Von Björn Hayer
„In Wahrheit ist alles wortlos in meinem Onkel. In Wahrheit spricht er eine ganz andere Sprache, eine vor den Worten“. Dabei hegt Onkel J. keineswegs lyrische Ambitionen. Vielmehr ist er einfach nur nah an den Dingen, am bloßen Ursprung könnte man sagen. Er wohnt dort, wo sich das Leben noch in überschaubaren Kreisen zwischen Waldwirtschaft und Werkstatt bewegt. Der eben erst mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnete Schriftsteller Andreas Maier entwirft in seinem neusten Roman „Das Zimmer“ eine nostalgische Retrospektive der besonderen Art. „Einst“ und „Damals“ bestimmen den mit sprachlichem Feingespür komponierten Text, der immerzu die Vergangenheit zu verklären sucht. Der Erzähler beschreibt nahezu kindlich den Lebensalltag seines geistig behinderten Onkels zwischen trivialem Angestelltensein auf der Post, nachmittäglichem Biertischgeplänkel im Forsthaus Winterstein und der provinziellen Atmosphäre der Wetterau, und so entwickelt sich ein offenbar längst überholter, obgleich aber stets noch zutiefst sympathischer Kosmos. Denn wir befinden uns im Jahre 1969, als der erste Mensch den Mond besteigt und nur allmählich sich abzeichnet, dass die Welt von morgen eine ganz andere sein wird. Während Onkel J. noch unverblümt in altheimwerkerlicher Manier in seiner Scheinwerkstatt im Keller vor sich hinwerkelt, ist der Zeitgeist schon auf der Überholspur, steht doch die neue Umgehungsstraße symbolisch aufgeladen für die neue Ordnung, deren Auswüchse zu global, zu schnell, schlichtweg zu abstrakt für Onkel J. zu sein scheinen.
Weder um Lamoryanz, um das doch allzuschöne Gestern noch um scharfe Globalisierungskritik geht es Maier. Sein beschaulich, unverstohlener Blick eröffnet mehr als politische Allgemeinplätze. Unbeirrt und herzlich setzt er die schier unüberschaubar gewordene Gegenwart ins Verhältnis zu einem verlorenen Paradies, das sein letztes Refugium noch in der Erinnerung an das letzte Fossil Onkel aufrechterhält. In liebevoller Lakonie begibt sich Andreas Maier auf die Spuren von Heimat und Zugehörigkeit, ohne jemals den Wert der Sprache zu verkennen. Im Gegenteil: Sein bewusst alltagsnaher Bilderbuchstil eröffnet die Sehnsucht nach Verortung in einer unüberschaubar gewordenen Weltgesellschaft. Als ein Amerikaner in der Schlusspassage dann noch Onkel J. mit „Hey you“ anspricht, gerät der bis dahin als sicher wahrgenommene Grund erstmals latent ins Wanken. Onkel J. kann kein Englisch. Dennoch siegt am Ende wohl kaum die Ohnmacht. Nein, die Literatur als Form, als gelebte Miniatur wird zum aufrichtigen Bewahrer. Sie ist der Schauplatz, in den wir uns begeben können, wenn die Außenwelt uns fremd gegenübertritt. So steht für den Vorfahren Onkel J. zuletzt fest: „nichts hat sich verändert, nur die Autos sind neueren Datums“.
Literaturangabe:
MAIER, ANDREAS. Das Zimmer, Suhrkamp, Berlin 2010. 203 S., 17,90 €.