FRANKFURT/MAIN (BLK) – Im Juni 2010 ist beim S. Fischer Taschenbuch Verlag „Alles Glück kommt nie“ erschienen, der neue Roman von Anna Gavalda.
Klappentext: „Unterhaltungsliteratur vom Feinsten, gute Geschichte blendend erzählt, besser geht’s nicht!“ Elke Heidenreich / Charles Balanda, Ende Vierzig, ist ein erfolgreicher Architekt und glücklich mit seinem Leben. Bis er einen Brief bekommt, in dem nur drei Worte stehen: „Anouk ist tot.“ Von da an ist nichts mehr, wie es war. Denn Anouk ist seine große Liebe gewesen, bis...? Was damals geschah, lässt Charles nicht mehr los. Er begibt sich auf Spurensuche und merkt, dass er sich eigentlich nach einem ganz anderen Leben sehnt. Ein wunderbares Feuerwerk an witzigen Dialogen und unvergesslichen Szenen. Ein Buch über das große Glück, die Schatten der Vergangenheit und über die ganz, ganz große Liebe.
Anna Gavalda, 1970 geboren, ist auf dem Land aufgewachsen, hat in Paris Literatur studiert und wurde mit ihrem ersten Erzählband „Zusammen ist man weniger allein“ auf einen Schlag berühmt. Sie lebt mit ihren zwei Kindern bei Paris. (ton)
Leseprobe:
©S. Fischer Verlag©
Während er den Inhalt der Gießkanne leerte, fügte sie hinzu: „Irgendwann, an einem Tag – keine Ahnung – großer Verzweiflung, nehme ich an“, sie lachte, „hatte ich die schwachsinnige Idee, mit den Kindern in eine dieser Ferienanlagen zu fahren, die man Center Parcs nennt, kennen Sie die?“
„Dem Namen nach.“
„Ich glaube, es war die schlechteste Idee meines Lebens. Diese Naturkinder in eine Käseglocke zu sperren. Sie waren unausstehlich. Um ein Haar hätten sie ein anderes Kind ertränkt. Okay, heute lachen wir darüber, aber damals – bei dem Preis –, vergessen wir’s. Ich wollte eigentlich vor allem erzählen, dass Samuel am ersten Abend, nachdem er sich die – die ganze Anlage angeschaut hatte, feierlich verkündete: Da werden unsere Hühner aber besser behandelt. Die darauffolgende Woche haben sie vorm Fernseher verbracht. Von morgens bis abends. Echte Zombies. Ich habe sie gelassen. Schließlich ist das für sie der Inbegriff von exotisch.“
„Haben Sie keinen Fernseher?“
„Nein.“
„Aber Internet?“
„Ja. Ich kann ihnen ja nicht die ganze Welt vorenthalten.“
„Und wird es viel genutzt?“
„Vor allem von Yacine. Für seine Recherchen“, lächelte sie.
„Ein ungewöhnliches Kerlchen –„
„Das können Sie laut sagen.“
„Sagen Sie, Kate, ist das –„
„Später. Vorsicht, gleich läuft’s über. Okay, die Eier lassen wir hier, die darf Nedra einsammeln, das macht sie gern.“
„Apropos Nedra -“
Sie unterbrach ihn: „Trinken Sie gern einen edlen Whisky?“
„Äh, ja.“
„Dann vertagen wir das Ganze auf später.“
„Hier ist die ehemalige Backstube. Die als Hundehütte dient. Vorsicht, der Geruch ist unerträglich. Hier ist ein Verschlag, hier der Stall, den wir in eine Fahrradgarage umgewandelt haben. Dort der Vorratskeller. Schauen Sie nicht so genau hin. Das ist Renés ehemalige Werkstatt.“
Charles hatte so etwas noch nie gesehen. Wie viele Jahrhunderte waren hier wohl versammelt? Wie viele Müllcontainer, wie viele Arme und wie viele Wochen würde man brauchen, um das alles zu entsorgen?
