BERLIN (BLK) – Ein kurzer Blick zurück. Für alle, die wissen möchten, wie es angefangen hat. Wie WAS angefangen hat? Die literarische Moderne! Die ist nicht vom Himmel gefallen… Am Anfang stand ein Stadtmensch, ein Berliner, ein Jude – und sein Gedicht: „Weltende! Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut / In allen Lüften hallt es wie Geschrei.“
Jakob van Hoddis, der Verfasser des berühmten Gedichtes „Weltende“, wurde am 16. Mai 1887 als Hans Davidsohn in Berlin geboren. Der 16. Mai 1887 war ein schöner Tag in Preußen, in Berlin erst recht: Die Sonne schien seit 6 Uhr 57 in der Frühe, die vereinzelten Straßenbahnen klingelten ihr lustiges „Bimmeldibimm!“ durch die südliche Berliner Vorstadt, und der greise Kaiser Wilhelm I., matt und blinzelnd zwischen Plüsch- und Kissenbergen im hoheitlichen Bett verborgen, wurde von sieben schnaufenden Leibdienern in seine Lieblingsuniform (Modell: „O. von Bismarck“) verschnürt, verpackt und eingemottet.
Als man ein paar Straßen weiter, das Miljöh war hier schon bedeutend unfeiner als rund um die protzige Hohenzollern-Residenz, den kleinen Jakob aus der hechelnden Mutter zog, kam sein Zwillingsbruder dabei plötzlich abhanden. Der tat noch einen leichten Seufzer, dann wurde es schwarz und still um ihn – spontaner Kindstod, das kam damals häufiger vor. Umsichtige Eltern rechneten damit. „Ich habe ihn niemals vermisst“, lallte Jakob van Hoddis Jahre später, versank in Depressionen und starrte weiter aus den schönen vergitterten Fenstern der Psychiatrischen Anstalt in Berlin-Buch. Draußen hatte es geschneit. Seit Wochen schon. Von oben kam es herab und legte sich wie dicke Decken auf das Land. So eine trostlose Landschaft – endlose märkische Steppe, Strommasten, hier und da ein paar Raben – kann einem bitteres Glück bereiten. Wenn man den Sinn dafür hat …
Und dass Jakob van Hoddis diesen Sinn besaß, ist unbestritten – seine Schulkameraden hätten es wohl bezeugen können. Von 1893 an besuchte Jakob van Hoddis die Volksschule und danach das Königliche Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin. 1905 brach er die Schule wegen Konflikten mit Lehrern ab. Er ging auf den Bau, wo er ein Praktikum machte. Er lernte den Umgang mit Hammer, Nagel und Bier. 1906 holte er als Externer das Abitur am Städtischen Friedrichsgymnasium in Berlin nach. Im Anschluss begann er ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule Charlottenburg, wechselte 1908 an die Philologische Fakultät in Jena und kehrte im folgenden Jahr nach Berlin an die Humboldt-Universität zurück. Ende 1911 wurde er „wegen beträchtlichen Unfleißes“ von der Universität zwangsexmatrikuliert. Das war’s. So weit, so schlecht. Da stand er da. Die Hände in den Hosentaschen, verdämmernd, im Schatten lebend…
Jakob van Hoddis im Jahr 1912, Zeitzeugenberichten zufolge muss das ungefähr so ausgesehen haben: verhunzte Figur, beginnende Schizophrenie, Wulstlippe oben und unten, Überbiss, ein hastiges Kratzen am Hinterkopf. Ein Intellektueller aus dem Vorzeige-Bilderbuch. Nach dem verkorksten Studium lag auch die Karriere als Lyriker fast hinter ihm. Diese hatte 1908 in Berlin begonnen, gefördert durch den Dichter, Publizisten und unermüdlichen Literaturaktivisten Kurt Hiller, der 1912 mit der Herausgabe der ersten expressionistischen Lyrikanthologie „Der Kondor“ in die Literaturgeschichte einging. Jakob van Hoddis gehörte neben Kurt Hiller, Erich Unger und Robert Jentzsch zu den Mitbegründern des legendären „Neuen Clubs“ – einer Vereinigung von Studenten und jungen Künstlern im vornehmen Berliner Westen. In der Zeit von 1910 bis 1912 veranstaltete der „Neue Club“ unter der Bezeichnung „Neopathetisches Cabaret“ neun Leseabende, an denen so illustre Gestalten wie Ernst Blass, Georg Heym (ein guter Freund und Konkurrent, aus überschwänglicher Zuneigung schenkte ihm Jakob van Hoddis ein mit Kohle gezeichnetes Selbstporträt und ein Paar Schlittschuhe) und Else Lasker-Schüler teilnahmen und aus ihren avantgardistischen Texten vorlasen. Jakob van Hoddis war die Seele dieser jungen Berliner Avantgarde, die bei der konservativen Literaturkritik im Kaiserreich zumeist auf taube und missgünstige Ohren stieß.
