ERNST JÜNGER: Ein abenteuerliches Herz. Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2011, 420 S., 19,90 €. ISBN 978-3-608-93846-3
Von Volker Strebel
Mit dieser Ausgabe liegt erstmals ein „Ernst-Jünger-Lesebuch“ vor, das einen repräsentativen Einblick in das Schaffen von Ernst Jünger (1895-1998) bietet. Ernst Jünger hat sich selbst zunächst als Leser gesehen und im hohen Alter wiederholt darüber gewundert, dass im Laufe von rund 75 Jahren einer produktiven „Autorschaft“, wie er es nannte, ein eigenes Werk im ansehnlichen Umfang angewachsen war.
Der Herausgeber dieses Ernst-Jünger-Lesebuches, Heinz Ludwig Arnold, war von 1961 bis 1964 als junger Student während seiner Semesterferien Privatsekretär bei Ernst Jünger, ähnlich wie es in den Jahren zuvor Armin Mohler und Albert von Schirnding gewesen waren.
In dem umfangreichen Einführungsteil dieses Lesebuches erzählt Heinz Ludwig Arnold in sehr persönlicher und eindrucksvoller Weise, wie er als junger Leser an Schriften von Ernst Jünger geraten und wie es dazu gekommen war, dass sich ihre Wege kreuzen sollten. Diese Erinnerungen aus erster Hand bieten auch für Jünger-Experten manch neue Aspekte und ermöglichen Erstlesern von Jünger-Texten einen unverstellten Zugang: „In Wilflingen erlebte ich an Ernst Jünger das Vorbild eines unabhängigen Lebens, das Leben eines freien Menschen, einer, damals durchaus pathetisch so empfundenen: freien geistigen Existenz.“
Gerade weil Heinz Ludwig Arnold sowohl an seiner frühen Jünger-Begeisterung teilhaben lassen kann, als auch seine spätere Abnabelung offen zu reflektieren vermag, entsteht ein authentisches und somit menschliches Porträt des oftmals umstrittenen Autors Ernst Jünger. Arnold verschweigt auch sein Befremden über manche Züge Jüngers nicht, vor allem dessen zuweilen „manchmal bis zum Starrsinn ausgebildeter Stolz und sein Beharren auf Unabhängigkeit“.
Heinz Ludwig Arnold ist sich seiner subjektiven Zusammenstellung und Aufteilung dieses Ernst-Jünger-Lesebuches sehr wohl bewusst, und es gewinnt dadurch sogar an Prägnanz. Offen bekennt Arnold, dass er zum Beispiel mit Jüngers großem Essay „Der Arbeiter“(1932) nie recht etwas anzufangen wusste. Umso nachhaltiger haben ihn Jüngers doppelbödige Prosaminiaturen fasziniert, die sich zum Beispiel in den beiden Fassungen von „Das abenteuerliche Herz“(1929/1938) finden und auch heute noch nichts von ihrer eindringlichen Schärfe eingebüßt haben.
Arnold teilt sein Jünger-Lesebuch in sieben Abschnitte auf, die jeweils mit Auszügen aus Jüngers Œvre bestückt sind. Der erste Abschnitt „Krieg und Frieden“ führt unter anderem Textbeispiele aus Jüngers legendärem Frühwerk „In Stahlgewittern“(1920) an. Als kleine Beigabe wird ein Gespräch mit Ernst Jünger über „In Stahlgewittern“, das Heinz Ludwig Arnold 1966 auf Tonband mitgeschnitten hatte, abgedruckt. Tagebuchauszüge aus „Gärten und Straßen“(1942) sowie „Strahlungen“(1949) und vor allem auch die Schrift „Der Friede“(1945) belegen Jüngers unmissverständliche Ablehnung der nationalsozialistischen Tyrannis.
So hatte Jünger am 29. Mai 1941 in seinem „Ersten Pariser Tagebuch“ erschütternde Eindrücke festgehalten, die er als Zeuge bei der Erschießung eines wegen Fahnenflucht verurteilten Soldaten erlebt hatte: „Rückfahrt in einem neuen, stärkeren Anfall von Depression. Der Stabsarzt erklärt mir, daß die Gesten des Sterbenden nur leere Reflexe gewesen sind. Er hat nicht gesehen, was mir in grauenhafter Weise deutlich geworden ist.“
In den Abschnitten „Abenteuerliches Herz“, „Streifzüge“, „Erzähltes“ und „Geträumtes“ finden sich Auszüge aus Jüngers Büchern, die sich auf immer wiederkehrende Weise und dennoch mit immer neuer und präziserer Annäherung Herausforderungen wie dem Tod, Träumen und ihrer Deutung oder Drogen und Rauscherfahrungen widmen.
Ausführlich und mit der ihm eigentümlichen Schärfe genauester Beobachtung hatte sich Jünger über Jahrzehnte hinweg immer über Sprache und Sprachstil oder dem Einwirken von Technik und Maschinen auf die Lebenswelt Gedanken gemacht. Und bereits in seinen frühesten Fronttagebüchern nehmen Aufzeichnungen über beobachtete Tiere, Pflanzen und vor allem Käfer einen wichtigen Platz ein. Aus der Gesamtsicht der Schriften von Ernst Jünger zeigt sich die innere Verwobenheit all dieser Erscheinungen.
In Ernst Jüngers zahlreichen Reisen findet seine lebenslängliche Neugier ihren äußeren Ausdruck. In der Prosameditation „Sizilischer Brief an den Mann im Mond“(1930) hatte Jünger dazu treffend geschrieben: „Kommt es doch nicht darauf an, daß die Lösung, sondern daß das Rätsel gesehen wird.“
Dass es den Leser nach dieser Lektüre geradezu drängt, zu den Büchern Ernst Jüngers zu greifen, stellt für ein derartiges Lesebuch das vielleicht gewichtigste Kompliment dar.