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Auf dem Grund der Geschichte – David R. Montgomerys „Dirt“

Nach Montgomerys Schätzung gehen jährlich 24 Milliarden Tonnen Erde verloren

© Die Berliner Literaturkritik, 18.09.08

 

Die Zeit billiger Nahrungsmittel ist vorbei – für die Industrieländer. Anderswo ist der Hunger zurückgekehrt: Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen sprach gar von einem „stillen Tsunami“. Mancherorts wie in Haiti und Ägypten kommt es zu Hungeraufständen. Das sind die Folgen der Welternährungskrise, die gegenwärtig die Schlagzeilen beherrschen.

Die schlagartige Teuerung vieler Lebensmittel hat viele Gründe. Die weltweite Nachfrage ist angezogen. Frühere Lebensmittelexporteure wie China werden zu Importeuren von Nahrungsmitteln. Andere, vor allem die USA, verbrauchen einen größeren Anteil ihrer Ernte für die Herstellung des umstrittenen Biosprits Ethanol. Die Verzerrung des Marktes durch die EU-Agrarsubventionen spielt eine weitere wichtige Rolle. Hinzu kommen lokale Fehlernten und geringe Bodenerträge sowie der für arme Bauern zu hohe Preis von Kunstdünger.

Das sind die Gründe, die derzeit in den Medien zirkulieren und die Krise erklären. Ihnen folgen meist entsprechende Lösungsvorschläge wie Kürzung oder Abschaffung der Agrarsubventionen, Verteilung von kostenlosem Kunstdünger und Ende der Biokraftstoffherstellung. Gründe und Lösungen haben gemein, dass sie nur an der Oberfläche des Problems kratzen.

Den Dingen auf den Grund geht dagegen der amerikanische Geomorphologe David R. Montgomery. In seinem 2007 erschienenen Buch beschäftigt er sich mit einem zentralen Problem, das zunächst nicht wie eines wirkt: dem Verlust von Erde und dessen Auswirkungen auf die Geschichte. In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint Bodenerosion nur dort problematisch, wo (Regen-) Wälder abgeholzt werden und das frei gewordene Land innerhalb weniger Jahre erodiert und als Agrarfläche verloren geht. Wer käme auf die Idee, dass auch außerhalb dieser kurzsichtigen „slash and burn“-Landwirtschaft die Bodenerosion in besorgniserregendem Tempo voranschreitet?

Diese Sicht beruht auf einer zentralen Fehleinschätzung, wie Montgomery meint. Tatsächlich sei Erde die wesentliche, aber unterbewertete und am wenigsten geschätzte Ressource, die der Mensch hat. Sie ist die Mittlerin zwischen Geologie und Biologie, zwischen dem Erdgestein und dem Leben auf ihm. Doch anstatt diese lebensnotwendige und so dünne Haut zu schützen, trägt der Mensch mit intensiver Landwirtschaft zu ihrem Verlust bei. Nach Montgomerys eigener Schätzung gehen jährlich 24 Milliarden Tonnen Erde verloren – der Mensch häutet den Planeten und zerstört damit die Grundlage seiner Ernährung. Das sei umso gefährlicher, da Erde sich nur im geologischen, also „Eisberg“-Tempo erneuere und daher ähnlich wie Öl zu den begrenzten Ressourcen gehöre.

Um seine These zu untermauern, aber auch um die dramatischen Folgen von Bodenerosion zu demonstrieren, durchpflügt der Geologe rund 4000 Jahre Erd- und Zivilisationsgeschichte. Anhand der heutigen Beschaffenheit von Böden und den darin verborgenen Sedimenten sowie schriftlicher Quellen weist Montgomery bei den verschiedenen Zivilisationen immer wieder das gleiche Verhaltensmuster nach. Die alten Reiche der Mesopotamier, Griechen, Römer und der Maya erfuhren während ihres Aufstieges ein starkes Bevölkerungswachstum, welches eine Intensivierung der Landwirtschaft erforderte. Diese laugte die Böden aus und trug durch den Einsatz von Pflügen die Erde ab. Spitzte sich die Krise zu, wurde die Landwirtschaft abermals intensiviert und die Bodenerosion dadurch nur beschleunigt. Einst bodenreiche und fruchtbare Landschaften wurden zu steinigem Ödland. Man vergisst leicht, dass im heutigen Irak einst die erste Zivilisation erblühte.

Erst die Europäer sind diesem Teufelskreis von Bevölkerungswachstum und beschleunigter Erosion entkommen. Durch Kolonisation weiteten sie ihre Herrschaft auf andere Kontinente aus und nutzten deren Böden, um ihre eigene wachsende Bevölkerung zu ernähren. Im 19. Jahrhundert konnten sie die Bodenerträge beträchtlich steigern, indem sie die Landwirtschaft industrialisierten, also Maschinen, Kapital und insbesondere Kunstdünger einsetzten. Im 20. Jahrhundert war ein weiterer Anstieg durch die „Grüne Revolution“ zu verzeichnen: Hochgezüchtete und neuerdings genmanipulierte „Supersaat“.

Dieser Anstieg der Bodenerträge hat das bisherige Bevölkerungswachstum gestützt. Einen weiteren Anstieg hält Montgomery aber unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht für möglich. Im Gegenteil gefährde die neue Stellung der Landwirtschaft als ein Subsystem der Wirtschaft die Überlebenschancen einer globalen Gesellschaft, die nicht mehr wie früher neues Land erobern kann. Der Einsatz von Kunstdünger (dessen Produktion übrigens Öl voraussetzt), die Übernutzung von Anbauflächen und moderne landwirtschaftliche Maschinen haben das Tempo der Bodenerosion in bisher nicht dagewesene Höhen getrieben. Nach Montgomerys Berechnung sei in den letzten 500 Millionen Jahren alle 1000 Jahre ein Zoll Erde erodiert. Heute brauche es dafür lediglich 40 Jahre.

Obgleich Montgomery mehrfach betont, dass der Niedergang historischer Zivilisationen viele Ursachen habe, sieht er in der Erosion doch den hauptsächlichen Grund. Das ist eine zu materialistische Geschichtsbetrachtung. Die Bedeutung der Erosion mag im Einzelfall durch weitere Faktoren wie etwa die „imperiale Überdehnung“ im Falle des Römischen Reichs oder das Eindringen der Europäer in das Reich der Maya relativiert werden. Dennoch ist Montgomery ein überzeugendes Argument gelungen und das besonders in Zeiten einer ätherischen Netz- und Dienstleistungsgesellschaft, in der gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet. Nach der Lektüre des gut lesbaren, wenn auch etwas redundanten Buches, ist klar: Boden ist eine wertvolle Ressource und auf lange Sicht wertvoller als Öl.

Weniger überzeugend sind Montgomerys Lösungsvorschläge. Er geht von weiterem Bevölkerungswachstum aus und lehnt die bisherige industrialisierte Landwirtschaft aufgrund mangelnder Nachhaltigkeit ab. Stattdessen fordert er eine neue Agrarrevolution. Der Mensch müsse umlernen und die Erde nicht länger als industrielles, sondern regional variierendes ökologisches System begreifen. So weit, so gut. Aber glaubt Montgomery wirklich, dass seine Forderungen nach Höfen in Bauernhand, lokaler Produktion, Subsistenzwirtschaft und pfluglosem Anbau die Ernährung einer wachsenden Erdbevölkerung sicherstellen würden? Selbst wenn ökologische Landwirtschaft nicht nur nachhaltig, sondern auch so ergiebig ist, wie Montgomery behauptet, ist unklar, wie lange sie mit der Zunahme (kaufkräftiger) Konsumenten, wachsendem Fleischverbrauch und ungleicher Verteilung von Ackerland Schritt halten könnte. In diesem Punkt bedarf es mehr als „nur“ eine nachhaltige Anbauweise: Gefordert ist eine nachhaltige Lebensweise. Montgomerys belehrender Blick in die Vergangenheit und der aktuelle Trend zur Intensivierung der Landwirtschaft lassen daran leider zweifeln.

Von Thomas Hajduk

Literaturangaben:
MONTGOMERY, DAVID R.: Dirt. The Erosion of Civilizations. University of California Press, Berkeley 2007. 295 S., 24,95 $.

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