Kundentreue. Eine Art Ehe. Diese Typen mit ihren kleinen Geschenken, für die sind das heute die Flitterwochen. Der Vollzug.

Heute gibt Cassie Wright ihre letzte Vorstellung. Das Gegenteil einer Jungfernfahrt. Spätestens nach dem fünfzigsten Kerl wird sie da oben aussehen wie ein mit Vaseline geschmierter Bombenkrater. Fleisch und Blut, als ob etwas in ihr explodiert wäre.

Wer uns sieht, käme nie auf die Idee, dass wir Geschichte machen. Den absoluten Rekord aufstellen.

Die Assistentin tanzt an und ruft: „Meine Herren.“ Sheila schiebt sich die Brille auf der Nase hoch und sagt: „Wenn ich euch aufrufe, müsst ihr drehbereit sein.“

Damit meint sie: voll erigiert. Kondombereit.

Wie wenn man sich von hinten nach vorn abwischt, ganz in Gedanken, auf dem Klo. Und du schmierst dir die Scheiße auf die Rückseite deiner schrumpligen Sackhaut. Und dann versuchst du, sie sauber zu wischen, und die Haut dehnt sich, und es wird alles nur noch schlimmer. Die dünne Scheißeschichtgerät in die Haare, bis an die Oberschenkel. So in etwa fühlt sich das an, ein Tag wie dieser, ein Tag und sein Geheimnis.

Sechshundert Männer. Eine Pornoqueen. Ein Weltrekord für die Ewigkeit. Der Film – ein Muss für jeden anspruchsvollen Sammler von Erotika.

Keiner von uns hatte vor, ein Snuff-Movie zu machen.

© Manhattan Verlag ©

Literaturangaben:
PALAHNIUK, CHUCK: Snuff. Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Manhattan Verlag, München 2008. 208 S., 14,95 €.

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