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„Annäherungen an die Wirklichkeit“

Hans Joachim Schädlich wird 75

© Die Berliner Literaturkritik, 07.10.10

Von Wilfried Mommert

BERLIN (BLK) - Eigentlich hat Hans Joachim Schädlich mit seinem Roman „Tallhover“ über den „ewigen Spitzel“ schon 1986 einen Klassiker der deutsch-deutschen Literatur geschrieben. Bekannter allerdings wurde diese Figur Schädlichs, der am Freitag (08.10.2010) 75 Jahre alt wird und wieder an einem neuen Roman schreibt, erst später: Sie inspirierte Günter Grass zu dem heftig umstrittenen, 1995 erschienenen Deutschland-Fontane-Treuhand-Roman „Ein weites Feld“.

Schädlich, der Ende 1977 aus der DDR in den Westen gegangen war (nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns), hatte schon mit seinem im selben Jahr bei Rowohlt erschienenen Prosaband „Versuchte Nähe“ einen im Osten unterdrückten und im Westen als Sensationserfolg gefeierten „Klassiker“ veröffentlicht. Für den Kritiker Fritz J. Raddatz war es „das seit langem Wichtigste, was in der DDR an Prosa-Literatur entstand“. Günter Grass meinte sogar: „Seit Uwe Johnsons erstem Buch sind nicht mehr so eindringlich aus der Sache heraus die Wirklichkeiten der DDR angenommen und auf literarischem Niveau umgesetzt worden.“

Dabei hat der in Berlin lebende Sprachwissenschaftler nach seinen eigenen Worten nie mit „politischer Absicht“ geschrieben. „Ich will mich schreibend der Wirklichkeit nähern, die mich umgibt“ - oder aber der Vergangenheit, wie in seinem jüngsten Roman „Kokoschkins Reise“: eine Zeitreise mit Rückerinnerungen seiner Protagonisten an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren Schicksalen, Verfolgungen, Machtmechanismen und Emigrationen. 2003 erschien sein Roman „Anders“ über Menschen, die „anders“ sind als die „normale“ Umgebung oder die hinter Masken leben, zum Beispiel auch beim Wechsel politischer Systeme.

Die Masken in der eigenen Familie musste Schädlich - wie viele andere auch nach dem Ende der DDR - in den Akten der Stasi- Unterlagenbehörde entdecken, als er in den frühen 90er Jahren von der Spitzeltätigkeit seines Bruders, des Historikers Karlheinz Schädlich, erfuhr. Dieser hatte ihn, Grass und die Literaturszene in Ostberlin als „IM Schäfer“ bespitzelt; 2007 erschoss er sich auf einer Parkbank im Prenzlauer Berg. Hans Joachim Schädlich schrieb darüber „Die Sache mit B.“, seine Tochter Susanne Schädlich schrieb das Buch „Immer wieder Dezember - Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich“, eine Ost-West-Geschichte über Heimatlosigkeit und persönliche Schicksale von Familien zwischen Vertrauen und Verrat.

Hans Joachim Schädlich interessierte aber darüber hinaus generell stets auch „Der andere Blick“, wie der Titel einer Sammlung mit Aufsätzen, Reden und Gesprächen lautet. „Anders“ eben, wie auch sein Protagonist Schott zu leben versucht, so wie Schädlich den Erfinder, Flaneur, Raucher und Hundehasser in seinem „Schott“-Roman von 1992 beschreibt.

Der am 8. Oktober 1935 in Reichenbach im sächsischen Vogtland geborene Schädlich war von 1959 bis 1976 - nach seiner Entlassung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ - wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin und hatte bereits Ende der 60er Jahre Texte verfasst, in denen er versuchte, das Leben in der DDR und deren Machtmechanismen darzustellen. Dies rief zwar ein großes Interesse bei Lektoren verschiedener Verlage hervor, die aber vor einer Veröffentlichung zurückschreckten.

In der Bundesrepublik erhielt Schädlich zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Kleist-Preis, den Berliner Literaturpreis, den Heinrich- Böll-Preis der Stadt Köln, den Schiller-Gedächtnis-Preis sowie den Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und zuletzt den Internationalen Buchpreis Corine für „Kokoschkins Reise“.


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