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„Aber schön ist es doch!“

Tilman Jens nimmt Abschied von Vater Walter

© Die Berliner Literaturkritik, 20.02.09

 

Von Wilfried Mommert

„Ein Genie mag taub werden wie Beethoven, dem Wahnsinn verfallen wie Strindberg, den Freitod wählen wie Hemingway, Celan oder Pavese – vertrotteln aber darf das Genie nicht.“ Tilman Jens schreibt mit dieser Aussage in seinem Buch “Demenz – Abschied von meinem Vater“ (Gütersloher Verlagshaus) gegen die Tabuisierung von Demenz- und Alzheimer-Erkrankungen bei Prominenten an, denn sein Vater Walter Jens ist ein Betroffener. „Über die Demenz einer Geistesgröße lässt sich tuscheln, freimütig reden offensichtlich nicht.“

Der unbequeme Denker aus Tübingen (wo im 19. Jahrhundert der Dichter Friedrich Hölderlin 36 Jahre lang bis zu seinem Tod 1843 in geistiger Umnachtung lebte), der „Redner der Republik“ und frühere wortmächtige Berliner Akademiepräsident Walter Jens „als stammelndes Menschenkind mit dem Babyphon am Bett“. Der Sohn spart nicht mit Einzelheiten über die schwere Erkrankung seines 85-jährigen Vaters, die 2004 plötzlich einsetzte, „der Verfall eines Ichs“. Als der Vater vorübergehend in der Psychiatrie ist, bricht es aus ihm heraus: „Was habe ich denn Böses getan? Wie lange muss ich hier bleiben?“

Es ist ein erschütterndes, aber auch verstörendes Buch, das auch Fragen aufwirft: Wieso das in all diesen krassen, doch wirklich sehr intimen Einzelheiten und wieso jetzt? Wieso ein Nachruf des Sohnes auf seinen Vater zu dessen Lebzeiten, „die Chronik eines Abschieds des Sohnes vom geliebten und bewunderten Vater“, wie der Verlag betont und dabei das spannungsreiche Vater-Sohn-Verhältnis zu positiv darstellt.

Zumal das Buch nach all den detaillierten Beschreibungen des Krankheitsverlaufs mit den damit verbundenen schier kaum noch erträglichen Belastungen (einschließlich blauer Flecken) für die 82- jährige Ehefrau Inge Jens, den „Tabletten-Depots zwischen Fontanes Werkausgabe“ sowie den Klinik- und Psychiatrie-Aufenthalten mit einem kleinen Silberstreif am Horizont schließt – eine neue Haushaltshilfe lässt den kranken alten Mann wieder aufleben und mit ihr sogar Landpartien unternehmen. „Er ist gut beieinander“ heißt es im November 2008, von Sterbehilfe will keiner mehr was wissen, was jahrelang ein Thema war im Hause Jens.

Wenn das Buch eine Berechtigung hat, dann wohl die beispielhafte Beschreibung der Demenz-Erkrankung, wie sie in Deutschland inzwischen längst keine Seltenheit mehr ist – ein Leben versinkt im Dunkeln und ist doch noch nicht zu Ende. „Was ist mit all denen, die nicht das Geld für eine private Betreuung haben, sondern, abgegeben in einem Heim, das Ende der Tage erwarten“, ist ein nachdenkenswerter Gedankeneinschub des Sohnes vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und ungelöster Gesundheitsreformen in der Republik.

John Bayley hat es in seiner „Elegie für Iris“, dem Erinnerungsbuch an seine Frau, die alzheimerkranke Schriftstellerin Iris Murdoch, beschrieben. Und die lange Reise in die Nacht des Entertainers Harald Juhnke dauerte mehrere Jahre und war entsetzlich genug.

Wie für den leidenschaftlichen Clown und Spieler Harald Juhnke galt, „nicht mehr atmen zu können“, wenn ihm das Spiel genommen wird, so gilt das wohl auch jetzt für einen Geistesmenschen wie Walter Jens, der nicht mehr schreiben und kaum noch zusammenhängend sprechen kann. „Dann möchte ich tot sein...dann ist es Zeit zu sterben, ohne falsches Pathos“, erinnert sich der Sohn an ein früheres Wort seines Vaters, der 1986 schon einmal in eine tiefe Schwermut gefallen war, wie Tilman Jens vermerkt. „Dann möchte ich das mir von Gott geschenkte Leben zurückgeben...Ich will sterben – nicht gestorben werden.“ Ohne jede Frage – „so wie er nun lebt, gefüttert, gewindelt, umgeben von vergessenen Büchern – 120 Regalmeter Weltliteratur – hat er niemals leben wollen.“ Wenn sich der alte Mann in diesen Zufluchtsort der Bücher zurückzieht, sagt er „Ich geh’ dann mal nach oben“.

1996 meinte Jens im ZDF einmal: „Ich glaube nicht, dass derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, dass ich sterben darf.“ Die Angst ist groß vor einem „schleichenden Sterben“.

Aber es bleibt ein Hin- und Hergerissensein zwischen Resignation, tiefer Verzweiflung und aufbäumendem Lebenswillen mit dem plötzlichen, alle verblüffenden Satz „Aber schön ist es doch!“ Die Familie ist sich in dem Moment einig: „Das Mandat, ihm aktiv beim Sterben zu helfen, ist in dieser Sekunde erloschen.“

Einen umfangreichen Teil des schmalen Bandes widmet Tilman Jens der erst 2003 öffentlich gewordenen NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens, an die er sich auch schon vor dem Ausbruch der Krankheit nicht erinnern konnte, was ihm der Sohn schwer verübelt. Er bringt den Ausbruch der Krankheit 2004 sogar in Verbindung mit diesem späten Aktenbefund. Tilman Jens spricht auch im Hinblick anderer prominenter Betroffener von „Symptomen politischer Demenz“. Es hätte doch „so viele Möglichkeiten gegeben, von den kleinen, wenn auch drastischen Irrtümern zu erzählen.“ Am Ende bleibt im Fall Jens die Frage des Sohnes nach dem „Warum“ des so langen Schweigens eines Vaters über diese unbequeme Frage nach der Vergangenheit, die letztendlich zu einer bitteren Frage nach dem mangelnden Vertrauen seines Vaters wird, „der mein Vorbild war und dies immer bleibt“.

Literaturangaben:
JENS, TILMAN: Demenz – Abschied von meinem Vater. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009. 142 S., 17,95 €.

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