MÜNCHEN (BLK) – Im Hanser Verlag ist im Frühjahr 2011 das Buch „Der Maler und das Mädchen“ von Margriet de Moor erschienen. Aus dem Niederländischen hat es Helga van Beuningen übersetzt.
Klappentext: Warum erschlug die achtzehnjährige Elsje, gerade erst nach Amsterdam gekommen, ihre Zimmerwirtin mit einem Beil? Und warum hat sie nicht bereut? Dann hätte man ihren Leichnam begraben und nicht zur Abschreckung öffentlich ausgestellt. Und was veranlasste den Maler Rembrandt, dessen Name nicht genannt wird, sich zu dem Leichnam zu begeben und ihn mit wenigen Strichen für immer festzuhalten? Margriet de Moor schreibt einen großen Roman über die Malerei, die Liebe und den Tod im Amsterdam des 17. Jahrhunderts. Wie eine Malerin wechselt sie in diesem Krimi zwischen Hell und Dunkel und verschränkt die gegensätzlichen Geschichten zu einer spannenden, ergreifenden Erzählung.
Margriet de Moor wurde 1941 in Noordwijk geboren. Sie studierte neben Klavier und Gesang auch noch Kunstgeschichte sowie Archäologie in Amsterdam. Bereits ihr erster Roman „Erst grau dann weiß dann blau“ (Hanser 1993) wurde ein sensationeller Erfolg, und ihre Bücher sind in alle Weltsprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen u.a. „Der Virtuose“ (Roman, 1994), „Herzog von Ägypten“ (Roman, 1997), „Die Verabredung“ (Roman, 2000), „Kreutzersonate“. „Eine Liebesgeschichte“ (2002), „Sturmflut“ (Roman, 2006) und „Der Jongleur“ (2008).
Leseprobe:
©Hanser Verlag©
23
Die schöne und gewinnbringende Reue
Noch eine Viertelstunde. Die Menge, die das wußte, wartete ohne Ungeduld. Man stand Schulter an Schulter. Nicht nur das Grüppchen Sloterdijker, die gesamte Schar unter der Galerie beim Gerichtssaal war unerschütterlich, dumm drückend wie Vieh zurückgewichen, bis sie die Ostfassade des Rathauses wieder vor sich hatten. Eine kleine Gruppe Schützen half. Zusammenrücken, Leute ! Das war normal. Daß alle schauen wollten, verstand jeder. Während hinten die Kinder auf die Schultern ihrer Väter gehoben wurden, setzte man im Rathaus für die Prozedur in zweierlei Absicht eine gute Viertelstunde an.
Das kriminelle Mädchen, als Mensch bereits tot, erhielt noch einmal die Gelegenheit, bei Gott an der Rettung ihrer Seele zu arbeiten. Die Stadt Amsterdam, voll der Tugend und Redlichkeit, hoffte auf einen schönen Abschluß einer mustergültigen Hinrichtung.
Währenddessen wurde draußen auf dem Schafott die Zeit für ein paar leichte Auspeitschungen genutzt. Ein Heide, so ein umherziehender Landstreicher, bekam das glühende Eisen in die Schulter gedrückt und wurde, nachdem er fürchterlich gebrüllt hatte, für fünf Jahre aus dem Land gejagt. Ein Dieb, der hinter einem der Knechte des verspäteten Scharfrichters die Leiter hinaufkletterte, gab seinem Impuls nach, auf halbem Wege schnell anzuhalten, eine lange Nase in Richtung des Hinterns des Knechts zu machen und dem Publikum grinsend die Zunge herauszustrecken. Oben wurde er ausgepeitscht zu acht Stuiver pro Schlag.
Das alles verfolgte man lediglich mit mäßigem Interesse. Die tiefe, stille, ernste Freude auf dem Damplatz war auf etwas Schlimmeres, Besseres gerichtet, so ungefähr auf das Beste des Schlimmen, das einem Menschen, und dazu einem Mädchen, passieren konnte. Wie wäre es wohl, wenn sie das mit dir täten ?
Elsje Christiaens mußte derweil aus dem Gerichtssaal nach oben gebracht werden. Der Gefängniswärter und sein Sohn hatten sie erneut an den Oberarmen gepackt.
„Jetzt gehen wir die Treppe hinauf“, sagte Simon leise, überflüssigerweise, an ihrem Ohr. Die drei brauchten auf nichts anderes zu achten, als in geziemendem Abstand, wie das Reglement es verlangte, den Herren des Gerichts zu folgen.
