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(Anti-)Kultur im Nationalsozialismus

Ein Sammelband über „Die Kultur der 30er und 40er Jahre“

© Die Berliner Literaturkritik, 15.09.09

Von Marco Gerhards

Der Titel dieses historischen Sammelbandes ist ein großes Rätsel: „Die Kultur der 30er und 40er Jahre“ lautet er und suggeriert, dass hier jemand über die Grenzen des Nationalsozialismus hinweg versucht hat, epochale Kulturabschnitte in Dekaden vorzunehmen, ganz ähnlich wie jemand von der Musik in den 60ern oder der Mode in den 80ern spricht. Dieses Vorhaben, so dünkt einem, der eben jenes aufgrund des Titels vermutet, ist außerordentlich schwierig, aber deshalb vielleicht umso interessanter und wertvoller. Korrekterweise jedoch hätte der Titel lauten müssen „Die Kultur im (oder des) Nationalsozialismus“ und nicht, aber auch gar nicht anders.

So beschäftigen wir uns mit einem Buch, dessen unpassender Titel schon andeutet, dass das Thema Nationalsozialismus immer noch nicht ganz so einfach zu meistern ist. Auch nicht für Nachkriegswissenschaftler wie Herausgeber Werner Faulstich, der immerhin gleich zu Beginn einräumt, dass jede Geschichte der 30er und 40er Jahre Nazigeschichte sei. Aber der Krieg war doch schon 1945 vorbei und nicht jeder, vor allen Dingen von denjenigen, die in diesen Jahrzehnten kulturell produktiv waren, reüssierte als Nazi, mag man einwenden. Genau mit jenen Einwänden beschäftigt sich dann tatsächlich der vorletzte Beitrag in diesem Band, mit dem Widerstand oder vielmehr dem Dissens damaliger Gruppierungen.

Inhaltlich sind die einzelnen Beiträge sauber und gewissenhaft recherchiert. Mit dem notwendigen Maß und der scheinbar widersprüchlichen Mischung aus Distanziertheit und Kompromisslosigkeit vorgestellt bringen sie den Interessierten näher, dass Literatur, Theater, Medien, Kirchen, Musik oder bildende Kunst, wie alles andere eigentlich auch, vollständig zentralisiert und okkupiert wurden und machtpolitisch destruktiv und begierig ausgenutzt und missbraucht wurden. Nichts Neues eigentlich, aber dennoch in dieser singulären Ausrichtung interessant und wichtig. Besonders der Volksempfänger, also das nicht nur verbal institutionalisierte Massengerät Radio, wird zum Prototyp des Propagandakampfes und der gezielten Volksverdummung und Menschenverachtung.

Auch in größerem Umfang kulturell bedeutende Thematiken wie Jugendbewegungen, Frauenrollen oder Pädagogik werden gewissenhaft analysiert und kommen zum immer wieder gleichen, schrecklichen, auch nach mehreren Generationen nahezu unvorstellbarem Ergebnis: der Erkenntnis, dass die Nazikultur eine Antikultur gewesen ist, die durch perfide Gleichschaltung und barbarische Säuberung funktionierte und nichts anderes konnte, als zerstören und manipulieren. Und so endet jener Band folgerichtig mit der Untersuchung, inwieweit das Bewusstsein des Holocausts den Zeitgenossen präsent gewesen sei. Genauso, wie heute den Menschen bewusst ist, dass sie sich mit schrecklichen Fernsehsendungen verdummen und zu Marionetten machen lassen, um die Wirklichkeit in irgendwelche Ecken ihres Bewusstsein zu verdrängen, genau so oder so ähnlich muss man sich den Umgang mit den erschreckenden Wahrheiten vor 70 Jahren vorstellen.

Das Buch ist interessant, ehrlich und historisch wichtig. Es ist kein Buch über die Kultur irgendwelcher Dekaden, sondern ein Bericht über den Nutzen und die Ausnutzung nationalsozialistischer Kulturvorstellungen, die, und das ist nicht das Neueste, aber für die Folgegenerationen immer noch das Wichtigste, auch in die Nachkriegsjahre – und nicht nur in den 40er Jahren, wie man es aufgrund in der Einleitung unsauberer Artikulation verstehen könnte - übernommen wurden. Was Bosch und Siemens (und ihr antisemitisches Gedankengut!) in der Industrie für die Nazis und gleichzeitig für die Nachkriegsgesellschaft waren, sind Bertelsmann oder Dumont und viele andere mehr in der Kulturbranche. Das ist über die Nazizeit hinaus schrecklich und stößt einem auch mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende noch bitter auf. Vielleicht haben deswegen historische Bücher über das dritte Reich so eine wichtige Funktion. Weil sie den schwelenden Rest immer wieder zu ersticken versuchen, ersticken müssen.

Literaturangabe:

FAULSTICH, WERNER (HRSG.): Die Kultur der 30er und 40er Jahre. Wilhelm Fink Verlag, München 2009. 266 S., 39,90 €.

Weblink:

Wilhelm Fink Verlag


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