Werbung

Werbung

Werbung

Das Funktionärskind

Chaim Nolls Roman „Der goldene Löffel“

© Die Berliner Literaturkritik, 04.06.09

BERLIN (BLK) – Im März 2009 ist im Verbrecher Verlag Chaim Nolls Roman „Der goldene Löffel“ erschienen.

Klappentext: Ein junger Mann in der DDR in den Siebziger Jahren. Sein Vater ist Funktionär, es geht ihm überdurchschnittlich gut, dass die Ehe der Eltern bröckelt, interessiert ihn kaum. Er verbringt die Tage im Haus der Künstlerfamilie seiner Freundin, die Mutter zieht Strippen von Ost nach West. Alle haben sich eingerichtet. Doch bald kommt dem jungen Mann die Liebe dazwischen, und Fragen stellen sich ihm, die ihn zu etwas ganz anderem werden lassen als einem hoffnungsvollen und begeisterten Kandidaten der Partei... Chaim Noll erzählt von den Vergünstigungen der Parteifunktionäre, aber auch von ihren Ängsten, Beklemmungen und dem Willen, sich zu widersetzen. Von den Mechanismen, die Menschen zerstören, sie in Paranoia, in den Alkohol, ins Mittläufertum drängen — nicht nur in der DDR.

Chaim Noll wurde 1954 in Ostberlin geboren. Sein Vater ist der Schriftsteller Dieter Noll. Er verweigerte den Wehrdienst in der DDR. 1983 reiste er nach Westberlin aus, 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel. (köh/mül)

Leseprobe:

©Verbrecher Verlag©

Ich besuchte das Haus, trank Tee mit Alice, schwieg mit Violettas Bruder und erlebte die Auftritte von Rosita Rosen. Die Schwestern hießen eigentlich Tartakower, ihre Großeltern stammten aus Odessa, erst der Vater hatte sich in Berlin assimiliert. Rosita hatte für sich den Nachnamen Rosen erfunden, verheiratet war sie nie, und Alice erging sich in dunklen Andeutungen, warum nicht. „Du weißt ja“, sagte sie, „dass meine Schwester die Männer nicht liebt. Überhaupt nicht, verstehst du?“

Rosita war groß und ging leicht gebeugt, das Vertikale ihrer Erscheinung wurde durch eine lange, klassisch gerade Nase betont, die ihrem Gesicht einen Ausdruck von komödiantischer Strenge verlieh. Darüber helle Augen mit geschwungenen Ober- und Unterlidern, Augen, die viel Weiß zeigten und sich langsam bewegten. Neben ihr wirkte Alice unscheinbar, auch wenn sie die Haare schwarzgefärbt und offen trug, sich grell schminkte und überall, wo sie ging und stand, Trubel und Lärm verursachte. Schon früh um fünf warf sie im Obergeschoss des Hauses die Waschmaschine an und löste damit eine Kette von Handlungen und Ereignissen aus, die das Leben aller anderen bestimmten. Nur Rosita blieb vollkommen ungerührt, sie schritt durch die Zimmer, als trüge sie Gewänder mit Schleppen und darunter Koturne. Alice sah ihr nach und murrte: „Man kann sich kaum vorstellen, dass sie in London als Hausmädchen gearbeitet hat.“ „Rita?“ fragte ich überrascht.

„Ja, sie war Köchin oder so was“, sagte Alice mit Genugtuung. „Bei einer Familie Power-Robinson. Rosa hat mir die Geschichte hundertmal erzählt. Sie hatte den Anschluss verpasst in Paris, ihre Leute waren längst drüben in Amerika. Erst kurz bevor die Nazis einmarschiert sind, ging sie nach London. Und kam dort nicht mehr weg. Für die Einreise in die USA musste man zwei Bürgen angeben, außerdem war die Einwanderungsquote für deutsche Staatsangehörige längst überschritten. Die Revue-Leute, auf die Rosa gehofft hatte, kamen drüben nicht zurecht. Einer ließ sich von seiner Frau ernähren, die als Näherin in eine Fabrik ging. Valeska Gert hatte eine Bar in New York, aber das wäre auch nichts für Rosa gewesen: zu viele Männer. Jedenfalls hatten alle mit sich selbst zu tun. Wie Rosa nun an diese Power-Robinsons gekommen ist, weiß ich nicht. Sie musste dort täglich fünf Mahlzeiten zubereiten: Breakfast proper, mit Tee und Toast und Bacon, dann Lunch, da ging schon die Kocherei los, zum Dinner kamen meist Gäste, außerdem noch der Fünf-Uhr-Tee, da waren Platten mit Sandwiches vorzubereiten, schließlich Supper und hinterher der Abwasch, es ging bis spät in die Nacht. Sie musste früh aufstehen und zum Markt gehen und Gemüse, Fisch und Geflügel einkaufen, sich mit den Marktfrauen herumzanken und so weiter — sie behauptet, sie hätte es für schauspielerische Studien genutzt. Kann sein. Rosa hat eine Eigenschaft, die wirklich unbezahlbar ist: Sie kann aus jeder Situation etwas machen. Sie fiel auch bald der Dame des Hauses auf, einer blutarmen, todlangweiligen Zicke, eben Mrs. Power-Robinson, denn Rosa hat sich immer gut gehalten, und glaube mir, Adam, darauf kommt es an. Auch im Lager, im KZ. Ich habe in Ravensbrück französische Huren gekannt, die immer auf ihre Wäsche geachtet haben, oder was wir dort Wäsche nannten, und die haben überlebt. Du musst möglichst immer auf dich halten. Wir haben im Lager Gedichte auswendig gelernt, um nicht zu verblöden... Naja.

