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An der Schwelle zur Moderne

Die Memoiren der iranischen Prinzessin Tâdsch os-Saltane

© Die Berliner Literaturkritik, 25.10.10

Von Behrang Samsami

 „Meine Geschichte ist so bedeutsam und voller verwickelter Geschehnisse, dass selbst ein Jahr nicht ausreichte, um sie zu erzählen, selbst wenn ich Stunde um Stunde ununterbrochen redete! Und manches Mal ist sie so kummervoll, bisweilen aber auch so erfreulich, dass sie den Zuhörer in Erstaunen versetzen würde.“ Neugierig machen diese Worte, die Tâdsch os-Saltane zu Beginn ihrer Memoiren gegenüber ihrem Lehrer und Vetter Soleimân äußert. Dabei nimmt die iranische Prinzessin einen klassischen literarischen Kunstgriff zur Hilfe, handelt es sich bei dem Gespräch der beiden in der Einleitung ihrer Erinnerungen um einen fiktiven Dialog. So motiviert die beharrliche Bitte des Sohnes der Schwester ihres Vaters den vorliegenden Lebensbericht, verspricht die adlige Autorin doch ihrem Verwandten, ihre Geschichte für ihn niederzuschreiben. Soleimân wird der Adressat, an den sie sich in der Folge immer wieder wendet.

Wer Tâdsch os-Saltanes Erinnerungen liest, die sie Anfang 1914 niederschreibt, wird dem Übersetzer und Herausgeber der im Sommer 2010 erschienenen deutschsprachigen Ausgabe, Siegfried Weber, zustimmen, der in seinem ausführlichen Nachwort davon spricht, dass die Memoiren der Prinzessin eine „Ausnahmeerscheinung“ darstellten. „Uns werden“, so schreibt der promovierte Iranist, Übersetzer und Dolmetscher weiter, „durch einen Text wie den vorliegenden, der von einer Frau aus Iran verfasst wurde, wenn auch von einer privilegierten Frau, die um die Wende zum 20. Jahrhundert lebte, Einblicke in eine Welt gewährt, die uns weitestgehend unzugänglich bleibt und die wir bestenfalls von unserem heutigen Kenntnisstand aus sehen und bewerten können.“

Die Memoiren der Tâdsch os-Saltane sind deshalb so außergewöhnlich, weil sie eine „wichtige soziokulturelle Quelle [sind], die uns Informationen aus erster Hand gibt“, wie Weber betont. Und das geschieht in mehrfacher Hinsicht. Zum einen schreibt sie über sich selbst, womit sie – nach dem bisherigen Stand der Forschung – die erste Frau in der modernen Geschichte des Iran ist, die ihre Erinnerungen zu Papier bringt. Geboren wird die Autorin im Februar 1884 in der iranischen Hauptstadt Teheran als Tochter des von 1848 bis 1896 herrschenden Nâser ed-Din Schah (1831-1896) und Marjam Turân os-Saltane. Letztere ist eine von seinen vier „Aqdi“, d.h. eine von seinen „richtigen“ Ehefrauen, neben denen noch andere Partnerinnen, ebenfalls von adligem Geblüt, aber auch von einfacher Herkunft im Harem des Königs leben. Vater wie Mutter der Prinzessin stammen aus der Dynastie der Qâdschâren, einem türkisch-aserbaidschanischen Nomadenvolk aus dem Nordwesten des Iran. Es regiert „Persien“, wie der Iran um die Jahrhundertwende im Westen noch genannt wird, ab 1796, bis das Herrscherhaus nach dem Ersten Weltkrieg mit britischer Unterstützung sukzessive von Premierminister Reza Khan (1878-1944) entmachtet und 1925 vom Parlament in Teheran abgesetzt wird.

Was indes ihr Leben als königliche Prinzessin betrifft, schreibt Tâdsch darüber in einem hoch emotionalen Ton und zugleich stark subjektiv. Sie schildert auf eindrückliche Weise die familiären Verhältnisse im Harem, das oft schwierige Zusammenleben der vielen Gattinnen und Kinder von Nâser ed-Din Schah, die Rivalität der Frauen um die Gunst des Herrschers, aber auch die seltenen Momente, in denen die Autorin als Kind den von ihr kaum gesehenen, aber hoch verehrten Vater für sich alleine hat. Auffällig dagegen ist die Bitternis, mit der Tâdsch von ihrer Mutter erzählt. Tâdsch wirft ihr vor, ihre Tochter kaum geliebt und nur mangelhaft erzogen zu haben. So reiht sich an die Beschreibung des Alltagslebens im Teheraner Golestân-Palast auch Kritik an den Erziehungsmethoden und dem abseitigen Dasein der Mädchen und Frauen, denen nämlich dadurch das Bewusstsein fehlte, sich zu bilden und mit Kultur und Wissenschaft zu beschäftigen.

Als ein besonders traumatisches Ereignis erlebt und schildert die Prinzessin vor allem ihre frühe Verheiratung mit neun Jahren und die Ehe mit einem beinahe gleichaltrigen Jungen aus adligen Kreisen, den sie nicht kennt und zu lieben kaum imstande ist. Kindheit und Jugend sind für sie so in der Folgezeit überschattet von Erlebnissen, die ihr das Leben schwer und kummervoll machen. Unglücklich mit ihrem Mann, der als „Amir-e Nezam“, d.h. Feldmarschall der Armee, in der nordwestlichen Provinz Aserbaidschan tätig ist, bekommt sie mehrere Kinder. Jedoch nutzt sie andererseits die Möglichkeiten, wie sie sich ihr als einem Mitglied der oberen Gesellschaft nur wenigen bieten und eignet sich durch Unterricht, aber auch selbstständig Wissen an. So beschäftigt sie sich mit persischer und europäischer Literatur und Philosophie, lernt Sprachen, Malen und Klavierspielen. Sie entwickelt im Laufe der Zeit ein kritisches Bewusstsein nicht nur für ihre eigene Situation, sondern auch für die ihres Heimatlandes.

Hart, aber gerecht geht sie mit den Verhältnissen im Iran ins Gericht. Sie kritisiert einerseits den Herrschaftsstil von Nâser ed-Din Schah wie auch ihres Bruders Mozaffer ed-Din (1853-1907), der nach der Ermordung ihres gemeinsamen Vaters 1896 die Herrschaft antritt, wie sie beide zugleich als warmherzige und gütige Menschen beschreibt, die Musik und Literatur liebten. Als Patriotin, als die sie sich selbst betrachtet und die sich um die Entwicklung der Heimat Sorgen macht, klagt sie aber über Korruption und Misswirtschaft, den Verkauf von Staatsämtern an reiche Familien sowie die zunehmende Einflussnahme und Plünderung Irans durch ausländische Mächte wie Großbritannien und Russland. In Tâdschs Erinnerungen wechseln so autobiografische mit essayistischen Passagen, in denen sie politische Diskurse thematisiert und gesellschaftliche Reformen postuliert. Diese sind wahrscheinlich auch ein Resultat der Lektüre westlicher Schriften – werden in ihrem Memoiren doch öfter auch europäische Schriftsteller, Gelehrte und Politiker erwähnt und zitiert.

Was Tâdsch sicherlich für viele ihrer Zeitgenossen, vor allem für Konservative und Geistliche, im Laufe ihres Lebens zu einer „persona non grata“ werden lässt, sind ihre für die damaligen Verhältnisse neue, stark westlich beeinflusste Lebens- und Denkweise. Zum Ende ihrer Erinnerungen, als diese inhaltlich zunehmend sprunghafter werden, merkt sie selbst an, wie sie sich von der bisher von ihr praktizierten Religion entfernt und noch einen Schritt weiter geht und den Schleier ablegt, um sich fortan europäisch zu kleiden. Schon vorher propagiert sie in ihren Memoiren die „romantische Liebe“ im Gegensatz zur gängigen arrangierten Ehe. Sie prangert die patriarchalischen Einstellungen in der Gesellschaft an und fordert die Gleichberechtigung von Mann und Frau und damit die Chance für beide, sich frei und selbst bestimmt zu verwirklichen. Ihr großer Traum wird es schließlich, nach Europa zu reisen und sich das dortige Leben, insbesondere das der Frauen und den Kampf für ihre Gleichstellung aus nächster Nähe zu erleben, um Anregungen für sich und ihre Arbeit mit heim zu nehmen.

Es scheint für diese leidenschaftliche und engagierte Frau nur konsequent, wenn sie, wie im Nachwort zu sehen ist, später zusammen mit ihrer Schwester Eftekhâr os-Saltane (1880-1941) und Mary Jordan, der Frau des US-amerikanischen Missionars Samuel Martin Jordan (1871-1952), die „Andschoman-e horrijat-e nesvân“ („Die Gesellschaft für die Freiheit der Frauen“) gründet. Verbunden werden diese emanzipatorischen Forderungen und Aktivitäten in Tâdschs Memoiren auch nach neuen Bildungseinrichtungen zugleich mit der Hoffnung auf umfassende Reformen und Verbesserungen im Alltag der Menschen. So schlägt sie für den Gesundheitsbereich vor, Präventivmaßnahmen beispielsweise durch eine modernere und effektivere Infrastruktur zu treffen, um Epidemien wie die der Cholera zu verhindern, die um 1900 noch vielen Menschen im Iran das Leben kosten.