„Jetzt nach rechts.“
Der Junge, der seinen Dienst als Gefängnisknecht erst seit kurzem versah, hatte einen merkwürdigen Ausdruck in seinem Blick. Er und das Mädchen hatten einen Abend und einen halben Vormittag miteinander verbracht. Es kostete ihn keinerlei Mühe, sich genau an ihre kleinen, molligen zugreifenden Hände zu erinnern, ihr zu ihm aufblickendes Gesicht. – „Bin ich dran ?“ „Ja, du.“
Elsje sah dumpf vor sich hin. Sie schien nichts von der bedrückten Stimme an ihrem Ohr und der zitternden Hand an ihrem Arm zu merken.
Man braucht auf dem Weg in den Justizraum nur ein kleines Stück durch den Bürgersaal zu gehen. Es ist fast unmöglich, sogar in diesem einen Moment dort oben an der Treppe, die Augen vor dem blendenden Eindruck von Gold, Blau und Kristall zu verschließen, der am hellichten Tag von der Sonne aus zwei Reihen in der Höhe verschwindender Fenster zusätzlich noch einen gewaltigen Paukenschlag bekommt. Dennoch war zu erkennen, daß das Mädchen nichts davon wahrnahm. Sie blinzelte nicht einmal.
An der Tür zum Justizraum versuchte der Junge ihr die Hand zu drücken. Doch ihr Arm hing herab, als wäre bereits alles Leben aus ihm gewichen.
„Jetzt hier rein …“
Sie trat über die Schwelle.
In dem Raum hing ein leicht brenzliger Geruch, möglicherweise von dem Feuer im Kamin. Der Pfarrer, derselbe, der ihr in der letzten Nacht Gesellschaft geleistet hatte, stand plötzlich vor ihr.
„Komm“, sagte er einfach. Er reichte ihr die Hand und lächelte sogar.
Es dauerte etwas, bis das Kind des Todes auch nur das Geringste von der neuen Situation begriff, begreifen konnte. Fünfzehn oder sechzehn Männer, aufrecht im Kreis auf dem Boden kniend, wandten ihr das Gesicht zu (Perücken, weite schwarze Kleidung, Blutschals). Die beiden Kissen, die der Tür nach draußen zum Schafott am nächsten lagen, waren noch frei. Es schien, als ob die imposanten Kerle, der Schultheiß, neun Schöffen, drei Bürgermeister, der Sekretär, ein Bote, eine Gunst von ihr verlangten. Ihre roten Gesichter blickten ihr hoffnungsvoll entgegen.
„Ja, hier.“
Ein kleiner Schubs.
So etwas merkt man, wie auch immer: die von Gott bezogene Auffassung, wonach alle Menschen im tiefsten Wesen gleich sind. Elsje wurde ohne Ansehen der Person in den Kreis aufgenommen, und irgendwie spürte sie das. Sie sank mit den Knien auf das weiche schwarze Kissen, das man für sie bereitgelegt hatte. Auch der Geistliche kniete nieder und stimmte, nun da der Kreis geschlossen war, mit geübter Stimme ein uraltes Gebet an, dessen Ausgangspunkt, im Eisen der Zeit bewahrt, von jedermann als normal empfunden wurde. Gott, der gesehen hat, wie das warme Blut Seiner Schöpfung vergossen wurde, verlangt jetzt im Tausch dafür selbstverständlich das warme Blut des Vergießers.
In dem Kreis sahen sich zwei Männer an. Sie hatten das sorgfältige und gewissenhafte Töten schon etliche Male miterlebt, dem Gebet glaubten sie.
„Wenn sie bloß vernünftig ist nachher“, signalisierte Joan Blaeu seinem Kollegen Cloeck auf der gegenüberliegenden Seite.
Er war der Sohn eines Vaters, der vor vielen Jahren nach Dänemark gereist war, um von einem wüsten Gelehrten, dem Gotteswunder Tycho Brahe, alles über das Firmament zu lernen, was nur menschenmöglich war, und danach nach Amsterdam zu kommen, um bis zu seinem Tod Globen zusammenzusetzen und Landkarten zu drucken. Joan Blaeu, wahrer Sohn, der das Werk seines Vaters fortgesetzt hatte, blickte unglücklich von Cloeck, ihm gegenüber im Kreis, zu Elsje.
Dachte er an ihre Heimat, in die auch sein lernbegieriger Vater den Fuß gesetzt hatte ? Es kann in einem entfernten Winkel seiner Gedanken mitgespielt haben. Ansonsten war er, Joan Blaeu, in erster Linie ein Mann von sanftem Charakter, verheiratet mit seiner Jugendliebe, einer Vermeulen Tochter, die ihm drei tote und sechs lebende Kinder geschenkt hatte. Falls er überhaupt an Füße gedacht hat, dann werden es eher die von Elsje gewesen sein, dem heftigen Kind, das am achtundzwanzigsten April im Schöffensaal verhört worden war und dann den ganzen Bürgersaal der Länge nach durchschritten hatte. Ja, da liegen in drei in Marmor eingebetteten Kreisen die riesigen Karten des sanftmütigen Joan Blaeu. Mit ihren kleinen Füßen war die Mörderin zunächst über seine Südhalbkugel gegangen, danach hatte sie sein mit den Himmelskörpern besätes Firmament durchquert, die Blaeu, Ausbilder der Steuerleute der Vereinigten Ostindischen Kompanie, wie kein anderer kannte, um zum Schluß über die den damaligen Auffassungen entsprechende Nordhalbkugel auf ihre Befrager zuzugehen.
Unterstützen Sie dieses Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei! Vielen Dank!
Cloeck hatte sein typisches schiefes Lächeln zurückgeschickt.
„Ogottogott, ja !“
Er war ein Bär von einem Kerl, urgesund, der Ton aß, um als Mann in viriler Form zu bleiben, und sich zu Hause taub stellte, um den Frieden bewahren zu können. Er war stolz darauf, übrigens zu Recht, daß seine Seilerei am IJ, falls nötig, die gesamte baltische Flotte, die hundertneunzig Schiffe zählte, mit Tauwerk ausstatten könnte.
Sie erhoben sich. Alle taten das, auch Elsje. Das Gebet war zu Ende. Es hatte sich von einem sehr dunklen Beginn zu einem kleinen Lichtpunkt am Ende bewegt. Als der Pfarrer vor sie hintrat und seinen Blick in den des Mädchens bohrte, sahen alle, daß sie zuhörte. Möglicherweise wußte sie sogar, worum es ging, hatte den starken Wunsch aller Beteiligten um sie herum bereits erfaßt, sie solle Reue zeigen, tiefes Bedauern, in den letzten Minuten ihres Lebens.
Er fragte sie leise. Mit einer Stimme, die sich kaum von einer Männerhand unterscheiden ließ, die einem übers Haar streicht.
Also, Schätzchen ?
Im Justizraum erinnerte man sich an den dankbaren Fall vor einigen Wochen, als man auf der teuflischen Visage eines Kutschers, der nie eine städtische Lizenz hätte bekommen dürfen, im Bruchteil einer Sekunde die Sanftheit der Reue hatte durchbrechen sehen. Der Mann, der wegen des Mordes an einem Kunden gehängt werden sollte, hatte so überzeugend seinen alten Vater und seine alte Mutter um Verzeihung angefleht, daß man beschloß, ihn mit einem Sarg und einem Grab zu belohnen.
Elsje blickte zu dem Geistlichen auf. Ihre Wangen und ihr Mund waren leicht gebläht, als bekäme sie einen Bissen nicht hinunter und dürfe bloß nicht an den nächsten Bissen denken. Man erwartete jede Sekunde ihr herzzerreißendes Schluchzen.
Sie schüttelte sanft den Kopf.
Man glaubte es nicht.
Sie schüttelte den Kopf nicht wie jemand, der nein sagt, sondern wie jemand, der, fassungslos, wieder zu sich kommen will.
Also beugte sich der Pfarrer erneut zu ihr vor, sah ihr noch fester in die Augen als eben und schlug ihr noch einmal vor, das Blut von ihrer Seele zu waschen. Sag, daß es dir leid tut, Kind. Der Tod ist nicht der Tod, das weißt du, sondern Gott, der über dich kommt. Weine, bete, versuch das Vaterunser zu sprechen. Sag, daß du für die Strafe dankbar bist, die du doppelt und dreifach verdient hast, aber erspar dir die zusätzliche Buße eines Todes ohne Vergebung, eines Todes als Tier. Unter den Männern im Raum gab es etliche, die sich fragten, wie derlei überhaupt vor sich ging, bei Frauen. Niemand von ihnen war seinerzeit dabeigewesen, aber einige hatten von dem Mädchen gehört, das vor einundzwanzig Jahren sofort nach der Entbindung aufgestanden war und ihr Kind in die Herengracht geworfen hatte. Solche Dinge geschehen, noch immer natürlich, doch wenn jemand sie sieht, dann ist es Mord.
