Von Friedemann Kohler
MOSKAU (BLK) - Der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn war eine der herausragenden Figuren des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer setzte er die Macht des literarischen Wortes gegen die sowjetische Tyrannei. „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt“, fasste der Autor des „Archipel Gulag“ seine tief religiös geprägte Überzeugung 1974 in der verspäteten Nobelpreisrede zusammen. In den vergangenen Monaten trat er nicht mehr in der Öffentlichkeit auf, meldete sich gelegentlich in Zeitungsinterviews zu Wort. In der Nacht zum Montag (4. August 2008) starb Solschenizyn im Alter von 89 Jahren, vermutlich an den Folgen eines Hirnschlags, wie die Agentur Interfax meldete.
Solschenizyns Lebensweg führte ihn von Stalins Straflagern zum Weltruhm als Schriftsteller, in ein 20-jähriges Exil und schließlich zurück in eine veränderte Heimat. Dort wurde es zuletzt einsam um den Prediger eines „Heiligen Russlands“. Solschenizyn, der „Geschichte gemacht hat wie vielleicht kein anderer Schriftsteller und Künstler vor ihm“ (Gerd Koenen), war zuletzt im Reinen mit der neuen politischen Führung und Entwicklung in Russland.
Geboren wurde der „wohl bedeutendste Prosaiker der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ (Wolfgang Kasack) am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk im Nordkaukasus. Solschenizyn studierte Mathematik und Physik und zog als Hauptmann der Roten Armee in den Zweiten Weltkrieg. 1945 brachten Briefe mit abfälligen Bemerkungen über den sowjetischen Diktator Josef Stalin ihn für neun Jahre in die Mühlen von Straflager und Verbannung.
Den Alltag eines Lagerhäftlings, einfach, ohne Anklage, aber unwiderlegbar wahr, schildert Solschenizyn in seinem Debüt. Die Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ macht den Autor 1962 weltbekannt. Es ist der Höhepunkt des literarischen „Tauwetters“ unter Parteichef Nikita Chruschtschow. Doch die Romane „Im ersten Kreis“ und „Krebsstation“ können nur im Westen erscheinen. 1970 wird Solschenizyn der Nobelpreis zuerkannt „für die ethische Kraft, mit der er die unveräußerliche Tradition der russischen Literatur weitergeführt hat“. Moskau lässt ihn jedoch nicht zur Preisverleihung reisen.
1973 fällt Häschern des Geheimdienstes KGB ein Teilmanuskript von Solschenizyns Hauptwerk in die Hände, an dem er jahrelang konspirativ gearbeitet hatte. Der „Archipel Gulag“ muss in aller Eile im Westen veröffentlicht werden. In der monumentalen Dokumentation über Stalins Terror und das brutale Lagersystem gibt Solschenizyn den Opfern eine Stimme. Er erkennt in dem millionenfachen Leiden eine tiefe Wahrheit: „Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz“, schreibt er.
Der „Archipel Gulag“ erschüttert die Sowjetunion, im Westen wenden sich viele wohlmeinende Linke von Moskau ab. 1974 verhaftet die sowjetische Führung Solschenizyn und weist ihn aus. Ein „Symbol der Freiheit in der Welt“ nennt Heinrich Böll den Freund und nimmt ihn in Köln auf. Der Weg des Exils führt über die Schweiz und Norwegen in die USA.
In der Stille des Bundesstaates Vermont, dessen Wälder den russischen ähneln, widmet sich Solschenizyn seinem zweiten Hauptwerk. Das „Rote Rad“ soll in 20 Bänden den Untergang Russlands in der Revolution erzählen, doch das strenge philosophische Korsett schnürt nach Meinung vieler Kritiker ein lebendiges Erzählen ab. Nur die Bände „August 1914“, „November 1916“ und „März 1917“ erscheinen.
Auch mit Solschenizyns konservativen Warnungen vor einem Abfall von Religion und Moral kann der Westen wenig anfangen. Drei Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, zu dem er selber so viel beigetragen hat, kehrt der Autor 1994 in die Heimat zurück. Auf einer 55-tägigen Zugreise von Wladiwostok nach Moskau lernt er das veränderte Land kennen. In mehreren Schriften, zuletzt „Russland im Absturz“ 1998, verurteilt er die fehlgeleiteten Reformen, die Verarmung, den Mangel an Demokratie. Doch sein eigenes Ideal eines Russlands, das auf dem orthodoxen Glauben und Gemeinsinn gründet, predigt er wie ein alttestamentarischer Prophet vergebens.
Mit dem letzten Werk „Zweihundert Jahre gemeinsam“, einer Dokumentation über das Zusammenleben von Russen und Juden, versuchte Solschenizyn, beiden Gruppen ihren Teil der „Schuld“ an der russischen Revolution zuzumessen. Dies führte zwangsläufig zu Missverständnissen und zum Vorwurf des Antisemitismus, so dass Kritiker ihm rieten, nicht „seine unvergängliche historische Leistung als Autor des ‚Archipel Gulag’ zu verdunkeln“ (Gerd Koenen).
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