Von Katharina Hofbeck
Bücher nehmen mit auf Reisen. Und das ohne Unterschied, ob sie nur gedanklich oder gar wahrhaftig anspornen, beschriebene Orte zu besuchen. Doch Ausnahmen gibt es viele. Eine dieser regelbestätigenden Exzeptionen ist der kürzlich in deutscher Sprache publizierte Roman „Nikolski“, Erstling von Nicolas Dickner. Im Werk des aus Kanada stammenden Jungautoren wird ein so bizarres, nasses Montreal der 80er und 90er Jahre beschrieben, dass man fast – über den Roman gebeugt – ein paar Tränen der Freude vergießen möchte. Und dies nicht auf Grund der reinenBegeisterung für seinen Text, nein, eher der Erkenntnis wegen: Es muss wohl überall schöner sein als in dieser klammen Metropole.
Die größte Stadt des Quebec ist so zentral wie ungemütlich. Im Viertel Petite Italie, einem der vielen kulturellen Schmelztiegel der Stadt, siedeln sich fast zeitgleich, ohne von ihrer jeweiligen Existenz und Verwandtschaft zu ahnen, drei junge Leute an. Eine der Hauptfiguren (der Ich-Erzähler) hat gerade die Mutter verloren, arbeitet als Buchhändler in einem Antiquariat und teilt unvermittelt im ersten Satz der Leserschaft mit: „Mein Name ist ohne Bedeutung“ - wie wir alle wissen, ist das Gegenteil der Fall. Den Wunsch nach Anonymität setzt Joyce anders um: Aus Tête-à-la-Baleine, einem Kaff am Ufer des St. Lorenz-Stroms, stammend und infiltriert von den Piratengeschichten des Großvaters, will sie zum einen ihre verschollene Mutter und andererseits sich selbst finden.
In der Realität angekommen, arbeitet sie in einem Fischladen und frönt nachts ihrer Leidenschaft zur (Internet-) Piraterie. Das letzte Mitglied des chaotischen Dreiergespanns ist Noah. Der Halbindianer will sesshaft werden. Verständlich, wenn man weiß, dass er in einem Wohnwagen aufwuchs, gesteuert von der Mutter, die die Tradition des Nomadentums der Ureinwohner Nordamerikas aufrecht erhält. Die angestrebte Lösung ist ein Studium - dass die Wahl auf Archäologie fällt, ist Zufall.
Wie Joyces` Mutter im eigentlichen, sind die jungen Verwandten im übertragenen Sinn „Opfer des Meeres.“ Diese Affinität zum Wasser gestaltet sich in Dickners Abenteuerroman - nicht nur inhaltlich, sondern vielmehr durchtränkt von Meeres- und Seefahrervokabular - omnipräsent. Die Protagonisten essen fast ausschließlich Fisch, sind Nachkommen von Piraten und angeln sich alles Vorstellbare: von Computerteilen über dunkelhaarige Schönheiten bis zu verwunschenen Büchern.
„Nikolski“ erzählt über einen Zeitraum von zehn Jahren fast stringent abwechselnd von den Protagonisten. Dabei scheint sich nur der leise namenlose Ich-Erzähler darüber im Klaren, dass er Teil einer Geschichte ist. Seinem Beruf zufolge müsste er dazu auch im Stande sein, möchte man anmerken. Darüber hinaus ist er der Besitzer des Navigationswerkzeuges, des Nikolski-Kompasses.
Das Gerät ist das einzige Andenken an seinen verschwundenen Vater, gleichzeitig aber auch die Verbindung zwischen den drei Hauptdarstellern. Noah und der Namenlose haben den selben Erzeuger. Genau dieser verschollene Seemann, namens Jonas Doucet bleibt auch in Joyces` Stammbaum nicht unerwähnt: Sie ist eine Cousine der Halbbrüder.
Durch all die verworrenen Verwandtschaftsangelegenheiten kann nicht einmal der Kompass navigieren, geschweige denn das Trio irgendwann zusammenführen. Wie auch? Schließlich hat er eine entscheidendes Manko: Das Gerät weicht ganze 35° vom eigentlichen Nordpol ab und richtet seine Nadel exakt auf Nikolski - einen Ort auf der Inselgruppe der Aleuten, am Südrand des nordpazifischen Beringsees und letzter bekannter Aufenthaltsort des Vaters. Mit dieser Abweichung kann sich Noahs Halbbruder allerdings gut identifizieren - „Vielleicht leide ich auch einfach nur an einer leichten magnetischen Anomalie?“
Mit seinen jungen Protagonisten, die durchweg, archäologenhaft auf Schatzsuche nach den nächsten Schritten ihrer Zukunft sind, weiß Dickner zu bestechen. Eine Reise also, die es sich anzutreten lohnt, wenn man über den gelegentlich märchenhaft-einfachen Stil hinwegsieht.
Diese Rezension ist in Zusammenarbeit mit Studenten des Romanischen Seminars der Uni Bayreuth entstanden. Außerdem danken wir der Frankfurter Verlagsanstalt für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Literaturangabe:
DICKNER, NICOLAS: Nikolski. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 302 S., 19,90 €.
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