„Haben Sie das Werkzeug gesehen?“, stieß er hervor, „das ist ja wie im Museum für Moderne Kunst, irre.“
„Finden Sie?“, sie schnitt eine Grimasse.
„Die Kinder haben zwar keinen Fernseher, aber sie langweilen sich bestimmt keine Sekunde.“
„Keine, leider.“
„Und das hier? Was ist das?“
„Das ist das berühmte Motorrad, an dem René seit – seit dem Krieg, nehme ich an, herumbastelt.“
„Und das?“
„Keine Ahnung.“
„Unglaublich.“
„Warten Sie nur. Wir haben noch mehr auf Lager.“
Sie traten wieder ins Helle.
„Hier die Kaninchenställe. Leer. Ich habe schließlich meine Grenzen. Hier eine erste Scheune für das Heu, das heißt der Heuboden. Dort das Stroh. Was schauen Sie so?“
„Der Dachstuhl. Das haut mich um. Sie können sich nicht vorstellen, was für theoretische Kenntnisse man haben muss, um so etwas zu bauen. Nein“, fuhr er verträumt fort, „das können Sie sich nicht vorstellen. Selbst ich, der ich vom Fach bin, ich … Wie haben sie das gemacht? Das ist mir ein absolutes Rätsel. Wenn ich mal alt bin, nehme ich Unterricht als Zimmermann.«
„Vorsicht, die Katze.“
2Noch eine! Wie viele haben Sie denn?“
„Och! Die Fluktuation ist groß. Ständig sterben welche, und andere kommen nach. Schuld ist vor allem der Fluss. Die Idioten verschlucken Köder mitsamt Angelhaken, was sie nicht überleben.“
„Wie ist das für die Kinder?“
„Für sie ist es ein Drama. Bis zum nächsten Wurf.“
Stille.
„Wie machen Sie das nur?“
„Ich mache nichts, Charles, ich mache nichts. Aber hin und wieder gebe ich der Tochter des Tierarztes Nachhilfe in Englisch als Gegenleistung für ein paar Behandlungen.“
„Nein, ich meine alles übrige.“
„Ich bin wie die Kinder: Ich warte auf den nächsten Wurf. Das hat das Leben mir beigebracht. Hübsch einen Tag“, sie schob den Riegel vor, „nach dem anderen. Das reicht völlig.“
„Schließen Sie die Katzen ein?“
„Aber Katzen gehen doch nicht durch Türen.“
Sie gingen weiter und sahen – Quasimodos Wunderhof. Fünf Promenadenmischungen, die eine zerbeulter als die andere, warteten auf ihr Fressen.
„So, ihr Monster. Jetzt seid ihr dran.“ Sie kehrte zur Vorratskammer zurück und füllte ihre Näpfe.
„Der da vorne.“
„Ja?“
„Hat der nur drei Beine?“
„Ihm fehlt auch ein Auge. Darum haben wir ihn Nelson genannt.“
Sie sah die Verwirrung ihres Gastes und fügte erklärend hinzu: „Admiral Lord Nelson. Battle of Trafalgar. Sagt Ihnen das was?“
„Hier ist der Holzschuppen. Dort eine weitere Scheune. Mit dem früheren Heuboden. Für das Getreide. Nichts Besonderes. Ein einziges Chaos. Ein richtiges Museum, wie Sie sagen. Hier eine, die noch etwas baufälliger ist. Aber wunderschöne Schwingtüren hat, mit zwei Flügeln, dort waren nämlich die Pferdewagen untergestellt. Es gibt noch zwei weitere, die aber in einem bedauernswerten Zustand sind. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.“
Sie scheuchten die Schwalben auf.
„Den Karren hier. Den hat Sam wieder hergerichtet. Für Ramon.“
„Wer ist Ramon?“
„Sein Esel“, erklärte sie und rollte mit den Augen, „sein störrischer Esel.“
„Warum schauen Sie so verzweifelt?“
„Weil er sich in den Kopf gesetzt hat, an einem Eselturnier teilzunehmen, das diesen Sommer hier in der Gegend stattfindet.“
„Und? Ist er nicht gut vorbereitet?“
„Und ob er gut vorbereitet ist! Er hat sogar so viel trainiert, dass er sitzengeblieben ist. Aber reden wir lieber von was anderem. Ich will meine gute Laune nicht verlieren.“
Sie hatte sich an eine Deichsel gelehnt:
„Sie sehen ja selbst. Hier ist alles ein einziges Chaos. Hier geht es drunter und drüber, alles wird rissig, alles ist baufällig. Die Kinder laufen ohne Strümpfe in ihren Stiefeln herum, wenn sie überhaupt welche anhaben. Ich muss sie zweimal im Jahr gegen Würmer behandeln lassen, sie gehen überallhin, denken sich pro Minute eine Million Dummheiten aus und können so viele Freunde einladen, wie sie wollen, aber eine Sache halten wir hier sehr hoch, eine einzige: Und das ist die Schule. Wenn wir abends alle um den Tisch versammelt sind, gibt’s keine Ausrede. Da verwandelt sich Doktor Jekyll in Mister Hyde! Und in dem Punkt ist Samuel meine erste Niederlage. Ich weiß, ich sollte nicht von ›meiner‹ Niederlage sprechen, aber, ach, das ist alles sehr kompliziert.“
„So schlimm ist es doch bestimmt nicht?“
„Nein, vermutlich nicht. Aber –„
„Reden Sie weiter, Kate. Erzählen Sie.“
„Letztes Jahr im September kam er aufs Gymnasium, ich musste ihn also ins Internat geben. Ich hatte keine andere Wahl. Schon in der hiesigen Schule lief ’s nicht so toll. Aber das Internat war dann die Katastrophe. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, weil ich selbst herrliche Erinnerungen an meine Jahre auf der boarding school habe, aber, ich weiß nicht, vielleicht ist es in Frankreich anders. Er war so erleichtert, wenn er amWochenende heimkam, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn zum Lernen anzuhalten. Und das war dann das Ergebnis.“
Schiefes Lächeln.
„Vielleicht habe ich stattdessen bald einen französischen Meister im Eselführen. Egal. Gehen wir weiter. Wir machen den Vogelmüttern Angst.“
Tatsächlich piepte es laut in den Nestern über ihren Köpfen.
„Haben Sie Kinder?“, fragte sie.
„Nein. Doch. Ich habe eine Mathilde von vierzehn Jahren. Sie ist nicht von mir, aber –“
„Aber das ändert nicht viel.“
„Nein.“
„Ich weiß. Warten Sie. Ich zeige Ihnen was, das wird Ihnen gefallen.“
Sie klopfte in einem der unzähligen Gebäude an eine Tür.
„Ja?“
„Können wir reinkommen?“
Nedra machte ihnen auf. Wenn Charles gedacht hatte, ihn könnte jetzt nichts mehr überraschen, hatte er sich geirrt. Eine lange Minute war er sprachlos.
„Das ist das Atelier von Alice“, flüsterte sie ihm zu.
Es half ihm nicht, seine Sprache wiederzufinden. Es gab so viel zu sehen. Bilder, Zeichnungen, Fresken, Masken, Marionetten aus Federn und Rinden, Möbel aus Holzstückchen, Blättergirlanden, kleine Modelle und jede Menge fantastische Tiere.
„Dann war sie das also auf dem Kamin?“
„Das war sie.“
Alice, die mit dem Rücken zu ihnen an einem Tisch am Fenster saß, drehte sich um und hielt ihnen eine Schachtel hin: „Seht mal, wie viele Knöpfe ich beim Trödler gefunden habe! Seht ihr den hier, wie schön der ist? Mit einem Mosaik. Und den hier. Ein Perlmuttfisch. Der ist für Nedra. Daraus mache ich ihr eine Halskette, für wenn wir die Ankunft von Monsieur Blop feiern.“
„Dürfen wir wissen, wer Monsieur Blop ist?“
Charles war froh, dass er nicht mehr der Einzige war, der bescheuerte Fragen stellte.
Nedra zeigte auf das Tischende.
„Habt ihr ihn etwa in Grannys schöne Vase gesetzt?“, fragte Kate weiter.
„Ja klar. Das wollten wir dir noch sagen. Wir haben nämlich kein Aquarium gefunden.“
„Dann habt ihr nicht richtig gesucht. Ihr habt schon Dutzende von Fischen gewonnen, die unter uns gesagt höchstens einen Sommer überlebt haben, und ich habe schon jede Menge Goldfischglase gekauft –„
„Gläser“, korrigierte die Künstlerin.
„Danke, bowls. So … seht zu, wie ihr das hinkriegt.“
„Ja, aber die sind winzig.“
„Tja, dann müsst ihr eben eins bauen! Wie Gaston!“
Sie schloss die Tür hinter sich und stöhnte: „Das hätte ich auf keinen Fall sagen dürfen: ›Dann müsst ihr eben …‹, das ist immer ein Zeichen dafür, dass man nicht mehr weiterweiß. Okay. Beenden wir unsere Runde bei den Pferdeställen, und hier ist das Tellerchen fürs Trinkgeld. Kommen Sie mit.“
Sie kamen in einen weiteren Hof.
„Kate? Darf ich Ihnen eine letzte Frage stellen?“
„Ich höre.“
„Wer ist Gaston?“
„Kennen Sie Gaston Lagaffe nicht?“, antwortete sie voller Bedauern, „André Franquins Gaston mit seinem Fisch Bubulle?“
„Doch, doch, natürlich.“
„Nur weil ich Gaston verstehen wollte, habe ich mit zehn ernsthaft angefangen, Französisch zu lernen. Wie habe ich mich gequält. Wegen der lautmalerischen Ausdrücke.“
„Äh – wie alt sind Sie eigentlich? Wenn es nicht zu indiskret ist? Seien Sie ganz beruhigt, ich habe Yacine versichert, dass Sie gerade mal fünfundzwanzig sind, aber –“
„Ich dachte, Sie hätten Ihre letzte Frage schon gestellt“, lächelte sie.
„Ich habe mich geirrt. Eine letzte Frage wird es nie geben. Das ist nicht meine Schuld, Sie sind es, die –„
„Die was?“
»Ich fühle mich ziemlich naiv, aber ich habe den Eindruck, die – die Neue Welt zu entdecken, darum die vielen Fragen.“
„Waren Sie denn noch nie auf dem Land?“
„Es ist nicht der Ort an sich, der mich so beeindruckt, sondern das, was Sie daraus gemacht haben.“
„Aha? Und was habe ich Ihrer Meinung nach daraus gemacht?“
„Keine Ahnung. Ein Paradies, oder?“
„Das sagen Sie, weil Sommer ist, tolles Licht herrscht und das Schuljahr zu Ende ist.“
„Nein. Das sage ich, weil ich lustige, intelligente und glückliche Kinder sehe.“
Sie war erstarrt. „Meinen Sie wirklich, was Sie da sagen?“
Ihre Stimme war plötzlich ganz ernst.
„Ich meine es nicht nur, ich bin davon überzeugt.“
Sie stützte sich auf seinen Arm, um einen Stein aus ihrem Stiefel zu entfernen: „Danke“, flüsterte sie mit verzerrtem Gesicht, „ich … Gehen wir weiter?“
Naiv, das Wort war zu schwach, Charles fühlte sich total dumm, ja. Warum hatte er diese reizende Frau zum Weinen gebracht?
Sie machte ein paar Schritte und wiederholte etwas fröhlicher: „Genau, fast fünfundzwanzig … Nicht ganz übrigens. Eher sechsunddreißig.“
©S. Fischer Verlag©
Literaturangabe:
GAVALDA, ANNA: Alles Glück kommt nie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2010. 608 S., 9,95 €.
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