Werbung

Werbung

Werbung

Arno Geiger: Alles über Sally

Eine Geschichte von Ehe und Liebe in unserer Zeit

© Die Berliner Literaturkritik, 17.02.10

MÜNCHEN (BLK) – Der Roman „Alles über Sally“ von Arno Geiger ist Anfang Februar 2010 im Carl Hanser Verlag erschienen.

Klappentext: Alfred und Sally sind schon reichlich lange verheiratet. Das Leben geht seinen Gang, allzu ruhig, wenn man Sally fragt. Als Einbrecher ihr Vorstadthaus in Wien heimsuchen, ist plötzlich nicht nur die häusliche Ordnung dahin: In einem Anfall von trotzigem Lebenshunger beginnt Sally ein Verhältnis mit Alfreds bestem Freund. Und Alfred stellt sich endlich die entscheidende Frage: Was weiß ich von dieser Frau, nach dreißig gemeinsamen Jahren? Arno Geiger, der international gefeierte Buchpreisträger aus Österreich, schreibt noch einmal den großen Roman vom Liebesverrat. Eine Geschichte von Ehe und Liebe in unserer Zeit.

Arno Geiger wurde 1968 in Bregenz geboren und wuchs in Wolfurt/Vorarlberg auf. Er absolvierte ein Studium der Deutschen Philologie, Alten Geschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und Innsbruck und arbeitete als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen. Heute lebt er als Schriftsteller in Wolfurt und Wien. Er veröffentlichte bereits zahlreiche Romane, darunter „Kleine Schule des Karusselfahrens“ (1997) und „Es geht uns gut“ (2005). Für sein Werk erhielt er unter anderem den Friedrich Hölderlin-Förderpreis (2005), den Deutschen Buchpreis (2005) und den Johann Peter Hebel-Preis (2008). (kör)

 

Leseprobe:

© Carl Hanser Verlag ©

 

„Ich habe heute Nacht von Nilpferden geträumt.“

Alfred war aufgewacht, weil Sally ihm die Nase zugehalten hatte. Sie saß neben ihm auf den Fersen und schaute neugierig auf ihn herab aus ihrem offenen, sympathischen Gesicht.

„Ich mag deine Haut“, sagte sie fröhlich. „Sie ist so zart und doch fühlt man die Spannung.“

Den Morgenruf des Muezzins hatte Alfred glücklich verschlafen, jetzt schien die Sonne direkt aufs Bett, der blecherne Wecker auf der alten Munitionskiste zeigte auf Viertel nach sieben. Die Fliegen, die nachts ruhig an den Wänden geblieben waren, kamen auf ihn herunter und umschwirrten ihn. Er versuchte sie mit der Hand zu verscheuchen, eine setzte sich auf Sallys Oberschenkel.

„Du bist so weich“, sagte sie.

„Mir kommt es wie ein Wunder vor, dass eine Frau schon in der Früh gute Laune hat“, brummte Alfred erleichtert. „Alle Frauen, mit denen ich bisher zusammen war, mussten zuerst unter die Dusche.“

„Ich muss ebenfalls unter die Dusche“, sagte sie.

„Aber nicht, um mich zu mögen, sondern nur damit du nicht stinkst.“

Er seufzte behaglich und schmiegte sich mit leisen Kehllauten zurück in die Kissen, er war müde wegen der Probleme, die ihm seine Gallenblase machte, zu viel Kaffee, zu viele Zigaretten, zu viele Süßigkeiten. Jetzt fiel ihm ein, dass dies der Tag war, an dem das Röntgen gemacht werden sollte. Die nächtlichen Vorbereitungen hatte er erfolgreich überstanden, am Abend um zwanzig Uhr ein leichtes Essen, um vierundzwanzig Uhr diverse Pillen, jetzt musste er lediglich noch bis zum Mittag durchhalten und nüchtern bleiben. Sein durch Arbeit und Sex geprägter Lebenswandel hatte den ersten Röntgentermin vor einer Woche vermasselt, er war schon um zehn eingeschlafen und erst um vier wieder aufgewacht, zu spät für die Medikamente. Diesmal hatte er sich mit der Reinschrift des Amulettkästchen- Artikels für Stuttgart wach gehalten. Sally längst im Bett, er in der Küche am heftigen Tippen, das Farbband gab nicht mehr viel her, Klingeln der Randglocke. Später war ihm das Einschlafen schwergefallen, die mantelknopfgroßen Pillen hätte er beinahe nicht hinuntergebracht, dazu die Grübelei wegen seiner finanziellen Situation, er sackte immer weiter ab. Ehe die Museen in Wien und Berlin ihre Außenstände beglichen, war er längst gepfändet. Im Halbschlaf hatten ihn Zahlen geritten, er hatte imaginäre Briefe an seine Tanten und seine Großmutter verfasst, in denen er ihnen in die Geldbörsen schielte. Unglücklicherweise bezweifelten die dörflichen Damen die Ehrbarkeit seiner Kairoer Arbeit und glaubten, er bringe sein Geld mit Drogen durch. Wie es aussah, war er gezwungen, Sally zu bitten, ihm aus der Klemme zu helfen, seines Wissens war sie ebenfalls blank.