Else Lasker-Schüler hat einen Auftritt Jakob van Hoddis’ mit den folgenden Worten beschrieben: „Auf einmal flattert ein Rabe auf, ein schwarzschillernder Kopf blickt finster über die Brüstung des Lesepults. Jakob van? Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend, die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen …“ Hat man aber nicht. Er durfte sie behalten. 1912 erlitt Jakob van Hoddis einen ersten schweren schizophrenen Schub, von dem er sich nicht mehr erholte. Als Ursachen gelten: Jakob van Hoddis und Kurt Hiller gingen im Streit auseinander, Georg Heym starb beim Eislauf auf der Havel und die Affäre mit der Puppen- und Dessouskünstlerin Lotte Pritzel aus München endete in einem bombastischen emotionalen Desaster (freilich nur für Jakob, nicht für Lotte, die fand andere Männer, trank Kaffee, aß Kuchen, besuchte den Abort, las Kriminalromane, ging ins Kino, brachte Kinder zur Welt und erwies sich auch sonst als sehr patent und liebenswürdig).
Was weiter geschah im Leben des Jakob van Hoddis, alias Hans Davidsohn aus Berlin, ist schnell berichtet: im Oktober 1912 zwangsweise Einweisung in die Heilanstalt „Waldhaus“ in Nikolassee, ab 1922 in Privatpflege in Tübingen, 1927 Einweisung in die Tübinger Universitäts-Nervenklinik, anschließend in der Privatklinik für Gemüts- und Nervenkranke „Christophsbad“ in Göppingen, ab September 1933 in der Israelitischen Kuranstalt in Bendorf-Sayn bei Koblenz – dann eine Eisenbahnfahrt im Viehwaggon, in Koblenz stieg man ein, in Polen stieg man aus. Stacheldraht, Krematorien, deutsche Schäferhunde. Im Sommer 1942 wurde Jakob van Hoddis im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Was übrig blieb, war sein Gedicht „Weltende“:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Dieses Gedicht, erstmals am 11. Januar 1911 in der Zeitschrift „Der Demokrat“ veröffentlicht, erregte unter den jungen Literaten gewaltiges Aufsehen und hat Jakob van Hoddis berühmt gemacht: „Weltende“ wurde zum Symbol einer ganzen revoltierenden Jugend. „Was gab es denn vorher?“, fragte diese Jugend empört, „Minnesänger und ein bisschen Goethe!“ Johannes R. Becher bezeichnete das Gedicht im Rückblick als „Marseillaise der expressionistischen Rebellion“. Jakob van Hoddis’ weitere Gedichte – es waren nicht viele, sein Freund Erwin Loewenson nannte ihn den „sparsamsten Lyriker“ seiner Zeit – blieben unbeachtet, nur wenige Stücke wurden den Zeitgenossen bekannt. Neben „Weltende“ sind vor allem die expressionistischen Gedichte „Tristitia ante…“, „Aurora“ und „Morgens“ von herausragender Bedeutung, daneben entstanden groteske Verse und Chansons wie „Visionarr“, „Tohub“ und „Couplet“.
Franz Pfemfert, Herausgeber der avantgardistischen Literatur- und Kunstzeitschriften „Der Demokrat“ und „Die Aktion“, veröffentlichte 1918 einen schmalen Sammelband mit 16 Gedichten von Jakob van Hoddis. Unter das Gedicht „Weltende“, das der Sammlung den Namen gab und zugleich ihren Auftakt bildete, setzte Pfemfert eine Fußnote, die sich wie ein Nachruf auf Jakob van Hoddis zu Lebzeiten liest: „Dieses Gedicht des genialen Jakob van Hoddis leitete, im Januar 1911, die Aktions-Lyrik ein, die jetzt das Schlagwort ‚expressionistische’ Lyrik nennt. Ohne Jakob van Hoddis wäre unser Alfred Lichtenstein, wären die meisten ‚fortschrittlichen’ Lyriker undenkbar.“
…und so also fing die literarische Moderne an. Am Anfang stand ein Stadtmensch, ein Berliner, ein Jude – und sein Gedicht: „Weltende“.