MÜNCHEN (BLK) — Im März 2009 ist bei Page & Turner Robert Wilsons Kriminalroman „Andalusisches Requiem“ erschienen.
Klappentext: Während Inspektor Javier Falcón versucht, die genauen Hintergründe eines blutigen terroristischen Anschlags in Sevilla aufzuklären, dem viele unschuldige Menschen zum Opfer fielen, wird er zu einem tödlichen Autounfall gerufen. Im Wagen des Toten befinden sich 7,8 Millionen € und mehrere DVDs, auf denen hochrangige Männer aus Wirtschaft und Politik beim Sex mit Prostituierten zu sehen sind. Falcón findet schnell heraus, dass es sich bei dem Toten um Vasili Lukyanov handelt, einen russischen Mafioso, der im Begriff war, innerhalb der Mafia die Seiten zu wechseln und zum Paten Yuri Donstov überzulaufen. Diesem werden enge Verbindungen zur sogenannten katholischen Verschwörung nachgesagt, die Falcón als Drahtzieher hinter dem Attentat vermutet. Er hat schon länger den Verdacht, dass fundamentalistische Christen den Anschlag inszeniert haben, um ihn islamistischen Kräften anzulasten und so die rechtskonservative Partei Fuerza Andalucía zu stärken. Als Falcón aber erfährt, dass einige seiner marokkanischen Verwandten in die Angelegenheit verwickelt sind, droht ihm der Fall zu entgleiten. Und sein Chef, Comisario Elvira, denkt laut über Falcóns Suspendierung nach.
Robert Wilson, 1957 in England geboren, studierte an der Universität von Oxford. Zusammen mit seiner Frau lebt er abwechselnd in England, Spanien und Portugal. Spätestens seit dem Roman „Tod in Lissabon“, für den er den Gold Dagger Award und den Deutschen Krimi-Preis erhielt, wird er als „einer der besten Thrillerautoren der Welt“ („The New York Times“) gefeiert. (köh/mül)
Leseprobe:
©Page & Turner©
Sevilla — Donnerstag, 14. September 2006, 19.30 Uhr
Der eiskalte Wodka rann durch Wasili Lukjanovs Kehle, während der Verkehr auf der neuen Autobahn von Algeciras nach Jerez de la Frontera an dem Parkplatz vorbeidonnerte. In der Hitze hatten sich sofort Schweißperlen in seinem dunklen Haar gebildet, als er neben dem offenen Kofferraum des Range Rover Sport stand. Er wartete auf die einbrechende Dunkelheit, weil er das letzte Stück bis Sevilla nicht bei Tageslicht fahren wollte. Er trank, rauchte, aß und dachte an die vergangene Nacht mit Rita. Die Erinnerung an ihren unglaublichen Mund erregte ihn sofort wieder. Mein Gott, sie wusste, wie sie es ihm zu besorgen hatte. Es tat ihm leid, sie zurückzulassen. Sie war perfekt abgerichtet. Das Blut pulsierte heftig durch seine Halsschlagader, als er zu dem schwarzen Samsonite-Koffer blickte, der aufrecht neben der offenen Kühlbox mit den Champagner- und Wodka-Flaschen stand. Er nahm einen weiteren Bissen von seinem Bocadillo, riss den Schinken genussvoll mit den Zähnen ab und schwenkte seinen eiskalten Wodka. Eine weitere sinnliche Impression der vergangenen Nacht mit Rita blitzte vor seinen Augen auf. Ihre celloartige Taille, die karamellfarbene Haut, weich wie ein Sahnebonbon unter seinen knetenden Fingern. Ein Krümel des Brötchens rutschte ihm in die Luftröhre. Er schnappte nach Luft, seine Augen traten hervor, bis er zuletzt würgend hustete. Ein zerkauter Klumpen Schinken und Brot segelte über das Dach des Range Rover. Ganz sachte, dachte er. Jetzt bloß nicht auf einem Autobahnparkplatz neben vorbeidonnernden LKWs ersticken, wo seine ganze Zukunft doch vor ihm lag.
