Von Armin Baumgartner, Wien
Jeder hat so seine eigene Art und Weise, Bücher zu konsumieren. Die eine nimmt den Umschlag prinzipiell herunter, der andere bastelt sich aus Werbematerial einen zusätzlichen Schutz. Manche lesen mit Lesezeichen, manche knicken die Seiten um. Die eine blättert zuerst in den hinteren Seiten oder in der Mitte, bevor sie das Buch von vorn zu lesen anfängt, der andere beginnt stur nach einem fixen Schema auf jeden Fall mit der ersten Seite. Die einen lesen langsam, die anderen schnell. Wiederum andere lesen drei Bücher auf einmal, die anderen können immer nur eines lesen. Die einen lesen öffentlich, die anderen versteckt. Manche schreiben Notizen zwischen die Zeilen, andere behandeln Bücher wie Porzellan. – Man sieht schon, ich könnte die Reihe ewig fortsetzen. Eine Methode jedoch, ein Buch zu konsumieren, wäre mir selbst wahrscheinlich nie und nimmer in den Sinn gekommen. Um diese geht es hier.
Auf einer Fahrradtour ins Waldviertel, eine Region im Norden Österreichs entlang der tschechischen Grenze, lernte ich auf dem Campingplatz in Krems einen etwa 30-jährigen, gut aussehenden, großgewachsenen Mann aus Los Angeles kennen. Er war mein Zeltnachbar und hatte durch seine technisch hochwertige Ausrüstung meine Neugier geweckt. So ergab sich bald ein Gespräch. Er erzählte mir, dass er jedes Jahr einen Monat lang Urlaub mit dem Fahrrad in Europa mache. Dieses Jahr hätte er in Mailand begonnen, wo er noch auf der Hochzeit seines Bruders weilte, um danach über Kärnten nach Österreich zu kommen. So sei er auch schon in Wien gewesen und befinde sich nun auf dem Weg gen Westen. Um die Eigenarten der bereisten Gegend auch besser kennenzulernen, besorge er sich immer ein für das Land typisches bekanntes literarisches Werk als Reiselektüre. Was er denn nach Österreich mitgenommen hatte, wollte ich von ihm wissen. „,The man without qualities´, Robert Musil. Do you know it?“ – War seine Gegenfrage, die ich darob etwas befremdet nur stotternd bejahen konnte. Ein Ami kennt also Robert Musil – das passte schon einmal gar nicht in meine Vorstellungen vom literarischen Bildungsniveau eines Durchschnittsamerikaners. Dass er mich obendrein fragte, ob ich als Österreicher Robert Musil kenne, setzte dem Ganzen die Krone auf. Ich war in meinen Grundfesten erschüttert.
Sein rein praktischem Nutzen folgender, eigentlich barbarischer Umgang mit Büchern, gepaart mit der sichtlich sorgsamen Auswahl des Lesestoffs, brannte sich nachhaltig in mein Gehirn.
Dann neigte sich der Amerikaner zu mir und erklärte mir, er habe eine spezielle Technik entwickelt, wie er Bücher auf seinen Radreisen zu lesen pflege. Begonnen habe alles mit einer Frankreichtour, für die er sich Marcel Prousts „In Search of Lost Time“ besorgt hatte. Es seien die bedeutenden Klassiker der Literatur nämlich zumeist sehr gehaltvoll, nicht nur vom Inhalt her, sondern ebenso von der Seitenanzahl und dementsprechend vom Gewicht – auch wenn es sich nur um Taschenbuchausgaben handle. Musils Roman umfasse eben auch auf Englisch nicht weniger als tausend Seiten. Da die Berge zudem hierzulande einigermaßen hoch sind, müsse er überall, wo es nur geht, Gewicht einsparen. Ich lauschte gespannt seinen Ausführungen. Dann verriet er mir sein Geheimnis: Jede Seite, die er gelesen, reiße er aus dem Buch heraus. So werde das Buch zunehmend leichter. Auch wenn es sich für den Moment nur um eine kaum spürbare Erleichterung handelt, macht sich die Methode langfristig bezahlt. Er hoffe, dass er am Fuße des Großglockners, den er unbedingt auch noch zu überqueren vorhabe, den ersten Teil des Romans schon buchstäblich hinter sich gelassen habe.
Diese Begegnung wiederum ließ mich seitdem nicht mehr los. Immer wieder kommt er mir in den Sinn, dieser Mann aus L. A., USA. Sein rein praktischem Nutzen folgender, eigentlich barbarischer Umgang mit Büchern, gepaart mit der sichtlich sorgsamen Auswahl des Lesestoffs, brannte sich nachhaltig in mein Gehirn. – Ein E-Book wird auch nicht leichter, wenn man die schon gelesenen Dateien rauslöscht. Romantik rankt sich um die Erinnerung und rahmt sie nostalgisch ein.
Danach habe ich nie wieder etwas von diesem Amerikaner gehört. Seitdem jedoch, ich kann es nicht verleugnen, luge ich auf Campingplätzen oder Fahrradraststätten immer wieder verstohlen in Mistkübeln, ob ich vielleicht eine aus einem für das jeweilige Land, in dem ich mich befinde, bedeutenden literarischen Werk herausgerissene Seite finde.
Armin Baumgartner arbeitet als Schriftsteller und Korrektor und lebt als Mensch in Wien.