BERLIN (BLK) — Im März 2008 erschienen Anna Seghers „Briefe von 1924 bis 1952“ im Aufbau-Verlag.
Klappentext: Anna Seghers schrieb ihre Briefe spontan, ganz auf den Moment und den Empfänger eingestellt. So unterschiedlich die Adressaten und Anliegen auch sind, so unverkennbar und eigentümlich ist die Stimme der Schreiberin. Nur durch diese Briefe aus Paris, Pamiers, Mexiko-Stadt und dem Nachkriegsberlin wissen wir heute von ihrem persönlichen Befinden, ihren Existenzsorgen im Exil, den Differenzen unter den Emigranten, der Sorge um die Familie und das Werk. Die erschütternden Briefe aus Südfrankreich, wo Anna Seghers um Visa und Geld zur Flucht aus Europa kämpfte, sind das authentische Gegenstück zu dem berühmten Roman „Transit“. Nach ihrer Rückkehr ins zerstörte Deutschland zeigen die Briefe, wie wurzellos sie sich fühlte, aber auch, wie energisch sie begann, sich als Autorin zu etablieren.
Netty Reiling wurde 1900 in Mainz geboren. (Den Namen Anna Seghers führte sie als Schriftstellerin ab 1928.) 1920—1924 Studium in Heidelberg und Köln: Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte und Sinologie. 1925 Heirat mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi. Umzug nach Berlin. Kleist-Preis. Eintritt in die KPD. 1933 Flucht über die Schweiz nach Paris, 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs. 1941 Flucht der Familie auf einem Dampfer von Marseille nach Mexiko. Dort Präsidentin des Heinrich-Heine-Klubs. Mitarbeit an der Zeitschrift „Freies Deutschland“. 1947 Rückkehr nach Berlin. Georg-Büchner-Preis. Von 1952 bis 1978 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR. 1978 Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 1983 in Berlin gestorben. (mül/köh)
Leseprobe:
©Aufbau-Verlag©
An Nico Rost, Berlin, 1. Juni 1948
Anna Seghers
Berlin-Zehlendorf West
Argentinische Allee 3
Pension Obigt
Berlin, den 1. Juni 1948
Lieber Nico,
ich danke Dir sehr für Deinen Brief. Ich hätte Dir längst geschrieben wenn ich nicht die ganze Zeit verreist gewesen wäre, fast drei Monate war ich nicht hier. Zuerst ein paar Wochen bei den Kindern, dann sozusagen durch Europa durch. Beides war in anderer Art sehr wunderbar. Ich bin nicht besonders gerne hier, das kann ich nicht behaupten, ich bin tief verbunden durch meine Arbeit, durch meine Sprache und was dazu gehört, oft überwiegt das so stark, dass ich einen großen Elan hab und sicher einen ungeheuer lustigen Eindruck mache. Ich bin auch abends immer todmüde und tagsüber habe ich keine fünf Minuten Zeit, über mich selbst zu denken. Ich möchte aber nicht hier sterben, da denke ich oft an den Satz von Tertulian; wenn Du den alten Kirchenvater kennst: Im Leben Gemeinsamkeit haben mit den Heiden ist erlaubt, im Tode nicht. — Sowas von Heiden haben sich weder Moses noch Paulus vorgestellt. Ich habe manchmal das Gefühl, kein Mensch erinnert sich richtig mehr, was das überhaupt ist, eine menschliche Beziehung. Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass das weder auf die engeren Freunde geht noch auf die ferneren. Es ist durch sie, dass meine Arbeit den großen Schwung hat und dass man manchmal die Veränderung vorausfühlt. Um sie immer zu fühlen, dazu muss man die Kraft und Geduld dieser Menschen haben, vielleicht auch das enorme Land im Rücken fühlen.
