Von Rudolf Grimm
HAMBURG (BLK) — Wie Menschen miteinander umgehen, sagt viel aus über sie und auch die Gesellschaft, in der sie leben. Verhaltensweisen sind von Land zu Land, von Region zu Region unterschiedlich. Doch welche Sitten und Gebräuche sind besser als andere? Ein schier unlösbarer Streit. Professor Karl Heinz Göttert von der Universität Köln zeigt mit seiner Geschichte des Anstands in Europa unter dem Titel „Zeiten und Sitten“ (Verlag Philipp Reclam jun.), wie komplex das Thema ist und immer schon war.
Deutlich wird, dass sich die Verhaltensweisen der Menschen insgesamt gesehen im Laufe der Zeiten weder gebessert noch verschlechtert haben, auch wenn ihr Pendel manchmal weit ausgeschlagen ist, wie Göttert verzeichnet. Er nennt als Beispiel die Provokationen von Vertretern der altgriechischen kynischen Lebenslehre, die öffentlich onanierten und ihr Geschäft verrichteten, um zu demonstrieren, dass alles Körperliche „natürlich“ sei und Scham nur ein repressiver Mechanismus.
Einen weiteren solchen negativen Pendelausschlag, diesmal in der jüngeren deutschen Geschichte, beschrieb Sybil Gräfin Schönfeldt 2008 in ihrem Buch „Anstand“. Dass Studenten 1968 Professoren bespuckten und Kinder damals „den Sexualverkehr übten“, wertete sie als Abfall von Bewährtem.
In der Gegenwart mischt sich das Positive mit dem Negativen fast täglich, beispielsweise wenn man nach Tugenden und Unarten der Deutschen fragt. Ein ausländischer Fußballprofi sagte kürzlich, wenn ein Deutscher einem etwas verspreche, halte er es auch. Hotels und Restaurants in Italien finden deutsche Gäste besonders zuverlassig beim Bezahlen der Rechnung. Unangenehm fallen indessen Schweizern die Teutonen auf, die die SkiliftSchlange ungefähr in der Mitte entern. Jahrelang waren an überfüllten südlichen Stränden deutsche Badegäste daran zu erkennen, dass sie ein Handtuch ausbreiteten, um einen Platz für sich zu belegen — die britische Presse rief vor einigen Jahren gar den „Handtuchkrieg“ aus.
Umfragen beweisen immer wieder, dass den Menschen Höflichkeit und respektvoller Umgang miteinander wichtig sind. Einer Umfrage der „Apotheken Umschau“ vom Dezember 2008 zufolge halten es fast 96 Prozent der Befragten über 14 Jahren für angebracht, in Bus oder Bahn für Schwangere und ältere Menschen aufzustehen. Für fast ebenso viele gehört es zum guten Ton, sich zu entschuldigen, wenn man jemanden angerempelt hat. Im Alltag sieht das hingegen oft anders aus, das genaue Gegenteil ist der Fall. Als Ursache machte die Zeitschrift „Psychologie heute“ (Weinheim) kürzlich unser Wirtschaftssystem mit seinem Konkurrenzkampf aus: „Wir leben in einer Zeit der strukturellen Rücksichtslosigkeit.“
Möglicherweise ist eine gewisse Grobheit aber auch „typisch deutsch“. Der frühere Direktor des Ostasieninstituts der Universität Duisburg, Florian Coulmas, schrieb im Jahr 2001 — nach fast 20 Jahren in Japan — ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Deutschen schreien“. „In Japan hat man mehr Geduld“, sagte er. Deutsche brächten durch ihre Grobheit auch ihre Kinder dazu, grob zu sein.
Unter den Ländern, die von Deutschen wegen ihrer entspannten Lebensweise besonders positiv beurteilt werden, ist Australien. Der Historiker Hans Mommsen brachte nach einem Aufenthalt seinen Eindruck von den Australiern auf die Formel „Keiner ist etwas Besseres als der andere“, ein Bewusstsein, das auch ihren Umgang miteinander bestimme.
In Götterts Geschichte des Anstands ist ein zentrales Thema wie die zitierten Autoren — darunter als erster Homer (8. Jahrhundert vor Christus) — die Probleme des Anstands in der Praxis beschreiben. So etwa, ob man im Umgang ehrlich, aufrichtig, natürlich, ungezwungen sein soll oder auch ein Verbergen der Gefühle nötig ist. Soll man Komplimente machen, schmeicheln, weil den meisten Menschen das gefällt, ihnen guttut? Soll man alle gleich behandeln, sich an Konventionen ausrichten? Der Brite Francis Bacon (17. Jahrhundert) sah die beste Mischung darin, „im Ruf und im Ansehen von Offenheit zu stehen, Verschwiegenheit zu üben, aber mit Maßen sich verstellen und heucheln zu können, falls nichts anderes übrig bleibt.“ Für den Niederländer Erasmus von Rotterdam (16. Jahrhundert) war es zivil, sich an Regeln zu halten, aber noch ziviler, Verstöße dagegen zu erdulden.
Im Mittelalter schrumpfte fast die gesamte Anstandsproblematik auf das Benehmen bei Tisch zusammen. Ein Tischzucht-Text, vermutlich von dem Dichter Tannhäuser (13. Jahrhundert), schildert denn auch drastisch schlechtes Benehmen: Rülpsen, Schmatzen, Messer als Zahnstecher benutzen, Knochen abnagen, ins Tischtuch schnäuzen.
Als Protagonist der Publikationen der Deutschen Friedrich Dedeking und Kaspar Scheidt (16. Jahrhundert) fungiert ein „Grobianus“. Niemand käme auf die Idee, ihm zu folgen, doch seine mit antiken und sonstigen Lehren versehenen Provokationen erfreuen die meisten Leser selbst wenn zum Furzen in aller Öffentlichkeit aufgefordert wird, weil es besser sei, grob und gesund zu sein als krank und höflich.
Der äthiopische Prinz AsfaWossen Asserate nannte 2003 in seinem Buch „Manieren“ hingegen ein Beispiel extremsten Anstands: Ein adliger Herr zur Zeit der Französischen Revolution soll auf dem Weg zur Guillotine noch gefragt haben, was man dem Henker als Trinkgeld schulde.