Pepe Navajas hatte gerade die Stahlstangen, die zwanzig Säcke Zement und die Holzbretter für den Bau der verstärkten Betonsäulen verladen, die er neben dem Klempnerwerkzeug, der Sanitärkeramik und den Wand- und Bodenfliesen gestapelt hatte. Er würde für seine Tochter und seinen Schwiegersohn einen Anbau errichten, weil sie gerade Zwillinge bekommen hatten und in ihrem kleinen Haus in Sanlúcar de Barrameda mehr Platz brauchten. Außerdem hatten sie kein Geld. Also hatte Pepe das gesamte Material so billig wie möglich gekauft und erledigte, weil sein Schwiegersohn handwerklich völlig unbegabt war, an Wochenenden auch die Arbeiten selber. Pepe parkte den schwer beladenen Laster vor einem Restaurant in Dos Hermanas, ein paar Kilometer vor dem Anfang der neuen Autobahn nach Jerez de la Frontera. Er hatte ein oder zwei Bier mit den Jungs vom Baumarkt getrunken. Jetzt wollte er früh zu Abend essen und auf die Dämmerung warten, weil er sich vormachte, dass die Guardia Civil zwischen Dämmerung und Dunkelheit weniger aufmerksam war und erst später mit ihren Fahrzeugkontrollen begann, wenn wahrscheinlich mehr Leute betrunken am Steuer saßen.
Kurz nach 23 Uhr schaltete Wasili zum ersten Mal an diesem Tag sein Handy an. Er hatte der Versuchung widerstanden, bis er die Mautstelle auf dem letzten Stück Autobahn nach Sevilla passiert hatte, weil er wusste, was kam. Es war schon eine Weile her, seit er zum letzten Mal einen ganzen Tag für sich verbracht hatte, und er platzte förmlich vor Mitteilungsbedürfnis. Der erste Anruf ging nur Sekunden später ein und kam wie erwartet von seinem alten Waffenbruder Alexej. „Bist du allein, Wasja?“, fragte Alexej. „Ja“, sagte Wasili mit vom Wodka schwerer Zunge. „Ich will dich nicht beunruhigen“, sagte Alexej. „Sonst fährst du noch in den Graben.“ „Rufst du an, um mich zu beunruhigen?“, fragte Wasili. „Wie wär’s damit?“, erwiderte Alexej. „Leonid ist aus Moskau zurück.“ Schweigen. „Hast du mich gehört, Wasja? Ich breche nicht zusammen oder irgendwas. Aber Leonid Revnik ist in Marbella.“ „Er sollte doch erst nächste Woche wieder hier sein.“ „Er ist früher zurückgekommen.“ Wasili öffnete das Fenster einen Spalt und schnupperte die warme Abendluft. Es war stockfinster, flache Felder zu beiden Seiten der Straße, in der Ferne nur Rücklichter, kein Gegenverkehr. „Was hatte Leonid denn zu sagen?“, fragte er. „Er wollte wissen, wo du bist. Ich hab ihm gesagt, du wärst im Club, aber von da kamen sie gerade“, berichtete Alexej. „Sie haben dein Büro verschlossen und Kostja bewusstlos auf dem Boden gefunden.“ „Bist du im Augenblick allein?“, fragte Wasili argwöhnisch. „Leonid weiß schon, dass du zu Juri Donstov übergelaufen bist.“ „Und was soll dann der Anruf? Eine Warnung?“ „Ich wollte mich selbst vergewissern, dass Leonid nicht lügt.“ Schweigen. „Etwas aus deinem Büro fehlt“, sagte Alexej. „Das hat er mir auch erzählt.“ Wasili schloss das Fenster wieder und seufzte. „Es tut mir leid, Aljoscha.“ „Rita hat schwer Prügel für dich bezogen. Ich habe sie nicht gesehen, aber Leonid hatte das Tier bei sich — du weißt schon, der Typ, mit dem nicht mal die moldawischen Mädchen mitgehen.“ Wasili schlug fünf Mal auf das Lenkrad. Die Hupe plärrte laut in die Nacht. „Ganz ruhig, Wasja.“ „Es tut mir leid, Aljoscha, verdammt leid. Was kann ich sonst noch sagen?