Ich habe Dir jetzt zu ernst, vielleicht aus einer zu traurigen Situation heraus, ich geniere mich ja nicht bei Dir, das Schwierige zu stark betont. Es gibt natürlich jede Woche, wenn ich schreibe, wenn ich Briefe lese, wenn ich Vorträge halte in Schulen in Fabriken usw. viele Augenblicke in denen ich mich für diese Stimmung beschimpfe, aber sicher sind dem lieben Gott verschiedene andere Völker besser geglückt. Nun, das ist sein Job. Das merkwürdige ist, dass ich auch jetzt, wenn man mich fragen würde, sofort wieder hierher käme, weil nirgends das Leben so intensiv gelebt ist, weil ich das Wichtigste auf der Welt nicht gekannt hätte, wenn ich das hier nicht kennen würde.
Nun, der Brief ist keine richtige Antwort auf Deinen, hängt aber doch damit zusammen, dass wenn Du schreibst, dass Du Dich nach Egons Tod noch mehr allein fühlst. Dass man sich unbedingt sehen muss, ja um Gotteswillen, so komm doch. Anfangs war es so, dass der Rodi bald kommen sollte, das hat bis jetzt noch nicht geklappt. Ich glaube auch, er konnte und sollte nicht in einer Weise fort, dass er nicht wann er will, zurückfahren kann. Dafür ist er viel zu sehr in die Menschen und in die Arbeit und sogar jetzt in die Sprache dort verwurzelt.
„Die Hochzeit von Haiti“ ist kein Buch, nur eine Novelle. Sie spielt auf den Antillen seit der Französischen Revolution, Negeraufstand, Volkskommissar und solche Sachen. Da die Antillen meine Lieblingsgegend sind (dort möchte ich zum Beispiel sterben) werde ich vielleicht aus demselben Milieu noch zwei kürzere Geschichten schreiben. Ich werde sie wahrscheinlich in einen dicken Novellenband hinein nehmen, den ich dieses Jahr fertig machen will. Ich glaube, es wird eine interessante Arbeit werden, Geschichten aller Zeiten und Völker, Liebesgeschichten, Kriminalgeschichten und so weiter mit einer lustigen, aber ernsten Dramenhandlung und einigen Sätzen, Diskussion, Widerspruch und Zustimmung, zwischen den Geschichten, eine Art modernes Dekamerone.
Zu „Haiti“ nur Landshoff, Querido hat von mir letzte Woche das endgültige Exemplar bekommen. „Der Aufbau“ hat es zwar schon angezeigt, aber nur weil er gierig ist, er hat es noch gar nicht. Ich möchte auch aus verschiedenen Gründen viel lieber, es kommt bei Querido heraus, eventuell gleichzeitig hier. Es wäre sogar für mich ganz gut, Du würdest bei Landshoff jetzt anfragen, ob er Dir nicht eine Kopie zum Übersetzen schickt, ich hätte Dich dazu bevollmächtigt. Ich glaube sogar, Du könntest an dieser Arbeit Deinen Spaß haben; dann weiß man auch gleich, ob das Manuskript auch wirklich bei ihm angekommen ist.
Mischa sagte mir letzte Woche, ich soll ein Vorwort für Dein Buch schreiben. Ich kenne das Buch noch nicht, ich werde es aber gern tun. Am besten ist, Du kommst her und ich mache es sofort unter Deinen Augen.
Es grüßt Dich,
Deine Anna
Nico, Deine Schrift ist fürchterlich, Du musst die Adressen deutlicher schreiben. Deine Schrift ist sogar tückisch, denn sie wirkt auf den ersten Blick wie eine saubere Schrift.
Dem Landshoff brauchst Du nicht zu sagen, dass ich die Absicht habe, noch mehr solche Geschichten zu schreiben. Mir ist ganz lieb, er gibt mal diese gesondert heraus.
©Aufbau-Verlag©
Literaturangabe:
SEGHERS, ANNA: Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde. Briefe 1924-1952. Aufbau-Verlag, Berlin 2008. 747 S., 36 €.
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