Auch wenn der Herausgeber der Memoiren rät, diese „hinsichtlich der historischen Sachverhalte mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten“, da der Text stark subjektiv sei und deshalb nur eingeschränkt als Quelle für historischen Wahrheiten herangezogen werden könne, macht dieser Bericht dennoch aus erster Hand deutlich, wie stark die radikalen politischen Umbrüche durch die zunehmende Einflussnahme der europäischen Großmächte im bis dahin noch stark traditionell, d.h. vor allem nomadisch und bäuerisch geprägten Iran sind. Das Buch zeigt paradigmatisch an der Qâdschâren-Prinzessin, wie schnell sich das Leben der Menschen durch die ungeheure Dynamik in Folge der beginnenden Industrialisierung und Modernisierung des Landes ändert. Tâdsch os-Saltane erkennt die Veränderungen und diskutiert Wege, den Rückstand ihrer Heimat im „Wettlauf der Nationen“ wettzumachen. Ihre Memoiren zeugen auch in dieser Hinsicht von einem hohen Reflexionsniveau.

Was indes das Leben der Tâdsch os-Saltane so tragisch macht, ist das erzwungene Hin- und Herpendeln zwischen zwei unterschiedlichen Welten. Einerseits stammt sie aus einer nomadischen Familie, die traditionell lebt und religiös ist und deren Politik noch stark vom Stammesdenken beeinflusst wird. Andererseits nutzt sie als Königstochter, die finanziell abgesichert ist, den Zugang zu Wissen und löst sich allmählich von ihrer bisherigen Lebenswelt. Da sie mit eine der ersten Frauen ihrer Zeit ist, die sich von den gesellschaftlichen Konventionen zu befreien versucht, ist sie in ihrem Tun und für ihre Umwelt ohne Vorbild und darum auf sich allein gestellt. Tâdschs langsame Emanzipation führt dabei zu einer Entfremdung von ihrer familiären Umgebung, die sie zeitlebens nicht in der Lage ist zu überwinden.

Die Suche nach der ihr passenden sozialen Position wird allerdings nicht nur von den geltenden, strengen Konventionen erschwert, die ihre politischen und familiären Widersacher vorbringen, sondern auch von den großen Erschütterungen, die ihre Heimat um die Jahrhundertwende schwer treffen. Zum einen ist es die „Maschrutiat“, die Konstitutionellen Revolution 1905/11, mit der der Iran als eines der ersten Staaten des Orients eine Verfassung bekommt, zugleich jedoch in eine langwierige politische Krise gerät, aus der große Unsicherheit und Unordnung resultieren. Kurze Zeit darauf ist es der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, in den ihre Heimat trotz der erklärten Neutralität des Landes hineingezogen wird und dem in der Folge eine hohe Zahl an Menschen durch Hunger, Armut und Krankheit zum Opfer fällt.

In seinem Nachwort, das den Memoiren der Prinzessin folgt und den zweiten großen Abschnitt der vorliegenden Ausgabe darstellt, gibt der Herausgeber Siegfried Weber ein weitergehendes, umfassendes Bild von der damaligen Zeit im Iran. Sachlich, ausgewogen und mit viel Hintergrundwissen stellt der Iranist nacheinander die beiden Herrscher Nâser ed-Din und Mozaffer ed-Din Schah und ihre Epoche vor. Zudem schildert er, da Tâdsch os-Saltanes Memoiren 1914 abbrechen, mit Hilfe der spärlichen Quellen, wie das Leben der Königstochter bis zu ihrem Tod im Februar 1936 in Teheran noch verläuft. In seinem gut siebzig Seiten langen Essay geht Weber ebenfalls noch auf den Hof ein, an dem die Prinzessin bis zur Verheiratung lebt und macht ferner editorische und inhaltliche Anmerkungen zu ihren Memoiren.

Der dritte Abschnitt der vorliegenden deutschsprachigen Buchausgabe der Erinnerungen besteht schließlich aus einem kürzeren Anhang. Dieser bietet dem Leser eine Liste mit weiterer Primär- und Sekundärliteratur in erster Linie in Englisch, Deutsch und Farsi an und liefert zum besseren Verständnis zudem Informationen zu Personen, Namen, Titeln und Sachbegriffen, die in Tâdschs Memoiren vorkommen. Ihre Lektüre sei ausdrücklich allen empfohlen, die nicht nur einen seltenen Blick in die uns unbekannte und weit entfernte Welt des persischen Harems um 1900 werfen wollen. Tâdschs Geschichte, die durch Abbildungen noch zusätzlich illustriert wird, ist auch deshalb so lesenswert, weil sie aus erster Hand mitteilt, wie der Iran an der Schwelle zur Moderne versucht, einen Ausgleich zu finden zwischen den eigenen, traditionell wie religiös geprägten Normen und den westlichen, stark individualistisch beeinflussten Lebens- und Denkweisen – eine Aufgabe, mit der sich die Menschen dort bis heute, fast hundert Jahre nach der Niederschrift der Memoiren, leidenschaftlich auseinandersetzen. (schu/bal)

 

Literaturangaben:

Tâdsch os-Saltane: Memoiren. Im Harem des persischen Pfauenthrons. Herausgegeben und aus dem Persischen übersetzt von Siegfried Weber. Osburg Verlag. Berlin 2010. 272 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen. Euro 19,95.


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