„Kommst du?“ fragte sie. Sie küsste ihn auf den Nacken, ihre Brüste streiften über seinen Rücken. Dann ging sie zum Fenster und öffnete es, um die vom Schlaf verbrauchte Luft zu erneuern. Vom Delta kamen frische Fuhren mit einer leichten Brise heran, der intime Hauch des Nahen Ostens strich über Sallys Gesicht. Und der Verkehr schrie: Ich auch! Ich auch! Das Jaulen, Röhren und Kreischen sprang sie an, und mit den Geräuschen frische Gerüche von Brot, Dung, Holzfeuern und aromatisierten Wasserpfeifen.

Einen Moment lang blieb Sally im offenen Fenster stehen, sie spürte die erste Sonnenwärme und kriegte Lust, vor Glück zu schreien. Es war nicht schwer, sich in dieser Stadt wohl zu fühlen. In Wien liebte Sally ihre Freunde und noch anderthalb Menschen. Hier liebte sie das Leben.

Es war Anfang 1977, Sally befand sich in ihrem einundzwanzigsten, Alfred in seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr. Er wohnte im Stadtteil Aguza in einer wenig befahrenen Seitengasse der Sharia al-Nil, wo vom Balkon aus zur linken Seite ein Stück des Nils schimmerte und dem Hausbesitzer mit wechselnden Flussfarben erhöhte Mietgewinne sicherte. Die Wohnung war schön gelegen, für hiesige Verhältnisse nicht übertrieben laut, mit nur der üblichen Menge an ägyptischem Staub und ziemlich vielen Fliegen. Aus einem Lüftungsgitter unterhalb des Balkons dampfte schon am Morgen die Abluft einer Restaurantküche und verbreitete Essensgeruch. Das zog die Fliegen an. Leider war das nicht das größte Problem in der Wohnung. Als sehr viel lästiger als die Fliegen erwies sich der undichte Abfluss der Dusche. Unter dem Bad lag das Zimmer des Hausmeisters, das Wasser ging durch die Decke und tropfte genau auf sein Bett.

Das ging seit Wochen so. Alfred hatte große Mühe gehabt, einen Installateur aufzutreiben, ewiges Warten, Nachhaken, Vertröstungen, dann, eines schönen Tages, war der Mann unangekündigt abends um halb neun gekommen, hatte einige Fliesen eingeschlagen, ein Rohr ausgetauscht, alles schmutzig gemacht und gesagt, der Schaden sei behoben.

Am nächsten Morgen läutete es an der Tür, es war der Hausmeister, der sagte, das Wasser tropfe weiterhin auf sein Bett. Von da an läutete es jeden Morgen pünktlich um halb acht für immer dieselbe schlechte Nachricht. Plötzlich stoppte das Durchsickern des Wassers von selbst, aber nur für zwei Tage, dann ging es wieder von vorne los. Jedes Mal, wenn Alfred die Türglocke hörte, wurde er von Panik ergriffen, es könnte Am Abdon sein, so hieß der Hausmeister.

Dass eine dermaßen kleine und dumme Sache Alfred so durcheinanderbrachte, war erstaunlich.

Alfred versuchte, den Hausmeister mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und klopfte bereits um fünf vor halb acht bei ihm an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Diese Strategie erwies sich als wirkungsvoll, denn so signalisierte Alfred, dass er Am Abdon nicht vergessen hatte.

Es kam ein anderer Installateur, zerschlug erneut ein paar Fliesen, bohrte ein Loch durch die Decke auf der Suche nach dem Leck, und von da an gab es eine Art Funkverbindung zwischen dem Zimmer des Hausmeisters und Alfreds Bad. Wenn Sally oder Alfred das Bad benutzten, konnten sie alles hören, was im Hausmeisterzimmer vor sich ging. Das Radio, die Bemühungen Am Abdons, wenn er über seiner Frau war, die Gespräche mit seinen religiösen Freunden. Das war seltsam und verrückt, weil es klang, als tönten die Stimmen aus der Unterwelt der Geister herauf. Der Hausmeister und seine Freunde redeten über das gerechte Wirken Gottes, über die Kriegslust des kapitalistischen Diebsgesindels und darüber, dass Ägypten die einzige zivilisierte Gemeinschaft der Erde sei.

„Ich dachte, das ist Österreich“, flüsterte Alfred spöttisch.

Wenn Sally etwas nicht verstand, weil sie im Arabischen nicht ausreichend zu Hause war, fungierte Alfred als Übersetzer. Bei besonders frommen Standpunkten schüttelte sich Sally entsetzt mit ihrem gesteigerten Realitätsbewusstsein des neuen und aufgeklärten Menschen. Ihr fehlte ein wenig der Respekt vor Menschen, die an Märchen glaubten. Aber am unangenehmsten war, wenn im Zimmer des Hausmeisters die schlechte Arbeit des Installateurs diskutiert wurde. Dann fielen Schimpfwörter, die nicht sehr nobel waren. Und obwohl sie gegen den Installateur gerichtet waren, fühlten sich Alfred und Sally angesprochen.

Sally fragte sich, was umgekehrt der Hausmeister aus Alfreds Badezimmer hörte. Sie dachte, es ist egal, solange er nichts sehen kann. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet und mochte es, wenn Alfred sie zum Duschen begleitete. Alfred kam diesem Wunsch gerne nach. Sallys Nacktheit war für ihn immer noch neu, wie alles, was mit ihr zu tun hatte. Am liebsten wäre er ständig im Kreis um sie herumgegangen wie ein Schneider, denn eine so schöne und interessante Frau hatte er bisher nicht gekannt, und wenn, dann war sie in Begleitung gewesen, nicht nackt bei ihm. Er selber verwendete im Badezimmer immer öfter Ohrenstöpsel. Nach mehr als zwei Wochen hatte er es satt, die frommen Sprüche zu hören, die der Hausmeister und seine Freunde wechselten. Für Alfred klangen sie doppelt herausfordernd, weil er als Kind religiös gewesen war, mit Gott als absoluter Sinngebung seines Lebens.

Im Moment stagnierte die Badezimmer-Saga. Die undichte Stelle schien auf mysteriöse Weise gestopft, aber ganz sicher war sich niemand, denn auch der zweite Installateur hatte nichts anderes getan, als Fliesen zu zerschlagen und den Fußboden aufzustemmen. Die Sache blieb rätselhaft. Deshalb wollten Sally und Alfred nichts überstürzen und lieber zuwarten, bis der Installateur zurückgekommen war und das Loch im Fußboden wieder geschlossen hatte. Solange das nicht geschehen war, stellten sie sich während des Duschens in eine gelbe Waschbütte aus Plastik, mit nur leicht aufgedrehtem Wasser, und die Bütte trugen sie in die Küche, wo sie das Wasser in die Abwasch schütteten. Dadurch herrschte vorläufig Friede zwischen oben und unten. Die Decke trocknete in der Winterluft auf, jetzt löste sich allerdings der Verputz und fiel auf Am Abdon, während er schlief. Angeklingelt hatte er deswegen noch nicht, er teilte es regelmäßig mit, wenn er Alfred oder Sally auf der Treppe traf. Sie bewegten sich im Haus wie Verbrecher, schlüpften möglichst ungesehen raus und rein, damit Am Abdon sie nicht einfangen und sich bei ihnen beklagen konnte.

Als Sally einem englischen Studienkollegen von ihrem Ärger erzählte, sagte er, das sei nichts gegen ihn, er müsse jedes Mal, wenn er die Toilette spülen wolle, auf eine Leiter klettern, mit der Hand in den Wasserkasten greifen und eine Stange bewegen, um das Abrinnen des Wassers zu stoppen. Und wenn er sich bei seiner Vermieterin darüber beschwere und sie darum bitte, die Spülung flicken zu lassen, sage sie:

„Was erwarten Sie bei dem Preis, den Sie für die Wohnung bezahlen?“

Wie viel das sei, fragte Sally. Dreihundert ägyptische Pfund, sagte der Engländer – nicht zu fassen. Alfred zahlte achtzig, Sally fünfundvierzig für ein Zimmer in Bulaq in einer Wohngemeinschaft mit einem libanesischen Flüchtlingspaar. Sally ging dort so gut wie nicht mehr hin, weil sie beim Mieten vergessen hatte, auf dem Bett Probe zu liegen. Die Schranktür, die sie schon öfter abgeschraubt und unter die Matratze gelegt hatte, war beim Nachhausekommen immer wieder an ihren Platz montiert.

© Carl Hanser Verlag ©

 

Literaturverzeichnis:

GEIGER, ARNO: Alles über Sally. Carl Hanser Verlag, München 2010, 368 S., 21,50 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag

 


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: