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An Paris hat niemand gedacht

Wenn die Vergangenheit einfach nicht vergehen will

© Die Berliner Literaturkritik, 24.07.09

MÜNCHEN (BLK) – Im Juni 2009 ist im Goldmann Verlag „An Paris hat niemand gedacht“ von Veronika Peters erschienen.

Klappentext: Eigentlich könnte Marta mit ihrer Familie eine glückliche Kindheit in Afrika verbringen – wenn da nicht der Vater wäre, der seiner Frau und seinen Töchtern das Leben zur Hölle macht. Tief sind die Wunden, die er Marta schon in jungen Jahren zugefügt hat, und als die Familie nach Deutschland zurückkehrt, entschließt sich Marta, Reißaus zu nehmen. Sie bricht jegliche Verbindung zu ihren Eltern und Schwestern ab, verschanzt sich hinter einer Mauer aus Verdrängen und Vergessen. Doch alles ändert sich, als Marta vom Tod ihres Vaters erfährt – und wenig später eine Nachricht von ihrer Mutter Greta erhält. Siebzehn Jahre lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, aber nun spüren beide, dass der Moment gekommen ist, sich der Vergangenheit zu stellen. Schwankend zwischen Zorn und Zuneigung machen Mutter und Tochter die ersten zögerlichen Schritte aufeinander zu – und stellen bald fest, dass nichts so ist, wie es all die Jahre schien, dass sie Bilder von der jeweils anderen mit sich getragen hatten, die der Gegenwart nicht standhalten. Und dass es in ihrer Freiheit liegt, die Scherben ihrer alten Beziehung hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zueinander zu finden.

Veronika Peters, geboren 1966 in Gießen, verbrachte ihre Kindheit in Deutschland und Afrika, wo ihr Vater als Lehrer tätig war. Im Alter von fünfzehn Jahren verließ sie ihr Elternhaus, absolvierte eine Ausbildung zur Erzieherin und arbeitete in einem psychiatrischen Jugendheim, bis sie 1987 ins Kloster eintrat. Nach beinahe zwölf Jahren verließ sie den Orden und zog nach Berlin, wo sie sich mit Fotographie und Schreiben beschäftigte. Veronika Peters lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen im Stadtteil Prenzlauer Berg. (rud/ber)

Leseprobe:

©Goldmann©



I. LIEDERHAUS

Im Hinterland der Elfenbeinküste, dort, zwischen den Strömen Nzi und Bandama, wo die Savanne von Norden her wie ein breiter Keil in den südlichen Urwald stößt, liegt das Land der schwarzen Königin Aura Poku — das Land der Baule. Es ist ein offenes Grasland mit Flecken und Strichen von Wald an den zahlreichen Wasserläufen, mit Palmen auf den weiten grasigen Flächen, ein Land von großer Lieblichkeit.
Das Geräusch einer zirpenden Grille übertönt beinahe die Stimme der Frau, deren Gesicht vom Schein der Nachttischlampe beleuchtet wird.

Aura Poku war die Älteste der Königskinder von Kumassi. Doch ihr Bruder und die meisten Männer des Stammes wollten keiner Frau untertan sein und jagten sie aus dem Land. Da floh die Königstochter mit ihren Getreuen nach Sonnenuntergang durch die Savanne bis tief in den Wald hinein, wo sie vom Fluss Comoe aufgehalten wurden. Komie Nassi, der Hofzauberer, sollte einen Weg finden, wie der reißende Strom überschritten werden könne, und er befragte die heiligen Mäuse. Von diesen brachte er die Botschaft: „Einer unter euch muss seinen einzigen Sohn dem Fluss zum Opfer bringen, dann wird er euch hinüberlassen, so dass ihr in Sicherheit seid.“ Da aber niemand sein Kind hergeben wollte, nahm Aura Poku ihr eigenes, schmückte seinen Körper mit Gold und warf es in die Fluten. Sofort erhob sich ein riesiger Fels aus dem Wasser, auf dem die Flüchtlinge in das jenseitige Land ziehen konnten. Weil aber das Volk einem Kind sein Leben verdankte, gab die Königin ihm den Namen „Ba Ule“, das heißt „Volk des Kindes“.

Die Mutter klappt das Buch zu, streift beim Aufstehen das Moskitonetz und verlässt das Zimmer. Durch den Spalt unter der Tür sehen sie das Licht im Flur verlöschen, hören das klackende Geräusch der sich schließenden Flügeltür, die ihr Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses von den anderen Räumen trennt.

Das ist ihr Zeichen.

Zwei kleine Mädchen im Dunkeln. Eins zieht die Decke bis an die Nasenspitze, ruft: „Fang an!“

Das andere saugt hörbar die Luft ein, beginnt zu singen. Merkwürdige kleine Melodiebögen, wie Wellen, die einer rätselhaften Choreographie folgend ihre Linien in den Sand malen. Ein langsamer Tanz, nicht viel mehr als ein leichtes Hin- und Herschwingen, aus dem allmählich eine Geschichte aufsteigt. Jeden Abend das gleiche Thema in allen erdenklichen Variationen. Zunächst müssen die Eltern zum Verschwinden gebracht werden, das Repertoire der Todesarten wird beständig erweitert: Zugunglücke, Autounfälle, Flugzeugkatastrophen, Bisse des Skorpions, Löwenpranken, Entführung. Letzteres findet nur selten Verwendung. Entführte können zurückkommen. Man muss sie mindestens in eine dunkle, unzugängliche Höhle verschleppen lassen, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Oder nach Paraguay. Paraguay hört sich sehr weit entfernt an. Aber tot ist am besten; tot bedeutet richtig weg.

Dann können die Mädchen Waisen sein und gemeinsam losziehen: mit den Hunden, mit wilden Pferden, die sich nur von ihnen reiten lassen, manchmal mit dem Zug oder mit dem Auto des Vaters. Beine, die zu kurz sind, um das Gaspedal zu erreichen, gibt es nicht. Sie wohnen monatelang auf einem Floß, das den Bandama hinuntertreibt, ernähren sich von selbst gefangenen Fischen, erschlagen Krokodile, deren Häute sie später auf dem Markt zu Geld machen. Sie durchqueren die Wüste auf schwarzen Araberhengsten, lernen die Sprache der Tiere, finden Aufnahme in Hyänenrudeln und Gepardenfamilien. In Abidjan geraten sie zwischen kämpfende Gangsterbanden, nutzen den Tumult, um die Beute an sich zu bringen und reich zu sein. Viehhüter werden sie, Rennfahrerinnen, Baumwollpflücker, Baoule-Kriegerinnen. Sie rauben eine Bank aus, versenken ein Polizeischiff im Golf von Guinea, wandern mit Wildhunden und Gnus durch die Serengeti. Kein Mensch kann sie einfangen, kein Feind holt sie ein. Und niemand wagt es, in keiner einzigen Geschichte: sie werden nie geschlagen. Das Ende ist immer gleich, eine helle Sommermelodie: Die Mädchen wohnen in einem großen Haus mit Veranda, von der aus man das Meer sehen kann. Es hat blaue Fensterläden, die im Wind klappern, und rundum wachsen dichte Hecken von Wildrosen: weiße, rote, gelbe. Da ist kein Durchkommen, wenn man den Geheimgang nicht kennt. Viel Platz haben sie für sich und die Tiere, und lustig ist es und friedlich, und niemand schreit sie an. Königin Aura Poku kommt zu Besuch, trinkt Tee, erzählt von Spinnen und Leoparden.

Die Mädchen haben ihren Sohn aus den Fluten gerettet und das Gold, das er am Leib trug, zum Lohn erhalten. Kein Kind muss geopfert werden, für nichts, erklärten sie der dankbaren Königin. Jetzt spielt das Königskind friedlich vor den Augen seiner Mutter, die das schöne Haus bewundert: „Hätte ich solch ein Wunderhaus besessen, nie mehr hätte ich vor meinen Feinden liehen müssen, mein Kind wäre für immer in Sicherheit gewesen!“

„Sing ich dir ein Lied,
denk ich dir ein Haus,
bau ich dir ein Heim aus Liedern draus!“

Einmal erwischt sie Mamadou auf seinem abendlichen Kontrollgang. Aber er ist kein Verräter, und ein im Dunkeln singendes Kind gehört nicht zu den Dingen, die er für ungewöhnlich hält. Er sagt nur: „Leise, morgen ist Zeit für eine neue Geschichte“, lächelt und hebt einen Finger an die Lippen, der im langsam schmaler werdenden Lichtschein des Türspalts für einen Moment zur winkenden Hand wird.

©Goldmann©

Literaturangabe:

PETERS, VERONIKA: An Paris hat niemand gedacht. Roman. Goldmann, München 2009. 272 S., 19,95 €.

Weblink:

Goldmann


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