Rosa hat eine Weile durchgehalten, zum Schluss wurde sie, und das glaube ich ihr aufs Wort, der heimliche Despot des Hauses. Erst änderte sie die Art zu kochen. Ihre Vorgängerinnen, Engländerinnen, hatten das Gemüse einfach ins Wasser geworfen, bis es zerkocht war. Rosa hatte als Kind unserer Köchin zugesehen, sie hatte offenbar Talent dafür. Und Geduld, mit den Leuten richtig umzugehen. Mrs. Power-Robinson klingelte nachts um zwei nach einem Glas Zuckerwasser und ähnliche Scherze. Schließlich hat sie den Frauen der Familie die Frisuren gemacht, und Mr. Power-Robinson ist fast in Ohnmacht gefallen, als er seine Alte plötzlich als Vamp sah. Man hat ihn im Club darauf angesprochen, er hat Rosa schließlich Geld angeboten, wenn sie freiwillig das Haus verlässt. Auch das glaube ich ihr aufs Wort — wenn ich Geld übrig hätte, würde ich es selbst gern tun. Rosa bewarb sich in einem Kaufhaus als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung, und gegen Ende des Krieges war sie Personalchefin. Sie hat ein phantastisches Gespür für Menschen. Als sie nach Berlin zurückkam, hat sie Geld mitgebracht, und das war sicher das größte Kunststück in ihrem Leben. Also eins werde ich ihr niemals absprechen, Adam: Rosa ist eine Künstlerin.“

Der Film „Kein Mensch ist eine Insel“ lief eines Abends im Fernsehen, wir sahen ihn gemeinsam mit Rosita. Als die Gestalt auf dem Bildschirm singend die Beine schwenkte, ließ Rosita im Sessel neben mir den Unterschenkel hochklappen wie in einem Scharnier und rief: „Meine Beine! Seht doch, sie sind noch wie damals!“ Und sie fügte hinzu: „Wenn sich doch alle so gehalten hätten ...“ Nein, die guten Zeiten waren vorbei, auch solche Filme gab es nicht mehr, die heutigen Filme wären „Männerfilme“. — „Es ist überhaupt eine frauenfeindliche Zeit. Die zwanziger Jahre waren wie das Rokoko, voller Courtoisie und Feingefühl. Da blühen die Frauen auf. Jetzt ist alles aus. Es gibt keine Damen mehr, nur noch Huren. Damals fing das an... Die Männer sind daran schuld. Die Männer von heute sind gemein und ordinär, alles Feinere ist ihnen abhanden gekommen, nur noch Macht, Politik und Geld — sie nennen es Vernunft ...“

„Du spinnst“, erklärte Alice. Rosita bedachte sie mit einem Blick aus halbgeschlossenen Lidern. „Und Frauen wie du machen mit.“

Offiziell hieß Alice Dolmetscherin, sie nahm an den Proben der Oper teil und übersetzte die Anweisungen der russischen Choreographen, die das Ballett ausbildeten und trainierten. Die Ballettmeisterin Glasunowa vom Bolschoj-Theater kam alle halbe Jahre nach Berlin, mit dem Moskauer Zug, der spätabends, gegen Mitternacht, in den Ost-Bahnhof einfuhr. Einmal begleiteten Violettas Bruder und ich Alice dorthin, um einen Koffer voller Ballettschuhe, den die Glasunowa im Gepäck hatte, zu Alices Auto zu tragen. Alice fuhr einen Renault aus dem „Sonderkontingent“, einen noch neuen, aber schon stark in Mitleidenschaft gezogenen Kombi, dessen Ladefläche mit Paketen und Taschen vollgestopft war. Wir verstauten, während sich zwischen Alice und der Moskauer Ballettmeisterin ein schnellzüngiges Hin und Her in russischer Sprache entspann, den zentnerschweren Koffer so gut es ging zwischen dem herumliegenden Kram, zwängten die Klappe zu und setzten uns auf die hinteren Sitze.

Vorn holte die Glasunowa erste Geschenke aus ihrer Handtasche, Moskauer Konfekt in rissigen Papiertüten, nach süßer Pappe schmeckende Zigaretten und Parfum für Violetta, stark duftendes, schweres Parfum, das Violetta niemals benutzen und das auf einem Schrank verstauben würde, in seiner Flasche in Form eines stilisierten Eisbergs, die oben als Pfropfen ein kleiner gläserner Eisbär zierte. Die Glasunowa schenkte uns, als sie uns diese Gaben nach hinten reichte, ein hinreißendes Bühnenlächeln und fuhr fort, zu parlieren, zu schnattern und kleine Papageienschreie auszustoßen — „oj!“, „ajajaj!“ — in schwirrenden Tönen, begleitet von Fingerpirouetten, eine Darbietung in kalter Exaltation. Sie war ganz die kultivierte Moskauerin, voller Kunstsinn, jederzeit zur Verehrung und Vergötterung begnadeter Artisten bereit. Sie schwärmte immer für irgendwen, für einen Tänzer oder Dirigenten, und nicht selten wurde sie tief enttäuscht: der oder die Betreffende hatte sich „abgesetzt“ und war „im Westen geblieben“. Oft mit Schaden für das Gastspiel der Oper. Wo sollte man so schnell einen neuen Romeo herbekommen, einen Onegin oder einen Faun? Letztens musste in Venedig eine Vorstellung der „Schlecht behüteten Tochter“ abgesetzt werden, weil die Hauptdarstellerin geflohen war, und Alice und die Glasunowa wurden nach ihrer Rückkehr irgendwohin bestellt und hatten sich zu verantworten.

©Verbrecher Verlag©

Literaturangaben: NOLL, CHAIM: Der goldene Löffel. Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 265 S., 13 €.

Weblink:

Verbrecher Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: