Von Heike Geilen
„Plötzlich waren sie da, die Frauen. Sie erschienen aus dem Nichts, angetan mit seinen Kleidern, Hosen, Röcken, Blusen und Mänteln. Manchmal war ihm, als träten sie aus dem Weiß hervor oder als wären sie einfach aufgetaucht, als hätten sie endlich die Oberfläche durchbrochen und sich gezeigt. (...) Erst war nichts und dann etwas, auf einmal war es da. Doch der Augenblick zwischen dem Nichts und dem Etwas ließ sich nicht fassen, ganz so, als gäbe es ihn nicht.“ Mit diesen Worten beginnt Ingo Schulzes neuer Roman „Adam und Evelyn“. Diese wenigen Zeilen beinhalten bereits das ganze Universum der Erzählung.
Knappe Sätze, nur angedeutete Szenen – dies ist das Markenzeichen des gebürtigen Dresdners. Schulzes Schreibstil besticht durch seine Bescheidenheit. Er plustert sich niemals auf, drängt sich nicht wortreich in den Vordergrund. Stilsicher verkürzt er und spart aus: eine „kunstvolle Kunstlosigkeit“ nannte Christoph Schröder dies kürzlich treffend in der „taz“. So entsteht eine ungemein komprimierte Dichte, die trotzdem – oder gerade deshalb – von hoher Anschaulichkeit, Farbigkeit und Detailfreudigkeit geprägt ist. Schulzes Erzählungen zwingen den Leser, bei der Geschichte zu bleiben. Man muss selbst ergänzen, was nicht weitschweifig ausformuliert wird. Es ist ein Stil, der nicht auffällt, aber deshalb gerade so gut ist.
Doch zurück zum Beginn. In dieser ersten Szene schöpft ein junger Mann irgendwo in der DDR-Provinz seine selbst geschossenen Fotos aus dem Entwicklerbad (zu DDR-Zeiten eine nicht seltene Freizeitbeschäftigung) und bringt so seine von ihm luxuriös gewandeten Frauen ans Licht. Denn dieser Lutz Frenzel arbeitet als Damenmaßschneider und Hobby-Fotograf. „Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an“, zitiert er einmal im Verlauf der Handlung aus der Bibel, was seine Freundin Evelyn spontan ausrufen lässt: „Auch Gott war Schneider!“
Dass er seine Kundinnen – außer sie mit edlen Stoffen so gekonnt zu drapieren, dass das ein oder andere Fettpölsterchen perfekt kaschiert wird – von Zeit zu Zeit auch auf andere Art und Weise beglückt, wird ihm, als Evelyn ihn in flagranti erwischt, zum Verhängnis. Die füllige Lilli ist hier das Corpus Delicti. „Du sollst abhauen“, ruft Evelyn daraufhin impulsiv zu Adam. Darin findet sich eine dieser typischen Zweideutigkeiten in Schulzes Sätzen, obwohl es hier nicht politisch gemeint ist, sondern Evelyn nur ihre Verletzung heraus schreit.
Aber wir schreiben bereits den 19. August 1989. Das Ende der DDR naht. Das politische Gleichgewicht ist in einem Schwebezustand. Auf dem Grundstück der bundesdeutschen Botschaft in Budapest kampieren hunderte von DDR-Bürgern und hoffen auf eine Ausreise in den Westen. Im September werden die ersten Montagsdemonstrationen in der Leipziger Nikolaikirche starten, die sich bald in viele Großstädte des Landes ausweiten werden.
Doch noch sind Adam und Evelyn im Osten, wo sie ein Häuschen mit Garage, nebst Heinrich, dem alten Wartburg, Baujahr 1961, einen Garten und einen Keller mit eingewecktem Quittenkompott haben. Aber nun hängt der Haussegen wegen Adams „nebenberuflichen Aktivitäten“ mehr als schief.
Mit Freundin Mona und deren Westcousin Michael flüchtet Evelyn nach Ungarn. Dass sie zuvor ihren Job als Kellnerin gekündigt hat, macht Adam noch nicht unruhig, und dass sie ihre Ausweispapiere und Dokumente im Koffer hat, bemerkt er erst später. Adam fährt dem Dreiergespann nach, gabelt unterwegs noch Katja auf, die gerade einen misslungenen Fluchtversuch durch die Donau hinter sich und keinen Pass mehr hat.
„Was willst du denn im Westen?“, fragt Adam. Katja: „Das ist ne Frage! Besser leben, überhaupt leben.“ „Und bisher, hast du nicht gelebt?“ „Ich will das nicht mehr, eingesargt bis zur Rente, nichts kannst du machen, nichts.“ Adam schleust sie im Kofferraum über die slowakische Grenze und nimmt sie letztendlich nach Ungarn mit, an den Balaton, wo sich die fünf entscheiden müssen, denn Ungarn hat Schlag Mitternacht vom 10. auf den 11. September 1989 seine Grenze nach Österreich geöffnet. Bleiben oder gehen, das ist jetzt die Frage.
Der Roman lebt vor allem von seinen ausgedehnten, scharfsinnig-köstlichen Dialogen, die weit mehr als die Hälfte des Buches ausmachen. In ihnen weiß Schulze grandios die innere Zerrissenheit seiner Figuren, deren gegensätzliche Haltungen, Erfahrungen und Argumente, darzustellen. Dabei bleibt der Autor wohltuend im Hintergrund, hält sich mit Urteilen und Wertungen erfreulich zurück. Er lässt ursprünglich manifestierte Meinungen kippen, Hoffnungen in Enttäuschungen umschlagen und umgekehrt wiederum Enttäuschungen in Hoffnungen. Dabei trifft er den Ton der damaligen Zeit vortrefflich.
Dass er seine 55 einzelnen Kapitel nicht bis ins Letzte ausarbeitet, lässt viel Freiraum für eigene Interpretationen. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr einer zu schnellen und oberflächlichen Lesart, zu der die knappe Satzstruktur, der leichte und luftige Stil verleitet.
Ingo Schulze bedient sich in seinem Roman der biblischen Schöpfungsgeschichte und der Vertreibung aus dem Paradies, was schon der Titel erkennen lässt und spätestens nach dem Auftritt von Lilli (ein Anklang an Adams Lilith, den Frau gewordenen Eros des schwarzen Mondes) klar ersichtlich ist. Auch eine böse Schlange darf gefunden werden. Der Autor erklärte in einem Interview, dass er „die eigene Geschichte noch einmal erzählen, die eigenen Fragen noch einmal stellen [wollte]: Gibt es ein Paradies? Was bedeutet der Baum der Erkenntnis und was der des ewigen Lebens? Wie verändert sich die Liebe, wie verändern sich Frauen und Männer durch so einen Weltenwechsel?“ Letztendlich ist jedoch das Paradies gerade da nicht, wo man meint, dass es sein müsste.
„Adam und Evelyn“ ist ein politisches Komödiendrama mit poetischem Tiefgang, in welchem Schulze virtuos mit den Motiven der Schöpfungsgeschichte und ganz speziell mit dem Mythos des Sündenfalls hantiert. Mit gewohnt leichter Hand, die dennoch Tiefe zeichnet, verwandelt er so die Wirklichkeit in ein Kunstwerk.
Literaturangaben:
SCHULZE, INGO: Adam und Evelyn. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2008. 304 S., 18 €.
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