“ „Na, das ist immerhin etwas.“ „So sollte es nicht ablaufen. Leonid sollte erst nächste Woche zurückkommen. Ich wollte mit Juri reden und seine Erlaubnis einholen, dich mit an Bord zu holen. Du solltest dabei sein. Das weißt du doch. Ich musste bloß …“ „Das ist ja gerade der Punkt, Wasja. Ich wusste es nicht.“ „Ich konnte es dir nicht erzählen. Du bist zu dicht dran, Aljoscha“, sagte Wasili. „Juri hat mir ein Angebot gemacht, das Leonid mir in einer Million Jahren nicht gemacht hätte.“ „Aber ohne mich. Du wolltest nicht, dass ich dir den Rücken freihalte … aber das ist jetzt auch scheißegal“, fügte Alexej noch hinzu und schwieg dann. „Was war das, Wasja?“ „Nichts.“ „Ich hab es gehört. Du heulst.“ Schweigen. „Na Scheiße, schönen Dank auch“, sagte Alexej. „Wenigstens bist du verdammt noch mal traurig, Wasja.“
Pepe war ein wenig später als geplant und mit ein paar mehr Drinks intus als beabsichtigt wieder auf der Straße, alles bloß wegen dem Fußball: Der FC Sevilla hatte ein UEFA-Cup-Spiel in Athen gewonnen, und er hatte sich von der Euphorie nach dem Spiel anstecken lassen und sein Abendessen mit Wein und einem Weinbrand zum Abschluss genossen. Jetzt hatte er das Autoradio voll aufgedreht und sang laut mit, als sein Lieblingsflamencosänger El Camarón de la Isla aus den Boxen dröhnte. Was für eine Stimme. Sie machte ihn wehmütig. Vielleicht fuhr er ein wenig zu schnell, aber es herrschte kaum Verkehr, und die Spuren der Autobahn wirkten so breit und hell erleuchtet wie die Rollbahn eines Flughafens. Die Musik übertönte das Geklapper der Stahlstangen. Er war glücklich, hüpfte auf seinem gefederten Sitz auf und ab und freute sich, seine Tochter und die Babys wiederzusehen. Seine Wangen waren tränenfeucht.
Und genau in diesem Augenblick, auf dem Gipfel seiner Glückseligkeit, platzte ein Reifen. Das Geräusch war so laut, dass es die Fahrerkabine durchdrang. Ein gedämpftes Rumpeln wie von fernem Geschützfeuer, gefolgt von dem eigentlichen Riss, mit dem sich der Reifen von der Felge löste und um den Radkranz schlug. Pepes Magen sackte mit dem Wagen, der nach links ausscherte. In einer Pause der Musik hörte er, wie Reifenfetzen gegen die Seite des Lasters schlugen und blankes Metall auf dem Asphalt kreischte. Der Strahl seiner Scheinwerfer, der stetig zwischen den Spuren ausgerichtet gewesen war, schlingerte über den weißen Streifen, und obwohl sich alles zu verlangsamen schien, sodass seinen weit aufgerissenen Augen kein Detail entging, sagte ihm sein Instinkt, dass er bedrohlich schnell in einem Fahrerhäuschen mit sehr schwerer Last auf der Ladefläche unterwegs war. Ein Gefühl der Angst bohrte sich in seine Eingeweide, doch mit dem Alkohol im Blut war er gerade noch geistesgegenwärtig genug, das Lenkrad zu packen, das eigene Kräfte entwickelte. El Camarón fing gerade wieder an zu singen, als Pepes Laster in die Leitplanke des Mittelstreifens krachte. Erst mit diesem abrupten Stopp wurde ihm das volle Ausmaß seiner Geschwindigkeit bewusst, als er durch die Windschutzscheibe in die warme Abendluft katapultiert wurde. Über der klagenden Stimme von El Camarón hörte er das letzte Geräusch, das sein verwirrter Verstand noch zu verarbeiten in der Lage war: Stahlträger, die sich gelöst hatten und wie eine Batterie Speere in einen Tunnel herannahenden Lichts geschleudert wurden.
Wasili weinte, weil er gerade das außergewöhnliche menschliche Geschenk erlebt hatte, ein ganzes Leben in einem einzigen emotionalen Augenblick zu komprimieren. In sechs Jahren Dienst in Afghanistan hatte Alexej ihm sieben Mal die Haut gerettet. Und nachdem er jahrelang alle Kämpfe gegen die Paschtunen überlebt hatte, würde Alexej jetzt in einem Waldstück an der Costa del Sol von seinen eigenen Leuten mit einem Schuss in den Hinterkopf erledigt werden, nur weil er Wasili Lukjanovs beschissener bester Freund war.
„Sag Leonid …“, setzte er an, als er irgendetwas Blitzendes wahrnahm, das auf ihn zusauste, eine eigenartige Unruhe in der Luft. „Was zum Henker …?“ Die Stahlstangen schossen mit erwartungsvoll zitternden Enden wie von seinem Scheitelpunkt angezogen in den Lichtkegel. Und schlugen mit explosiver Wucht ein. Reifen schmierten Gummispuren auf die dunkle Straße und stießen auf ein unsichtbares Hindernis. Der Range Rover hob in die unergründliche Dunkelheit der jenseits liegenden Felder ab. Einen Moment lang war es ganz still. „Wasja?“
EINS
Falcóns Haus, Calle Bailén, Sevilla — Freitag, 15. September 2006, 3.00 Uhr
Das Telefon vibrierte unter dem Atem der brutal heißen Nacht. „Diga“, sagte Falcón, der mit einer der zahllosen Ermittlungsakten über den Bombenanschlag vom 6. Juni in Sevilla auf den Knien im Bett saß. „Sie sind wach, Javier“, stellte sein Chef, Comisario Elvira, fest. „Um diese Nachtzeit habe ich meine besten Ideen“, erwiderte Falcón. „Ich dachte, die meisten Menschen in unserem Alter sorgen sich nur über ihre Schulden und den Tod.“ „Ich habe keine Schulden … jedenfalls keine finanziellen.“ „Jemand hat mich gerade geweckt, um über den Tod zu sprechen … über einen Tod“, sagte Elvira. „Und warum hat man Sie und nicht mich angerufen?“ „Kurz vor 23.35 Uhr, als der Vorfall gemeldet wurde, hat sich auf der Autobahn von Jerez nach Sevilla bei Kilometer 38 auf der Spur in nördlicher Richtung ein Autounfall ereignet. Genauer gesagt, in beiden Richtungen, aber die Toten hat es in nördlicher Richtung gegeben. Man hat mir berichtet, dass es sehr übel aussieht, und ich möchte, dass Sie dorthin fahren.“ „Irgendetwas, was die Guardia Civil nicht regeln kann?“, fragte Falcón und blickte auf seine Uhr. „Die haben sich ja Zeit gelassen.“ „Die Sache ist kompliziert. Zunächst ging man davon aus, dass nur ein Fahrzeug in den Unfall verwickelt war, ein Laster, der in die Begrenzung auf dem Mittelstreifen gerast ist und seine Ladung verloren hat. Erst später hat man unterhalb von ein paar Kiefern am Rand einer Böschung auf der anderen Seite der Autobahn ein zweites Fahrzeug entdeckt.“ „Nach wie vor kein Grund, die Mordkommission einzuschalten.“ „Der Fahrer des in nördlicher Richtung fahrenden PKW wurde als Wasili Lukjanov identifiziert, russischer Staatsbürger. Bei der Durchsuchung seines Kofferraums hat man einen aufgerissenen Koffer mit einem Haufen Geld gefunden … einem Riesenhaufen Geld. Meines Wissens sprechen wir von mehreren Millionen Euro. Deshalb will ich, dass das Fahrzeug komplett kriminaltechnisch untersucht wird, und obwohl es offensichtlich ein Unfall war, möchte ich, dass du in dem Fall ermittelst, als würde es sich um einen Mord handeln. Möglicherweise gibt es Verbindungen zu anderen Ermittlungen im Land. Und vor allem will ich, dass das Geld vollständig gezählt und sichergestellt wird. Ich schicke einen Sicherheitstransporter, sobald ich irgendjemanden geweckt kriege.“
„Also haben wir es mit einem Mitglied der Russenmafia zu tun“, stellte Falcón fest. »So ist es. Ich habe bereits mit der Koordinationsstelle Organisierte Kriminalität gesprochen, die diesen Verdacht bestätigt hat. Spezialgebiet: Prostitution. Schwerpunkt der Aktivitäten: die Costa del Sol. Ich habe auch schon Kontakt mit Inspector Jefe Casado aufgenommen — erinnern Sie sich an ihn? Der Typ von der GRECO, der dortigen Spezialeinheit zur Bekämpfung des Organisierten Verbrechens?“ „Er hat im Juli eine Präsentation zur Einrichtung einer GRECO-Einheit in Sevilla zur Bekämpfung der hiesigen Mafia-Aktivitäten gehalten“, sagte Falcón. „Und nichts ist passiert.“ „Es hat eine Verzögerung gegeben.“ „Und warum kann er sich nicht darum kümmern?“ „Das ist ja der Grund der Verzögerung, er ist in Marbella und leitet dort ungefähr zwanzig Ermittlungen gleichzeitig“, sagte Elvira. „Außerdem hat er auch noch gar nicht angefangen, sich in die Situation in Sevilla einzuarbeiten.“ „Er weiß auf jeden Fall mehr als wir und hat zudem Zugriff auf nachrichtendienstliche Informationen über Lukjanovs Aktivitäten an der Costa del Sol.“ „Deswegen schickt er uns ja auch einen seiner Leute, Vicente Cortés, der wiederum jemanden von der CICO, der Koordinationsstelle Organisierte Kriminalität, mitbringt.“ „Na, ich bin eh wach, dann kann ich auch hinfahren“, sagte Falcón und legte auf.
Die Rasur war der allmorgendliche Prozess, in dem er sich der Anklage seines stoppeligen Gesichts stellen musste. Dieselbe alte Geschichte mit ein paar neuen Falten, wo sich seine Zweifel und Ängste eingraviert hatten. Jeder hatte ihm erklärt, dass niemand die vollständige Aufklärung des Bombenanschlags in Sevilla von ihm erwartete. Das wusste er auch selbst. Er hatte andere Inspector Jefes gesehen, die ihre hässliche Arbeit in der Welt der Gewalt verrichteten und sie dann im Büro lassen konnten. Aber das gelang ihm nicht, nicht dieses Mal. Er strich mit der Hand über sein kurz geschorenes Haar. Die lebensumwälzenden Ereignisse der vergangenen fünf Jahre hatten aus dem melierten ein stählernes Grau gemacht, das er im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen nicht färbte. Das Licht und die nicht ganz verblasste Sonnenbräune ließen seine braunen Augen bernsteinfarben schimmern. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als er mit dem Rasierer Schneisen durch den Rasierschaum zog. Gekleidet in ein dunkelblaues Poloshirt und Chinos verließ er das Schlafzimmer, stützte sich auf das Geländer der Galerie und beugte sich vor. Er blickte in den Innenhof des riesigen Hauses aus dem 18. Jahrhundert, das er von seinem entehrten Vater, dem Maler Francisco Falcón, geerbt hatte. Nur die Umrisse der Säulen und Bogen waren im gelblichen Licht einer einzelnen Lampe auszumachen, das auch die Bronzeskulptur des Jungen schimmern ließ, der barfuß über den Brunnen hüpfte, und bis in die Nischen hinter den Säulen auf der anderen Seite der Kolonnade fiel, wo noch immer eine längst zur vertrockneten Hülse verwelkte Pflanze stand. Er nahm sich zum hundertsten Mal vor, sie wegzuwerfen. Er hatte seine Haushälterin Encarnación schon vor Monaten darum gebeten, aber sie pflegte sonderbare Anhänglichkeiten: zu ihren tragbaren Jungfrauen, Kreuzwegstationen und dieser elenden Pflanze.
Toast mit Olivenöl, ein kleiner starker Espresso. Als er in den Wagen stieg, hatte das Koffein seine Reaktionen schon geschärft. Er fuhr durch die stickige, unruhige Stadt, die noch vom Tumult des Tages zu keuchen schien, der Asphalt aufgerissen, Pflastersteine auf den Bürgersteigen gestapelt, die Straßen wie umgepflügt, um ihr Innenleben zu entblößen, daneben Baumaschinen in Lauerstellung, bereit, jederzeit wieder loszulegen. Praktisch jede Straße war bis in alle Ewigkeit mit Bändern, Zäunen oder Pollern abgesperrt. Die Luft roch nach römischem Staub, der aus unterirdischen Ruinen aufgewirbelt worden war. Wie konnte irgendjemand bei dem Baulärm zur Ruhe kommen? Aber natürlich hatte alles einen Zweck. Und der hatte nichts mit den Bombenanschlägen von vor ein paar Monaten, sondern vielmehr mit den Anfang 2007 anstehenden Bürgermeisterwahlen zu tun. Die Bevölkerung sollte die Torturen der Wohltätigkeit spüren, die der Amtsinhaber über ihr ausschüttete. Um diese Zeit, vier Stunden vor Sonnenaufgang, hatte Javier das Zentrum von Sevilla schnell hinter sich gelassen und den Fluss überquert. Er nahm den Umgehungsring und fuhr eine knappe Viertelstunde später auf der Autobahn nach Jerez de la Frontera. Kurz darauf sah er auch schon die Lichter: die OPSaal-artige Beleuchtung der Halogenlampen, das ungesunde Blau, das irritierende Rot, das langsam rotierende kränkliche Gelb. Er hielt auf dem Standstreifen hinter einem großen Abschleppwagen. Leuchtwesten schwebten scheinbar körperlos durch die Dunkelheit. Es herrschte kaum Verkehr. Falcón überquerte die Autobahn. Der Lärm eines Generators für die Lampen, die die Szenerie grell beleuchteten, übertönte alles. Er sah drei grün-weiße Jeeps der Guardia Civil, zwei Motorräder, einen roten Feuerwehrwagen, einen neongrünen Krankenwagen, einen weiteren kleineren LKW, Halogenlampen auf Stangen, überall Kabel und eine Spur von Scherben der zerborstenen Windschutzscheibe des Lasters, die wie glitzernde Edelsteine auf den Standstreifen gerieselt waren.
Die Feuerwehrleute waren mit ihren Schneidegeräten einsatzbereit, warteten jedoch auf die Ankunft der Gesetzeshüter. Nach Falcón trafen weitere Wagen ein und parkten auf der anderen Seite. Er stellte sich vor, genau wie nach ihm der zuständige Ermittlungsrichter, Jorge und Felipe von der Spurensicherung und der Médico Forense. Der Beamte der Guardia Civil schilderte den von ihnen rekonstruierten Ablauf des Unfalls. „Der Range Rover fuhr auf der Überholspur von Jerez nach Sevilla mit einer geschätzten Geschwindigkeit von 140 Stundenkilometern. Der Laster war auf der rechten Spur von Sevilla nach Jerez unterwegs, als sein linker Vorderreifen platzte. Der Laster geriet ins Schleudern, scherte auf die Überholspur aus und raste mit circa 110 Stundenkilometern in die Schutzplanke auf dem Mittelstreifen. Durch den Aufprall wurde der Fahrer durch die Windschutzscheibe geschleudert, die Ladung aus Stahlstangen, Holzbrettern und Metallrohren löste sich und flog auf die Überholspur der Gegenfahrbahn. Der Fahrer des LKW wurde über die Fahrbahn geschleudert und landete an der Schutzplanke des gegenüberliegenden Standstreifens. Dreißig Meter hinter der Stelle, wo der Laster die Begrenzung des Mittelstreifens durchbrochen hatte, wurde der Range Rover von zwei Stahlstangen getroffen. Die erste schlug durch die Windschutzscheibe und durchbohrte die Brust des Fahrers, den Vordersitz, die Rückbank und den Boden des Fahrzeugs, wobei sie den Tank nur um Millimeter verfehlte. Die zweite Stange drang durch das Heckfenster und bohrte sich in den Kofferraum. Dabei wurde wahrscheinlich auch der Koffer mit dem Geld aufgerissen. Der Fahrer des Range Rover war auf der Stelle tot, das Fahrzeug außer Kontrolle. Der Wagen ist wahrscheinlich auf einen Teil der verlorenen Ladung des Lasters geprallt und abgehoben, über die Leitplanke geschossen, durch eine Gruppe Kiefern gebrochen und in den Feldern am Fuß der Böschung gelandet.