Elsje blickte zu Boden. Nicht schüchtern, sondern verstockt wie ein alter Esel. Ihre Kopfbewegung, eine unmissverständliche Weigerung jetzt, war kurz. Ihre Vorgängerin war auf Knien gekrochen, hatte geschluchzt und gejammert und versucht, Psalm 23 zu singen. Es muß sehr zu Herzen gehend gewesen sein, und ihre sterblichen Überreste wurden folglich nicht nach Volewijck gerudert, sondern zum Bollwerk an der Bloemgracht gebracht, wo sie außerhalb des Stadtwalls im Schlamm des neuen Friedhofs versenkt wurden.
Leises Geraune erhob sich. Und unter den Schöffen war einer, der sich wie an einem Sonntagnachmittag im November fühlte, wenn Nieselregen den Gewürznelkengeruch des Schlachtens vom Samstag eher zu verstärken als wegzusprühen scheint. Er zog den jüngsten Bürgermeister, der neben ihm stand, am Arm beiseite.
„Blaeu ?“
„Bürgermeister. Der Dolmetscher steht zur Verfügung. Er befindet sich, wenn alles seine Ordnung hat, im Nebenraum oder auf der Galerie.“
Der andere nickte. Er hatte auch schon daran gedacht. „Ruf ihn“, sagte er. „Obwohl wir uns langsam beeilen müssen.“
Tatsächlich hielt sich der Dolmetscher auf der Galerie auf. Der ehemalige Schiffskoch stand dort mit ein paar anderen beim Gebet nicht willkommenen Amtspersonen, dem Gefängniswärter, dem roten Lockenkopf Simon und dem Scharfrichter Chris Jansz. Unter der endlos großen, sich im Dunkel verlierenden Darstellung einer halbnackten Riesin, die eine im Verhältnis winzig kleine Waage zu den Wolken emporhielt, standen sie und ließen eine Pfeife mit Sumatratabak kreisen. Jansz, Meister aller Grausamkeiten, war froh über die Ablenkung, den anderen sein Malheur auf dem Haarlemmerweg erzählen zu können. Sein Wagen hatte auf dem Weg hierher ein Rad verloren.
„Ganz ab ?“ fragten die anderen.
„Ja, auf einen Schlag. Wir hingen sofort auf halb acht und sind so noch ein ganzes Ende weitergeschlittert.“
Chris Jansz hatte die Nervosität vor seinem Auftreten nie überwinden können. Das war verständlich. Das Publikum haßte ihn. Ihn, nicht seine vom Gesetz geforderte Tat. Mit dem von vornherein skeptischen Blick des Kenners, eines sehr viel ungnädigeren Kenners als bei einem Stierkampf oder Fußballspiel kommender Zeiten, würde man in Kürze seine Handlungen verfolgen. Jetzt packt er die Kleine am Kopf, jetzt drückt er sie an den Pfahl. Beim geringsten Missfallen würde er mit Geschimpfe, Gejohle, verfaulten Früchten rechnen können. Die Leute haßten seine Hände, nicht die rechtmäßige Handlung an sich. Den Leuten waren die Hände, der Blick, die Schultern, die geschäftigen Beine des Henkers einfach zuwider – nicht seine Bewegungen an sich.
„Und eine Schweinerei war das, ein Matsch, nach dem ganzen Regen der letzten Woche !“ sagte er.
Aus dem Augenwinkel sah er Blaeu, den er gut kannte, aus dem Justizraum kommen. Sein Blick verdüsterte sich. Er war sehr müde. Henkersarbeit ist schwer, und sie waren in letzter Zeit hoffnungslos unterbesetzt. Dank der phantastischen Hochkonjunktur, die zur Zeit in den Städten herrschte, konnten die Leute andere Arbeit finden, und sogar in Familien, in denen das Handwerk seit jeher vom Vater auf den Sohn, vom Onkel auf den Neffen übergegangen war, entschieden sich die jungen Leute heutzutage lieber für die See.
©Hanser Verlagr©
Literaturangabe:
DE MOOR, MARGRIET: Der Maler und das Mädchen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Hanser Verlag, München 2011. 304 S. 19,90 €.
Weblink: