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„Arbeiten. Werde ich es können?“

Rainer Maria Rilke - Autor zwischen den Epochen

© Die Berliner Literaturkritik, 26.03.10

Von Daniel Möglich

BERLIN (BLK) - „Die giebelige, türmige Stadt ist seltsam gebaut: Die große Historie kann in ihr nicht verhallen … Glänzende Namen liegen, wie heimliches Licht, auf den Stirnen stiller Paläste … Brücken sind über den gelblichen Strom gebogen, der, an den letzten verhutzelten Hütten vorbei, breit wird im flachen böhmischen Land“, so beschreibt der 24-jährige Rainer Maria Rilke in der Jugendstil-Zeitschrift „Ver Sacrum“ seine Heimatstadt Prag. Und es ist sonderbar: Diese Stadt, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine große geistige und kulturelle Blütezeit erlebte, hat in der Physiognomie Rilkes tiefe und unverlierbare Spuren hinterlassen. Seltsam gebaut, gelblich, verhutzelt, irgendwie böhmisch im Profil - trifft das alles nicht auch auf Rilke zu? Zahlreiche Photographien, die entlang seines Lebenswegs entstanden sind, zeugen von dieser Prägung, dieser Ähnlichkeit - und selbst Rilkes Totenmaske, um die jahrzehntelang ein großes Rätselraten herrschte, tut das noch auf eine fast jenseitige, schattenhafte Weise. Allein das groteske Oberlippenbärtchen, das Rilke Zeit seines Lebens jeden Morgen mit zwei bis drei Fingerspitzen süßlich duftender Brillantine bestreicht, betupft und bestäubt - dieser physiognomische Skandal ist wohl allein mit seiner Prager Herkunft nicht zu erklären.

Die Absinthgläser im National-Café, der blasse Ton des Himmels, die Bordelle am Quai, der Turm von St. Veit, die Kleinseite mit dem Hradschin, die Teynkirche, die Bordelle am Altstädter Ring, lauter Heiligtümer, die Militärspitäler, der wunderschöne Monat Mai, Primeln und Anemonen, die Bordelle am Brückenturm, Kaiser Rudolf II., die Pest in der Judenstadt, die steinernen Brüste der Jungfrau Maria, Rabbi Löw, der uralte Holunder in den Gärten des Stahover Klosters – kurz: Prag war das stimmungsmäßige und topographische Versuchslabor, dem Rilke kurz vor der Jahrhundertwende als Künstler entschlüpfte. Und wohin er auch ging, was er auch tat, ein Hauch dieser Stadt umwehte ihn stets.

Im November 1894 erschien bei Kattendit, einem winzigen Verlag in Straßburg und Leipzig, Rilkes erster Gedichtband „Leben und Lieder. Bilder und Tagebuchblätter“. Er ist mit der Widmung „Vally von R… zu eigen“ versehen. Vally, das ist Valerie von David-Rhonfeld, Rilkes Geliebte, Muse und Kummerkasten, die von ihrem Taschengeld und durch den Verkauf geerbter Ohrringe den Druck finanziert hatte. Ein Jahr später folgte sein zweiter Gedichtband „Larenopfer“, in dem er seiner Heimatstadt Prag ein Denkmal setzt. Ein Gedicht ist Kajetan Týls gewidmet, dessen damals sehr populäres Lied „Kde domov můj“ (Wo ist meine Heimat?) nach 1918 zur tschechischen Staatshymne werden sollte. Rilkes frühe Lyrik pendelte ebenso unbekümmert wie phantasievoll zwischen Naturalismus, Jugendstil und Neuromantik.

Die Zeit kurz vor der Jahrhundertwende leitete einen Stilwandel ein: Das Ich tritt allmählich zurück und abstrakte Wendungen werden häufiger. In den folgenden Jahren entwickelte Rilke, ausgelöst durch seine beiden Russland-Reisen mit Lou Andreas-Salomé (1899/1900) und seinen Aufenthalt in Paris, eine große poetische Eigenständigkeit. Im August 1902 siedelte Rilke nach Paris über, wo er zeitweilig als Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin arbeitete. Der Einfluss Rodins vertiefte den grundlegenden Wandel von Rilkes Kunstverständnis: An Stelle der Inspiration und des genialen Augenblicks sollte die fortwährende und unbeirrbare Arbeit treten. Doch nur selten gelang es Rilke, die ewigen Selbstzweifel zu vertreiben. In einem Brief an seine Frau Clara Westhoff fragt er: „Arbeiten. Werde ich es können?“ Er konnte es, besser denn je, und ein nuancenreicher, plastischer Stil prägte zunehmend die Lyrik und Prosa, die nun weniger Stimmungen und Gefühle, sondern kleine und kleinste Beobachtungen und Erlebnisse von Dingen in Sprache ausdrückte. In rascher Folge entstanden „Das Buch der Bilder“ (1902), „Auguste Rodin“ (1903), „Das Stunden-Buch“ (1905) und „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (1906). Der „Cornet“ wurde Rilkes erfolgreichstes Buch: Auf Anraten von Stefan Zweig erschien es als erster Band der von Anton Kippenberg herausgegebenen „Insel-Bücherei“.

Parallel zum „Cornet“ arbeitete Rilke an seinem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Lau­rids Brigge“, der heute vor 100 Jahren im Leipziger Insel Verlag erschienen ist. Das zweibändige Werk, in dessen Mittelpunkt ein 28 Jahre alter Däne aus einem aussterbenden Adelsgeschlecht steht, bricht innerhalb der deutschen Literatur als erstes radikal mit dem realistischen Roman des 19. Jahr­hunderts. Bilder der Krankheit, des Todes, des Ekels dringen in Malte ein, nur durch Sehen, Beobachten, Benennen ist er in der Lage, das Schreckliche zu bannen - und am Ende steht die Frage: Stirbt Malte oder stirbt er nicht? Während der Roman keine Antwort gibt, war für Rilke klar: Die „Dekadenz des Verlaufes“ - nicht nur des Romans, sondern des Lebens schlechthin - lasse gar keine andere Möglichkeit zu als Maltes Untergang.

Rilke selbst starb am 29. Dezember 1926 an Leukämie und wurde vier Tage später in Raron (Schweiz) begraben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch an einer vernachlässigten, abgelegenen Stelle des Himmels schon eine andere Heimat gefunden. So sagt man.


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