Die gesamte Avantgarde zwischen zwei Buchdeckeln, von A wie Absolute Dichtung bis Z wie Zufall: Dieses kleine Nachschlage-Wunder ist jetzt bei Metzler erschienen. Das von Hubert van den Berg und Walter Fähnders herausgegebene Lexikon bietet eine Gesamtübersicht über die künstlerische Avantgarde bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit Schwerpunkten auf Europa und Amerika. Rund achtzig Autoren aus mehr als einem Dutzend Ländern waren an diesem internationalen Gemeinschaftswerk beteiligt. Mit dem erfreulichen Nebeneffekt, dass das Lexikon auch den Stand und die Vernetzung der internationalen Avantgarde-Forschung repräsentiert.
Das Lexikon bietet Einträge zu vier Bereichen: 1. Zu einzelnen Avantgarde-Bewegungen und Ismen wie Kubismus, Expressionismus, Dada und Pop-Art. 2. Zu einzelnen Kunstgattungen wie Literatur, Film, Malerei, Fotografie, Tanz und Theater. 3. Zu Kernbegriffen der Avantgarde wie Collage/Montage, Konzeptkunst, Fluxus, Happening und Gesamtkunstwerk. 4. Zu einzelnen Ländern, Regionen und Sprachen, wobei deutlich wird, dass die Avantgarde kein Privileg der großen Länder und Metropolen war, sondern auch von den Randregionen wichtige Impulse ausgingen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem die Einträge zu osteuropäischen Staaten wie Polen und Kroatien sowie zur Arabischen und Jiddischen Avantgarde, die von der Forschung bis heute mit Zurückhaltung behandelt werden. Die Einträge sind durch Verweise miteinander verknüpft, die jedoch der besseren Lesbarkeit wegen nur sparsam eingesetzt werden.
Das Lexikon verfügt außerdem über eine instruktive Einleitung, in der Grundlagen der Begriffsgeschichte, künstlerische Grundzüge der Avantgarde sowie nationale, historische und politische Hintergründe der Avantgarde-Bewegungen skizziert werden. Die Herausgeber betonen, dass die Avantgarde ein schwer zu überblickendes Geflecht von Strömungen, Gruppen, Zeitschriften, Einzelkünstlern, Verlegern und Galeristen bildete. So unterschiedlich und widersprüchlich die künstlerischen Ausdrucksformen auch gewesen sein mögen, allen Protagonisten war doch der Anspruch zueigen, das Gesicht der Kunst zu verändern und eine radikale Neupositionierung der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen. Interessant ist, dass viele Künstler und Künstlergruppen erst im späten 20. Jahrhundert das Label „Avantgarde“ zur Charakterisierung der eigenen Position verwendet haben; kein Kubist, kein Expressionist, kein Dadaist wäre auf die Idee gekommen, sich selbst als „Avantgardist“ zu bezeichnen – zu stark war ihr prophetisches Sendungsbewusstsein, sich unter dem eigenen, unverwechselbaren Signum zu präsentieren.
Der Avantgarde-Begriff entstammt dem militärischen Sprachgebrauch. Im „Brockhaus“ von 1886 findet man folgende Definition: „Avantgarde ist Vorhut, Vortrab, der Teil eines Heeres, welcher vor dem Gros der Armee marschiert, Hindernisse beseitigt, im Falle eines Angriffs aber den Feind so lange aufhält, bis die nachfolgende Kolonne gefechtsbereit ist (Avantgardengefecht).“ Im späten 19. Jahrhundert erhielt der Begriff – zunächst in Frankreich, dann in Italien, Russland und Deutschland – auch eine künstlerische und kulturelle Bedeutung, die dem militärischen Original nur beschränkt entsprach. Wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Kunst und die Literatur von Avantgarde sprach, der meinte vor allem: neue Kunst, junge Literatur. Wobei der Künstler in der Rolle des radikalen Vorkämpfers gesehen wurde, der einer kommenden künstlerischen Ästhetik zum Durchbruch verhilft. Abhängig vom Standpunkt des Künstlers, rückten dabei auch Genres in den Fokus, die aus heutiger Sicht mit dem Avantgarde-Begriff nur schwer in Einklang zu bringen sind: So sah der kommunistische Dichter Johannes R. Becher in der Reportage – also z. B. im Reportage-Roman, -Gedicht und -Theaterstück – die wichtigste Avantgarde, sprich: den Vorstoß einer neuen Dichtung, in deren Windschatten sich eine neue, anti-bürgerliche Weltanschauung formieren sollte.
Hubert van den Berg und Walter Fähnders haben ein kompaktes und blendend formuliertes Avantgarde-Lexikon herausgegeben, das sich wohl in kürzester Zeit zu einem unentbehrlichen Standardwerk entwickeln wird. Vom Aufbruch der modernen Kunst und Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Postmoderne – das Lexikon gibt in rund 220 Artikeln einen umfassenden Überblick über die klassische Avantgarde und die neueren Avantgarde-Bewegungen. Hubert van den Berg ist promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für kulturwissenschaftliche Forschung an der Universität Groningen. Walter Fähnders ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Osnabrück.
Literaturangabe:
BERG, HUBERT VAN DEN / FÄHNDERS, WALTER: Metzler Lexikon Avantgarde. Metzler Verlag, Stuttgart 2009. 404 S., 59,95 €.
Weblink: