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„Accabadora“ - Geleit ins Jenseits

Michela Murgias Romandebüt über eine alte sardische „Dienstleistung“

© Die Berliner Literaturkritik, 22.07.10

Von Roland H. Wiegenstein

Sardinien ist nicht Italien – es gehört nur dazu: eine Insel, deren Küsten längst von den Reichen (und den Touristen) okkupiert worden sind, deren Inneres jedoch noch weithin unbekanntes Land ist. Von hieraus schaffen es gelegentlich beunruhigende Notizen auf die letzten Seiten der Zeitungen. Sie berichten von Entführungen, von Überfällen und von einem Volk, das seine eigene Sprache spricht, die kein Italiener verstehen kann. Seine Menschen leben nach ihrer eigenen Moral: „In Soreni wurde das Wort ‚Justiz’ auf eine Stufe gestellt mit den schlimmsten Verwünschungen, und es wurde nur ausgesprochen, um blinde Verfolgung gegen irgendjemand heraufzubeschwören… Sie stöberte einen überall auf, wo man sich auch versteckte, und vergaß nie jemandes Namen oder den seiner Kinder. Aber all das hatte nichts damit zu tun, dass es Dinge gibt, die man tut, und andere, die man nicht tut.“

Nur wenige Sätze benötigt die sardische Schriftstellerin Michela Murgia (geboren 1972)  in ihrem ersten Roman „Accabadora“, um genau dies Anderssein ihrer Landsleute zu beschreiben. Derer, die in Dörfern und kleinen Städten des Hinterlandes leben, wo noch die alten Bräuche herrschen - oder vielmehr herrschten. Das Buch spielt in den fünfziger Jahren, als das Archaische mit seiner eigenen Moral, die es verbietet, einige Dinge zu tun und andere nicht, genügte, um die kleinen Gemeinschaften zusammenzuhalten.

Die Leute in Murgias Roman sind arm, sie ernähren sich mühsam von der Landwirtschaft: Oliven, Zitronen, Wein. Die Felder, sorgfältig durch Trockenmauern voneinander getrennt, sind durch Erbteilungen immer kleiner geworden. Es gilt als Verbrechen, diese so sorgfältig errichteten Mauern zu versetzen. 

Solch ein Verbrechen ist der Auslöser der finalen Entwicklung der vorliegenden Geschichte. Nicola Bastiu versucht eines Nachts eine solche Mauer, die sein Feld von dem des reichen Nachbarn trennt, und der diese Mauer zu seinen Gunsten verschoben hatte, wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Er wird dabei erwischt und ins Bein geschossen. Es muss amputiert werden. Doch diese Geschichte, die natürlich ohne „Justiz“ erledigt wird, geht erst am Ende des Buches weiter.

Das Buch handelt in erster Linie von Maria, dem jüngsten Kind der Familie Listriu. Seine Mutter, unfähig, noch mehr Mäuler zu stopfen, gibt es als fille d’anima an die Witwe Tzia Bonaria weiter: bei ihr, von der niemand weiß, wie alt sie ist, (sie gilt schon als bejahrt, denn ihr Mann soll im Ersten Weltkrieg gefallen sein), soll Maria es besser haben, als zu Hause. Dort erscheint sie nur, um in der Familie zu helfen. Bonaria ist Schneiderin, arbeitet gelegentlich auch als Hebamme – alle in Soreni mögen sie. Sie bringt Maria ihr Handwerk bei und das Mädchen nimmt sie als zweite Mutter an. Aber es ist etwas Geheimnisvolles um die alte Frau, manchmal verlässt sie nachts das Haus und kehrt erst früh am Morgen zurück. Bonaria ist eine „Accabadora“, eine weise Frau, die Kinder ins Leben holt und, wenn es nötig ist, auch ein drängendes Problem löst, das alle treffen kann. Sie ist eine Heilerin, die alten und kranken Menschen, die im Koma liegen oder  ihre Schmerzen nicht mehr aushalten können, zu einem ruhigen, gnädigen Tod verhilft. Es gehört zu den „Dingen, die man tut“ – auch wenn der alte Pfarrer sie verurteilt. Aber die Bedingungen sind streng: es braucht das Einverständnis der ganzen Familie und wenn die nur jemand loswerden will, weil sie auf eine Erbschaft hofft, dann sagt Bonaria nein, denn das „tut man nicht“!

Maria wird dieses „Berufs“ der Pflegemutter lange nicht gewahr. Sie erfährt davon erst spät, als ihr Freund Andrí ihr erzählt, dass Bonaria auch seinem Bruder Nicola, dem Krüppel, „geholfen“ hat. Nach langen, erbitterten Gesprächen zwischen Bonaria und Maria, die Murgia in einem eindrucksvollen Lakonismus erzählt – wenn es ernst ist, reden die Leute nicht viel in Soreni -, verlässt Maria einen Tag später enttäuscht und voller Zorn Bonaria und geht als Dienstmädchen aufs Festland nach Turin. Sie kehrt erst zurück, als man ihr schreibt, Bonaria sei sehr krank, vermutlich auf den Tod. Sie pflegt die Alte hingebungsvoll, aber erst Andrís beiläufige  Bemerkung, Bonaria habe recht getan, den Bruder Nicola zu „befreien“, versöhnt Maria sich mit dieser. Und sie stürzt in Verzweiflung angesichts des schreienden Leidens der Alten. Soll Maria auch zur „Accabadora“ werden? Vielleicht.

„Andrí betrachtete sie schweigend, dann fragte er leise: „Was wirst du jetzt tun?“

„Das, was ich kann, Kleider nähen.“

„Heißt das, du bleibst hier?“

„Bin ich denn je weggewesen, Andrí“?

fragte sie und drehte sich zu ihm um. In ihrem feinen Profil erkannte er die Vollendung von etwas, das ihm vertraut war, und er lächelte. Zusammen, wie sie gekommen waren, gingen sie Seite an Seite nach Hause zurück und scherten sich nicht darum, den Klatschmäulern von Soreni eine weitere Gelegenheit zu geben, über nichts zu reden.“

So endet das Buch. Murgias knapper Stil, die diskrete Art, in der sie von etwas schreibt, das hierzulande wohl „aktive Sterbehilfe“ hieße, die unerbittliche Weise, Grenzen zu ziehen, das was man tut, klar von dem zu trennen, was man nicht tut – ganz ohne Justiz, aber im Bewusstsein von dem, was die Tradition erlaubt und was nicht, und welchen Sinn und welche Würde diese Tradition hat, all das macht ihr Buch zu einem Meisterwerk.

Keine „Folklore“, vielmehr die Darstellung einer Moral und eines Daseins, das viele Generationen lang verpflichtend war, das zwischen Geburt und Tod Regeln bereit hielt, nach denen Leben sich abspielten. Dass es damit zu Ende geht, das ist die Trauer dieser Autorin, eine verhaltene Trauer, gewachsen aus Neugier und Einsicht. Vermutlich war Tzia Bonaria doch die letzte „Accabadora“. Die Zeiten haben sich geändert. Fünfzig Jahre später ist diese bäuerliche Kultur mit ihren Ritualen fast am Ende, hat die Justiz das Sagen. Bedauern darf man das.

Literaturangabe:

MURGIA, MICHELA: Accabadora. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Klaus Wagenbach Verlag , Berlin 2010. 175 S., 17,90 €.

Weblink:

Wagenbach Verlag


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