Pünktlich zur Bundestagswahl und zum hundertsten Geburtstag von Simone Weil sind ihre Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien bei diaphanes erschienen. Selten gelingt es wohl einem Verlag wie in diesem Fall diaphanes, eine posthume Veröffentlichung mittels Jubiläum einerseits so auf den Autor auszurichten und andererseits einen unmittelbaren aktuellen Aufhänger für seine Arbeit zu berücksichtigen.
„Die Parteien sind Organismen, die öffentlich, offiziell so konstituiert sind, dass sie in den Seelen den Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abtöten.“ Deshalb gehörten Parteien nach Weils Worten abgeschafft. Die Argumentation, die dieser großen und groben These teils folgt, teils vorangeht, ist streng und präzise im Ton, konzentriert und knapp, wie der Text überhaupt nur 30 Seiten umfasst. Durch diese extreme Dichte wird der Gedankengang nur umso nachdrücklicher. Die Klarheit ihrer Sätze ist gnadenlos, eine Zusammenfassung scheint fast hoffnungslos.
Ausgehend von Rousseaus Contrat social, den Werten der großen Revolution von 1789, vom Glauben an Gerechtigkeit und die Vernunftbegabung des Menschen entwickelt Weil ihre Kritik am Parteiwesen. Staaten und Staatssysteme sollten nicht Zweck sondern Mittel sein. „Allein das Gute ist ein Zweck.“ Vor diesem Begriff des Guten, unter den vor allem Gerechtigkeit und Gemeinwohl gefasst werden, hat das Staatssystem sich zu verantworten. Die große Möglichkeit einer Demokratie besteht nun darin, dass verbrecherische und eigensüchtige Leidenschaften des Einzelnen im universellen Konsens blockiert werden können. Demokratie allein aber legitimiert noch nichts, da es „kollektive Leidenschaft“ gibt, deren Zerstörungspotential ungleich größer ist; auch hier also liegt ein Versuch vor, das heiße Eisen des volonté générale anzufassen und zu halten.
Durch Propaganda und Glaubensätze, deren Fülle ein einzelnes Parteimitglied gar nicht vollständig überblicken kann, unterdrückt jegliche Partei das Denken, und weil es ihr an diesem selbst fehlt, „befindet sich die Partei tatsächlich in einem fortwährenden Zustand der Ohnmacht, den sie der unzureichenden Menge an Macht zuschreibt, über die sie verfügt.“ Es folgt ein Wille zum Wachstum um des Wachstums Willen: der schiere Drang nach Mehr- und Überzahl. Und nicht zuletzt erscheint Weil das Parteiensystem genuin undemokratisch, da die Bevölkerung sich nicht zu Problemen des öffentlichen Lebens äußern, sondern nur zwischen Parteien wählen kann. Wer am öffentlichen politischen Leben mitwirken möchte, ist gezwungen, „in eine Partei einzutreten und das Spiel mitzuspielen“.
Hier konnten nur einige Gedanken Weils angeschnitten werden, aber um ihre Verachtung von Parteien noch einmal zusammenfassend selbst zur Sprache kommen zu lassen: „Vertraute man die Organisation des öffentlichen Lebens dem Teufel an, er könnte nichts Tückischeres ersinnen.“ Solche bitteren Sätze sind die Ausnahme. Dass Weil im Aufbau ihrer Streitschrift selbst von starken Glaubenssätzen und Axiomen ausgeht, spricht sie durchaus an, noch dazu mit einiger Eleganz. Auch ihr Bewusstsein, wie tief der Parteigeist in die Gesellschaft reicht, und wie viel also mit einer Abschaffung der politischen Parteien gefordert wird, ist scharf. Der Text verblüfft dabei mit seiner Gradlinigkeit und seiner entwaffnenden Schlüssigkeit.
Die kleine Schrift gehört zu den letzten Werken Weils und entstand 1943. Sie war nach einem kaum halbjährigen Exil in Amerika nach London zurückgekehrt, wo sie für die französische Exilregierung um de Gaulle arbeitete. Die Anmerkung entstand als Empfehlung für die Gestaltung der politischen Landschaft im zukünftigen Nachkriegsfrankreich – freilich ohne Früchte zu tragen. Weils Skepsis machte auch vor ihrem eigenen Umfeld nicht Halt, und auch der Gaullismus war ihr zuviel Partei.
Obwohl die Schrift aus anderen politischen Verhältnissen und einer anderen Zeit stammt, fühlt man sich bei der Lektüre, vergleichbar etwa der Lektüre von Machiavellis Principe, schamvoll ertappt, sobald man den Blick von den Buchseiten auf die eigene Umwelt richtet. Nicht nur deshalb sei dieses schmale Büchlein schlichtweg jedem politisch interessierten Menschen zur Lektüre empfohlen.
Am Ende der Lektüre bleibt man mit der großen, aber wohl vollends vergeblichen Hoffnung zurück, dass Gedanken wie die von Simone Weil hinter den geringen Wahlbeteiligungen in Europa stehen mögen.
Literaturangabe:
WEIL, SIMONE: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Aus dem Französischen von Esther von der Osten. diaphanes, Zürich/Berlin 2009. 60 S., 10 €.
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