“ „Wenn die Stahlstange den Fahrer mit der kombinierten Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern getroffen hat“, bemerkte der Médico Forense, „würde es mich überraschen, wenn noch etwas von ihm übrig ist.“ „Was von ihm übrig ist, ist kein schöner Anblick“, entgegnete der Beamte der Guardia Civil. „Ich sehe ihn mir mal an“, sagte der Gerichtsmediziner, „dann können Sie anfangen, ihn herauszuschneiden.“
Felipe und Jorge schlossen eine erste Inspektion des Unfallorts ab und machten Fotos. Danach gesellten sie sich wieder zu Falcón, während der Gerichtsmediziner seine Arbeit erledigte. „Was zum Teufel machen wir hier?“, fragte Felipe und gähnte breiter als ein Hund. „Es ist kein Mord.“ „Er ist Russe, und wir haben sehr viel Geld gefunden“, erklärte Falcón. „Alle Indizien, die wir sicherstellen, könnten für zukünftige Ermittlungen von Nutzen sein. Fingerabdrücke auf dem Geld oder dem Koffer, ein Handy, ein Adressbuch, vielleicht finden wir sogar einen Laptop …“ „Auf der Rückbank liegt ein Aktenkoffer, der von den Stahlstangen nicht getroffen wurde“, sagte der Beamte der Guardia Civil. „Und auf dem Beifahrersitz steht eine Kühlbox. Beides haben wir noch nicht geöffnet.“ „Ein Beweis mehr, dass wir in Sevilla eine Sondereinheit zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität brauchen“, sagte Jorge. „Für den Augenblick liegt die Ermittlung in unseren Händen. Sie schicken jemanden von der GRECO Costa del Sol und einen Nachrichtenoffizier von der CICO“, erklärte Falcón. „Schauen wir uns das Geld mal an. Elvira hat mich unterwegs angerufen und gesagt, er habe einen Prosegur-Transporter losgeschickt.“
Der Beamte der Guardia Civil öffnete den Kofferraum, um den sich unvermittelt alle drängten. „Joder“, sagte einer der Motorradpolizisten. Das sichtbare Geld bestand aus benutzten 100-€- und 50-€-Scheinen, die nach ihrem Nennwert zu Päckchen gebündelt waren. Einige der Päckchen waren durch den Aufprall der Stahlstange aufgeplatzt, aber um das Fahrzeug lagen keine losen Scheine. „Wir brauchen ein bisschen Platz“, sagte Falcón. „Und zieht euch Handschuhe an. Nur die Kriminaltechniker und ich berühren das Geld. Jorge, hol ein paar Mülltüten, für jede Sorte Schein eine.“ Beobachtet von gierigen Augen zählten sie die Geldbündel. Weiter unten in dem Koffer befanden sich mehrere Schichten mit 200-€-Scheinen, auf seinem Boden zwei Lagen 500-€-Scheine. Jorge holte zwei weitere Mülltüten. Falcón überschlug die Summe. „Ohne die losen Scheine sind es sieben Millionen sechshundertfünfzigtausend €.“ „Das ist garantiert Drogengeld“, vermutete der Beamte der Guardia Civil. „Wahrscheinlich eher Menschenhandel und Prostitution“, sagte Falcón und rief Elvira an.
Während er noch Bericht erstattete, hielt der Prosegur-Transporter hinter dem letzten Nissan-Jeep. Falcón legte auf. Felipe hatte die Säcke mit den Geldbündeln zu kompakten schwarzen Bündeln zusammengeklebt und versah jetzt jeden Müllbeutel mit einem weißen Klebeetikett. Sie verstauten die vier Packen in dem Kofferraum des Transporters, der mit zwei Schlüsseln abgeschlossen wurde, von denen einer gegen Unterschrift an Falcón ausgehändigt wurde. Nachdem das Geld abtransportiert war, entspannte sich die Stimmung am Unfallort.
Falcón nahm die Kühlbox heraus und öffnete sie. Krug-Champagner und mehrere Flaschen Stolichnaya zwischen schmelzenden Eisblöcken. „Ich nehme an, acht Millionen € sind Anlass genug für eine kleine Feier“, sagte der Beamte der Guardia Civil. „Mit diesem Koffer hätten wir alle in Pension gehen können.“ Während die Mannschaft eines Feuerwehrwagens begann, die Stahlstangen aus dem Wagen zu winden, machte sich die Mannschaft des zweiten daran, zunächst durch das Seitenfenster den Airbag aufzuschneiden und dann mit Gasschweißbrennern den Türrahmen in Angriff zu nehmen. Wasili Lukjanovs Leiche wurde in mehreren Teilen aus dem Wagen geborgen und in einen offenen Leichensack auf einer Trage gelegt. Seine Arme und Schultern sowie sein Kopf waren intakt, genau wie Beine, Hüften und Unterleib. Der Rest war verdampft. Tiefe rote Furchen zeichneten das Gesicht, wo das Glas der Windschutzscheibe die Haut zerfetzt hatte. Sein linkes Auge war geplatzt, ein Teil seiner Kopfhaut fehlte, und sein rechtes Ohr war ein verstümmelter Lappen aus Knorpel. Seine teilweise weggerissenen Lippen waren zu einem grausamen Grinsen verzogen, einige Zähne aus dem Zahnfleisch gerissen. Sein Schoß war dunkel von seinem eigenen Blut. Seine Schuhe waren brandneu, die Sohlen noch kaum angekratzt.
Ein junger Feuerwehrmann übergab sich in die Oleanderbüsche am Straßenrand. Notärzte verstauten Lukjanov in dem Leichensack und zogen den Reißverschluss zu. „Die arme Sau“, sagte Felipe und steckte den Koffer in einen Plastiksack. „Acht Millionen im Kofferraum, und dann wird man von einer herumfliegenden Stahlstange aufgespießt.“ „Da ist es noch wahrscheinlicher, dass man im Lotto gewinnt„, meinte Jorge, musterte das Zahlenschloss des Aktenkoffers, versuchte vergeblich, ihn zu öffnen, und nahm ihn dann ebenfalls zu den Beweismitteln. „Er hätte sich ein Los kaufen und zu Hause bleiben sollen.“ „Da haben wir’s doch“, sagte Felipe, der gerade das Handschuhfach geöffnet hatte. „Eine Neun-Millimeter-Glock plus Ersatzmagazin für unseren freundlichen russischen Genossen.“ Er ging die Wagen- und Versicherungspapiere durch, während Jorge einen Packen Mautquittungen durchblätterte. „Und etwas, um den Tag aufzuhellen“, sagte Jorge und schwenkte ein Plastiktütchen mit weißem Pulver, das zwischen den Quittungen herausgefallen war. „Da kleben noch Blut und Haare dran.“ „Er hat ein Navigationssystem.“ „Hat irgendjemand die Autoschlüssel?“, fragte Felipe über die Schulter. Der Beamte der Guardia Civil gab ihm den Schlüssel, und sie starteten die Elektrik des Wagens. Felipe spielte mit dem GPSGerät herum. „Er kam aus Estepona und wollte in die Calle Garlopa in Sevilla Este.“ „Das engt den Bereich auf ein paar tausend Wohnungen ein“, sagte Falcón. „Wenigstens war als Ziel nicht Rathaus, Plaza Nueva, Sevilla eingegeben“, meinte Jorge. Alle lachten und verstummten gleich wieder, als läge der Gedanke vielleicht gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Nach einer weiteren Stunde hatten sie den Wagen vollständig durchsucht. Die Tüten mit den gesicherten Beweismitteln in der Hand überquerten sie die Autobahn, luden sie in ihren Transporter und fuhren davon. Falcón beaufsichtigte noch die Verladung des Range Rover auf den Abschleppwagen.
©Page & Turner©
Literaturangaben: WILSON, ROBERT: Andalusisches Requiem. Aus dem Englischen von Kristian Lutze. Page & Turner, München 2009. 480 S., 19,95 €.
Weblink: