Bevor Peter Weiss am 10. Mai 1982 in Stockholm starb, erlebte er noch knapp die Veröffentlichung des dritten Bandes seiner „Ästhetik des Widerstands“. Und heute – mehr als ein Vierteljahrhundert später – lässt sich leider immer noch die Ignoranz von Literaturkritik und -wissenschaft, nicht zuletzt das ausbleibende Interesse eines durchaus möglichen Lesepublikums, konstatieren. Trotz vielfältiger Bemühungen der Witwe Gunilla Palmstierna-Weiss ist es bis heute nicht gelungen, dieses gattungs-übergreifende Werk (Malerei und Film, Literatur und Theater) in einen sowohl deutschsprachigen wie internatonalen Literatur- oder Lesekanon zu überführen. Daran werden wohl auch die zahlreichen neuen Publikationen, die in letzter Zeit den Buchmarkt erreichten, wenig ändern.
Ein soeben erschienener Sammelband erinnert in elf Beiträgen daran, dass vor 25 Jahren die „Ästhetik des Widerstands“ erschienen ist. Wolfgang Koeppen bezeichnete dieses Opus magnum nicht zu unrecht als das „erregendste, mutigste und traurigste Buch meiner Zeit“. Heute erweise sich, so die drei Herausgeber, dass die Rezeptions- und Forschungsgeschichte gezeigt habe, dass dieser Roman in vielerlei Hinsicht anschlussfähig sei – etwa in Theorie- und Problemfragen, in Diskurs- und Diskussionszusammenhängen und so weiter. In seinen Prolegomena zu einem Forschungsbericht bringt es Martin Rector auf den Punkt: „Die Ästhetik des Widerstands ist in der akademischen Literaturwissenschaft ein Gegenstand wie viele andere geworden und aus der aktuellen literarischen Diskussion so gut wie ganz verschwunden.“ Um dem entgegenzutreten, veranstaltete die Evangelische Akademie in Iserlohn eine Tagung, deren Beiträge (mit zwei Ausnahmen) in dem nun vorliegenden Buch „Diese bebende, kühne, zähe Hoffnung“ erschienen sind.
Die „Ästhetik des Widerstands“ des großen Schriftstellers Peter Weiss, die in drei Bänden 1975, 1978 und 1981 erschien, zeigt verstohlen das Selbstporträt dieses Künstlers als junger Mann. Verborgen hinter tausend Masken taucht der einundzwanzigjährige Autor bereits auf den ersten Seiten auf. Gespalten zwischen Fantasie und Traum, Fiktion und Wirklichkeit erzählt er im Rückblick auf die Jahre von 1937 bis 1945. Als der Krieg zu Ende geht, ist der Autor knapp achtundzwanzig Jahre alt und hat doch schon so viel erlebt.
Der ursprünglich als Schlussteil für die „Ästhetik des Widerstands“ gedachte Abschnitt über den Pariser Aufenthalt, der zuletzt vom Autor in den mittleren Teil montiert wird, lässt sich als eine Art Fortsetzung seiner Autobiografie lesen, die mit den beiden Büchern „Abschied von den Eltern“ (1961) und „Fluchtpunkt“ (1962) literarisch eröffnet wird. Für Peter Weiss gilt nicht das traditionelle biografische Muster, so wie dieser Autor sich auch nicht aufteilen lässt in den Erzähler und Dramatiker, in den Maler und Filmemacher. So wie er die Gattungen und Medien überspringt, entgrenzt er auch die literarischen Techniken. Vielleicht nutzt er dieses Verfahren, um autobiografische Erlebnisse besser zu verarbeiten und zugleich deren Spuren zu verwischen.
Der nicht explizit als nächster Teil seiner Autobiografie geschriebene Text über seinen Pariser Aufenthalt musste demnach dort beginnen, wo der „Fluchtpunkt“ im Frühjahr 1947 endet. Der erste Besuch von Peter Weiss in Paris im November 1950 bedeutet für ihn ein besonderes Erlebnis. Nach seinem langen Exil in Schweden (seit 1944 lebt er „für immer“ in Stockholm) lässt er sich von André Bretons Roman „Nadja“ (1928) durch die französische Metropole führen. Er streift durch die Rue des Rosiers, die Straße der Juden, und sieht in ihr das verborgene Zentrum seines ganz privaten Pariser Labyrinths. Wiederholt besucht er den Montmartre, den Berg der Märtyrer, und den Place Blanche – den „weißen Platz“. Er schildert in seiner „Ästhetik des Widerstands“, wie der Maler Géricault hier 1823 vom Pferd stürzt und sich tödlich verletzt. Zuvor besucht Weiss mehrfach den Louvre und steht staunend vor dessen monumentalem Bild „Das Floß der Medusa“ (1818/19).
Seine ursprüngliche Idee, eine Art „Pariser Journal“ zu führen, geht auf ein Lektüreerlebnis von Bertolt Brechts „Arbeitsjournal“ (erster Band 1938-1942, zweiter Band 1942 bis 1955) zurück. Dieses „Pariser Manuskript“ ist zuletzt alles andere geworden denn ein Journal. Auszüge hieraus wurden 1963 in der Zeitschrift „Merkur“ und 1964 in der Zeitschrift „Akzente“ publiziert. Nun ist der Text zum ersten Mal vollständig aus dem Schwedischen übersetzt, ediert und kommentiert von Axel Schmolke als Buch erschienen. Unter dem Titel „Füreinander sind wir Chiffren“ versammelt der Band sowohl die Prosatexte („Pariser Manuskript“ und „Pariser Typoskript“) als auch die Traumprotokolle und Traumanalysen vom 23. Oktober bis 8. November 1950.
Der Text gehört sicher nicht zu den herausragenden Produktionsergebnissen von Peter Weiss, doch ist er als eine Art Zeitpanorama durchaus lesenswert. Die vom Autor beschriebenen Personen bewegen sich getrieben von Gewalt, Geld und Gier um den Montmartre herum; auf diese Weise entsteht ein illustres Bild der zeichenhaften Orte, der literarischen Mythen und auch von Reminiszenzen an andere Städte. Die Traumprotokolle verhehlen nicht die Krisensituation, in der sich Peter Weiss in dieser Zeit befindet. In einer grotesk-surrealen Geschichte wandelt der Autor durch albtraumartige Szenarien. Und wie der Klappentext verrät, ist das Ganze ein „literarisches Bukett aus psychoanalytischen, existentialistischen und surrealistischen Strömungen“.
Axel Schmolke gebührt ein großes Kompliment für diese mustergültige Edition. Neben den Prosatexten, die mit dem beigefügten Zeilenzähler ein hervorragendes Druckbild ergeben, begründet er in seiner editorischen Notiz die Entscheidung zur Präsentation der Texte und bietet einen durchdachten Stellenkommentar mit wichtigen Hinweisen. Sein Nachwort ist klug und gut recherchiert. Zuletzt wird ein Literaturverzeichnis angeboten. Kritischer Text und edierte Beigaben stehen in einem guten Verhältnis: 92 Seiten Lesetext und 100 Seiten Anhang. Ärgerlich ist jedoch die Herstellung dieses Buches, denn schon nach kurzer Lektüre fallen dem Leser die Seiten entgegen; eine Fadenheftung – auch unter Verzicht auf das überflüssige Lesebändchen – hätte dem Buch gut getan.
Eine wichtige Lücke in der Weiss-Forschung schließt die Untersuchung von Axel Schmolke, die von der Freien Universität Berlin 2006 als Dissertation angenommen wurde und im selben Jahr auch als Buch erschien. Der Autor geht einmal mehr der Frage nach der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von Peter Weiss’ so bedeutendem Buch „Abschied von den Eltern“ nach. Das Entscheidende sei dabei, dass diese Erzählung einen, sich über knapp zehn Jahre erstreckenden, Schreibprozess abbilde und mit ihrer Fertigstellung sowohl einen Schluss- wie einen Fluchtpunkt im Werk des Autors darstelle. Bemerkenswerterweise existieren drei Fassungen dieses Textes und immer noch werde von der Forschung nur die publizierte Buchform berücksichtigt.
Nicht zuletzt sei es darum an der Zeit, eine kritische Ausgabe von „Abschied von den Eltern“ zu veröffentlichen, so Axel Schmolke. Eine ähnliche Forderung erhebt mit großem Recht Jürgen Schutte in seinem Beitrag zu dem oben genannten Sammelband, wenn er für eine kritische Ausgabe der „Ästhetik des Widerstands“ plädiert und akribisch begründet, warum dies notwendig ist. Vielleicht wäre es gar an der Zeit, eine (historisch-)kritische Ausgabe der Werke (insgesamt) von Peter Weiss zu realisieren.
Schmolke unterstützt zugleich die These, dass dieser Text – wie wohl kein zweiter – biografisch bedeutsam sei für das Werk von Weiss. Darum stellt er in seinem Buch dessen Notizbücher und seine Erzählung „Rekonvaleszenz“ neben den hier behandelten Text. Abschließend analysiert er den Text, sortiert die Varianten und stellt sie in eben den biografischen Kontext, denn die Erinnerungsarbeit des Ichs in „Abschied von den Eltern“ habe die Funktion befreiender Selbsterkenntnis, so Schmolke.
Er berücksichtigt in seiner philologischen Meisterleistung sämtliche Textfassungen, Auszüge und Entwürfe und Notizen – so auch die Pariser Aufzeichnungen. In einer vergleichenden Strukturanalyse zeigt er, dass Peter Weiss bereits hier eine Art innere Entwicklungsgeschichte zwischen Evolution und Revolution anlegt. Dadurch ergibt sich ein Zusammenspiel aus biografischen Situationsmomenten und innerliterarischen Fiktionalisierungsverfahren. Grundlegend neue Quellen und bislang unbekannte Zusammenhänge lassen diesen frühen Text in einem neuen Licht erscheinen. So ist der „Abschied von den Eltern“ stärker als Impuls für die „Ästhetik des Widerstands“ anzusehen als bislang geschehen.
Eine Meisterleistung ist die kürzlich erschienene erste Peter-Weiss-Biografie nicht, denn allzu brav recherchiert der Autor Jens-Fietje Dwars Leben und Werk von Peter Weiss und gibt in seinem Buch „Und dennoch Hoffnung“ einen chronologischen Überblick. Auch berücksichtigt er lange Zeit unbekannt gebliebene Texte und weist auf Textentstehungen und Textentstellungen hin. Allerdings lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass er sich in seinem sekundären Blick auf das Weiss’sche Werk zu sehr von der Internationalen Peter Weiss-Gesellschaft (IPWG) inspirieren lässt und darum wenig selbstständig agiert.
Bereits im vergangenen Jahr erschien der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Peter Weiss in einer Edition von Rainer Gerlach. Mit Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruckpapier und Leineneinband ausgestattet, ist diese Veröffentlichung, die im Rahmen der zahlreichen Unseld-Editionen erscheint, absolut repräsentabel. 746 Briefe, Karten, Telegramme und Eilbriefe, die Peter Weiss zwischen 1948 und 1982 an den Suhrkamp Verlag schickte, werden hier vorgestellt. Die Gegenbriefe respektive Antworten der Verleger Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld umfassen insgesamt 537 Schriftstücke. Damit umfasst die Gesamtedition knapp 1.300 Schriftstücke, abgedruckt in diesem 1.150 Seiten umfassenden Buch. Enthalten sind selbstredend auch die Dokumente mit den Mitarbeitern des Verlages.
Die von Rainer Gerlach vorgelegte Edition geht zurück auf dessen Dissertation „Siegfried Unseld und Peter Weiss. Der Briefwechsel. Mit einem Essay: Die Bedeutung des Suhrkamp Verlages für das Werk von Peter Weiss“, die er 2003 der Freien Universität vorlegte. Während Suhrkamp den edierten Briefwechsel veröffentlicht, publizierte bereits zwei Jahre zuvor der Röhrig Verlag den Kommentar hierzu. Und dieses Buch „Die Bedeutung des Suhrkamp Verlages für das Werk von Peter Weiss“ liest sich spannend wie ein Krimi. Nicht zuletzt deshalb, weil der Suhrkamp Verlag und dessen zweiter Verleger Siegfried Unseld das Werk von Peter Weiss durch stürmische Zeiten hindurch begleitet und geprägt haben. Viel Neues und Unbekanntes tritt hier zutage.
Von Michael Fisch
Literaturangaben:
BEISE, ARND u. a. (Hrsg.): Diese bebende, zähe, kühne Hoffnung. 25 Jahre Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. St. Ingbert, Röhrig Universitätsverlag 2008. 245 S., 28 €.
DWARS, JENS-FIETJE: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Berlin, Aufbau Verlag 2007. 302 S., 24,95 €.
GERLACH, RAINER: Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss. St. Ingbert, Röhrig Universitätsverlag 2005. 398 S., 34 €.
SCHMOLKE, AXEL: Das fortwährende Wirken von einer Situation zur anderen. Strukturwandel und biographische Lesarten in den Varianten von Peter Weiss’ „Abschied von den Eltern“. St. Ingbert, Röhrig Universitätsverlag 2006. 780 S., 58 €.
UNSELD, SIEGFRIED/WEISS, PETER: Der Briefwechsel. Hrsg. von Rainer Gerlach. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2007. 1150 S., 39,80 €.
WEISS, PETER: Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte. Göttingen, Wallstein Verlag 2006. 206 S., 24 €.
WEISS, PETER: Füreinander sind wir Chiffren. Das Pariser Manuskript von Peter Weiss. Hrsg., übers. u. komm. von Axel Schmolke. Berlin, Rotbuch Verlag 2008. 192 S., 19,90 €.
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