FRANKFURT AM MAIN (BLK) – „Der weite Weg nach Hause“ ist Rose Tremains erstes Buch und wurde im September 2009 beim Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Christel Dormagen hat es aus dem Englischen übersetzt.
Klappentext: Lev ist ein Glückssucher: Aus seinem osteuropäischen Dorf ist er nach London aufgebrochen, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Stadt ist ihm fremd - der Rhythmus des Lebens, die Sprache, die Ambitionen der Menschen. In seiner Einsamkeit denkt er zurück an seine geliebte, jung verstorbene Frau Marina, an seine kleine Tochter Maya und an die verrückten Erlebnisse mit seinem besten Freund Rudi. Doch Lev ist entschlossen, sich eine Zukunft zu erkämpfen: Er entdeckt ein ungeahntes Talent, er findet Freunde und sogar eine neue Liebe, er schickt Geld nach Hause. Und als ihn von dort schlechte Nachrichten erreichen, hat er eine große, eine abenteuerliche Idee.
Rose Tremain, 1943 geboren, wuchs in London auf und studierte an der Sorbonne. Sie war Dozentin für Englisch, Lehrerin und Lektorin. Sie hat Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Rose Tremain lebt in Norfolk. (olb/ros)
Leseprobe:
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Im Bus suchte Lev sich einen Platz ganz hinten, und er lehnte sich ans Fenster und starrte hinaus auf das Land, das er verließ: auf die vom trockenen Wind verdorrten Sonnenblumenfelder, die Schweinefarmen, die Steinbrüche und Flüsse und auf den wilden Knoblauch, der grün am Straßenrand wuchs. Lev trug eine Lederjacke und Jeans und eine tief ins Gesicht gezogene Lederkappe, sein hübsches Gesicht war grau vom Rauchen, und in seinen Händen hielt er ein altes rotes Baumwolltaschentuch und ein zerdrücktes Päckchen russischer Zigaretten. Bald würde er 43 Jahre alt sein. Nach einigen Kilometern, die Sonne ging gerade auf, zog Lev eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen, und die Frau, die neben ihm saß, eine pummelige, zurückhaltende Person mit Leberflecken im Gesicht, die wie Schmutzspritzer aussahen, sagte sofort: »Entschuldigen Sie, aber in Diesem Bus ist Rauchen nicht erlaubt.« Das wusste Lev, hatte es schon im Voraus gewusst und versucht, sich seelisch auf die lange Qual vorzubereiten. Aber selbst eine unangezündete Zigarette war eine Gefährtin − etwas zum Festhalten, ein Versprechen −, und das einzige, wozu er sich jetzt bereit fand, war, zu nicken, einfach um der Frau zu zeigen, dass er sie verstanden hatte, um ihr zu signalisieren, dass er keinen Ärger machen würde; denn sie würden noch fünfzig Stunden oder länger nebeneinander sitzen müssen, mit ihren jeweiligen Schmerzen und Träumen, wie ein verheiratetes Paar. Sie würden einander schnarchen oder seufzen hören, würden riechen, was beide zu essen und zu trinken mitgenommen hatten, spüren, wie groß ihre Furcht oder ihre Unbekümmertheit war, würden kleine Unterhaltungsversuche wagen. Und später, wenn sie endlich in London angekommen wären, würden sie sich wahrscheinlich fast ohne Worte oder Blicke trennen, würden, jeder für sich, in einen regnerischen Morgen hinaustreten und ein neues Leben beginnen. Und Lev wusste, dass all dies seltsam, aber notwendig war und ihm schon etwas über die Welt verriet, in die er fuhr, eine Welt, in der er bis zum Umfallen arbeiten würde − wenn sich denn eine solche Arbeit finden ließ. Er würde sich von anderen Menschen fernhalten, würde Ecken und Winkel finden, wo er sitzen und rauchen könnte, würde zeigen, dass er keine neue Heimat brauchte, dass sein Herz in seinem eigenen Land blieb. Es gab zwei Busfahrer. Diese Männer würden sich mit Fahren und Schlafen abwechseln. Es gab eine Bordtoilette, weshalb der Bus nur zum Tanken haltmachen würde. An den Tankstellen würden die Passagiere vielleicht aussteigen, ein paar Schritte tun, Wildblumen an einem Seitenstreifen, schmutziges Papier in den Büschen, Sonne oder Regen auf der Straße betrachten. Sie würden die Arme recken, dunkle Brillen gegen den Ansturm natürlichen Lichts aufsetzen, nach einem Kleeblatt Ausschau halten, rauchen oder vorbeifahrende Autos anstarren. Dann würden sie zurück in den Bus getrieben werden, würden ihre alten Haltungen wieder einnehmen, sich wappnen gegen die nächsten paar hundert Kilometer, gegen den Gestank eines weiteren Industriegebiets oder das plötzliche Aufglänzen eines Sees, gegen Regen und Sonnenuntergang und das Nahen der Dunkelheit über stillem Sumpfland. Zwischendurch würde es Zeiten geben, in denen die Reise scheinbar kein Ende nehmen würde.
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Literaturangabe:
TREMAIN, ROSE: Der weite Weg nach Hause. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 490 S., 14,90 €.
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