Es gab mal eine Zeit, da war der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch auf der Höhe der Zeit. Noch mehr als das: Er setzte Trends im Literaturbetrieb. Das fing 1999 an, als die Kölner es wagten, in ihrem Frühjahrsprogramm mit einem Spitzentitel anzutreten, der bis dato das jüngste Debüt darstellte, was in der deutschen Verlagsgeschichte in großer Auflage gedruckt worden war. Die Rede ist von Benjamin Lebert und seinem Roman „Crazy“. Der bekam noch vor Erscheinen wahnsinnige Vorschußlorbeeren von Kulturredakteuren.
Der 16-jährige Lebert wurde erst abgeschirmt, dann auf einen Lesemarathon geschickt, die Startauflage von 30.000 Exemplaren musste bald aufgestockt werden, andere Verlage versuchten sich – neidisch ob der Verkaufszahlen und der Imagebildung rund um „Crazy“ – ebenfalls in der Talentsuche innerhalb der jugendlichen Autorengeneration, und die crossmediale Werbemaschinerie brummte wie nie. Ganze Generationenbegriffe wurden im halbjährlichen Wechsel immer passend vor Leipziger oder Frankfurter Buchmesse geprägt. Mit dem letzten, dem etwas dümmlichen „Fräuleinwunder“ (womit die anspruchsvollere Belletristik junger Autorinnen nach Judith Hermann gemeint war), ebbte der Entdeckerwettbewerb der Verlage wieder ab – und die horrenden Honorarvorschüsse, die den Autoren vorübergehend gezahlt wurden und so ihren Teil zum plötzlichen Entstehen einer hippen, literarischen Glamourwelt beitrugen.
Dem Anfang dieses Phänomens wohnt aber noch ein ganz anderer Zauber inne. Der Erfolg von Lebert resultiert auch aus der persönlichen Geschichte des Autors und den autobiografischen Bezügen des Buches. Denn wie sein Protagonist ist Lebert halbseitig gelähmt und ging mit diesem scheinbaren Makel sehr drastisch öffentlich um. Zugleich ist Lebert jüngster Spross einer Münchner Journalistenfamilie, gegen die es sich abzugrenzen galt. Alles Faktoren, die Kritiker und Publikum gleichermaßen entzücken ließen: „Nouveau Réalisme“ in Deutschland!
Diesen Erfolg will Kiepenheuer & Witsch nun fast zehn Jahre danach mit seinem Spitzentitel im Herbstprogramm 2008/09 wiederholen. Alina Bronsky und ihr Debüt „Scherbenpark“ verkörpern dazu die perfekte, nötige Mischung aus Fiktion und Biografie, aus Exotik und Nähe. Wie bei Lebert könnte man bei Bronsky von einem Wunderkind reden, das, 1978 in Jekaterinburg in Russland geboren, als Jugendliche nach Deutschland kam, in Marburg und Darmstadt aufwuchs, nach einem abgebrochenen Medizinstudium ein journalistisches Volontariat machte, als Redakteurin und Werbetexterin arbeitete. Dann schreibt sie nebenbei ein Buch, schickt das Manuskript per Mail einfach so an einen Verlag und wird aus dem Nichts veröffentlicht, dazu noch als Spitzentitel. Und nicht nur das: Kein Geringerer als der Literaturkritiker der „Süddeutschen Zeitung“ Ijoma Mangold, der dem Debüt eine „pointensichere Milieuvertrautheit“ zuschreibt und der Überzeugung ist, so eine Form der Literatur hätte es vorher in Deutschland noch nicht gegeben, schlägt Bronsky für den Bachmannpreis vor, dem wichtigsten Literaturwettbewerb im deutschsprachigen Raum.
Soweit der Teil der Mythenbildung um die Person Alina Bronsky. Und der Inhalt des Buches? Wie bei Lebert ergeben sich auch da Parallelen zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Wie Bronsky ist auch die Ich-Erzählerin Sascha hochintelligent und kommt in jungen Jahren von Russland nach Deutschland, um ihr Glück zu machen. Obwohl erst 17, trägt sie eine ganze Ladung Verantwortung auf den Schultern, denn nachdem der Ex-Mann ihrer Mutter eben diese und ihren neuen Lebensgefährten vor den Augen der drei Kinder umbrachte, versucht Sascha den Geschwistern eine Mutter zu sein und den Alltag im Hochhausghetto so gut wie möglich zu organisieren, damit sie nicht ins Heim kommen. Dazu wird sogar die integrationsresistente Cousine des Mörders aus Russland geholt, um für die Kinder zu sorgen, obwohl sie kaum ein Wort Deutsch spricht. Doch in Sascha brodelt es: Sie will ein Buch über ihre Mutter schreiben und ihr damit ein Denkmal setzen, und sie will Vadim, den verhassten Stiefvater, töten, um den Doppelmord zu rächen. Durch ihr Schicksal schließt sie nähere Bekanntschaft mit dem Redakteur Volker und seinem Sohn Felix und entdeckt eine gepflegtere Welt, die ihr mehr zusagt. Dennoch nutzt sie die Welt des Wohnsilos mit seinen Kleinkriminellen und schroffen Typen genauso, um im Leben voran zu kommen.
Klar, dass es da kein Happy End gibt, aber Sascha im Laufe der Seiten ein Coming of Age durchlebt, das vielleicht symbolisch für eine neue Einwanderergeneration in Deutschland stehen kann. Das alles wird einigermaßen witzig und manchmal altklug aus Saschas Perspektive erzählt: schon wieder Neorealismus. De facto plätschert das alles aber stellenweise etwas zu belanglos dahin und ist all das eigentlich viel interessanter, was Bronsky nicht erzählt und was selbst zwischen den Zeilen nur angedeutet wird, weil die Entwicklung der Handlung als auch der Figuren sehr absehbar sind. All die Sozialproblematik, die einem durch den Klappentext versprochen wird, offenbart sich nicht. Nichts wird wirklich tragisch im Empfinden des Lesers. Tragisch ist, dass die Sprache diese Tragik nicht transportiert. Vieles ist sogar unrealistisch bzw. verknappt und wird so eher Klischees und Stereotypen gerecht. So gibt es kaum einen Lokalressortleiter einer Tageszeitung, der nicht vor Ort wohnen muss und so viel Freizeit hat wie Volker im Buch. Es ist sogar eher ärgerlich, wenn ausgerechnet die (über 30-jährige!) Volontärin unsensibel über Sascha schreibt und später herauskommt, dass sie vermutlich eh nur an eine große Reportage gekommen ist, weil sie mit Volker geschlafen hat. Dann muss es bitte nicht auch noch sein, dass Sascha sich ebenfalls in Volker verguckt und aus lauter Sehnsucht und Abenteuerwillen statt mit ihm mit einem blonden Nazi schläft. Aber vielleicht ist das auch einfach schlecht lektoriert. Auch ein anderer Titel wäre dem Inhalt gerechter geworden, denn der Wohnsilo, um den es geht, heißt „Solitär“; der „Scherbenpark“ spielt eine weniger große Rolle und ist eine Lichtung in einem angrenzenden Waldstück.
Man gönnt Alina Bronsky den Erfolg und wünscht ihr, dass sie nicht so vom Betrieb zerrieben wird wie die noch Jüngeren zehn Jahre vor ihr. Denn aus ihrer Sicht ist das trotz allem nach wie vor eine interessante Geschichte. „Spiegel Online“ liebt das Buch bereits. „NEON“ wird es lieben und ihm eine große Geschichte widmen. „Scherbenpark“ ist ein Buch, das nicht seine Autorin in einen Generationenbegriff presst, sondern einer Lesergeneration darin gerecht wird: der „Generation jetzt.de“ zwischen Erwachsenwerden und dem nächsten Latte Macchiato bei „Starbucks“. Und auch solch verkaufsstrategische Passgenauigkeit für den Markt ist nichts Neues mehr im Literaturbetrieb. Welch mutlose Entscheidung für ein traditionelles, großes Verlagshaus.
Von Kerstin Fritzsche
Literaturangaben:
BRONSKY, ALINA: Scherbenpark. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 286 S., 16,95 €.
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