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Auf ein Schwäzli

Arno Camenisch versammelt mehrere Sprachen in einem Text – ungewöhnlich schön

© Die Berliner Literaturkritik, 17.09.10

Von Angelo Algieri

Für sein Debüt „Sez Ner“ hat der Schweizer Autor Arno Camenisch am 16. September den mit 10.000 Franken dotierten Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank erhalten. Camenisch hatte mit diesem Buch schon im Mai 2009 im schweizerischen Graubünden für viel Furore gesorgt, und auch im übrigen deutschsprachigen Raum stieß seine deutsch-rätoromanische Prosa auf großes Interesse, was sich daran ablesen lässt, dass sein Verleger Urs Engeler das Buch in mehreren Auflagen drucken lassen musste, so groß war die Nachfrage.

Nun hat der 32-jährige Schweizer sein Zweitwerk „Hinter dem Bahnhof“ vorgelegt. Es ist ebenfalls bei Urs Engeler Editor erschienen. Anders als in seinem Erstling stehen das Surselvische – eines der fünf rätoromanischen Idiome – und das Hochdeutsche nicht nebeneinander, diesmal vermengt Camenisch beide Sprachen miteinander. Mit einer zusätzlichen Brise Schwyzerdütsch und Italienisch kommt der Text näher an die Sprachenrealität in den romanischen Gebieten der Schweiz.

Der 5-jährige Protagonist des Buches, der namenlos bleibt, beschreibt aus seiner Sicht seine Umgebung und Erlebnisse innerhalb eines Jahres. Wir befinden uns in einem Oberländer Dorf, im Vorderrhein-Tal. Wir erfahren, was er und sein Bruder für Unsinn anstellen und lernen die nähere Familie kennen, die allerdings namentlich auch anonym bleibt. Die Personen heißen lediglich Bruder, Mutter und Vater, Tatta und Tat (Großmutter und -vater), Tante und Onkel. Die übrigen Bewohner des Dorfes werden mit ihren Spitznamen angesprochen, da gibt es etwa den Besitzer eines Schraubenladens Giacasep oder den Friseur Alexi. Aber auch italienische Arbeitsmigranten, wie Anselmo und Marina werden beschrieben sowie diejenigen städtischen Unterländer, die nur übers Wochenende im Ort sind. Zudem erfahren wir, dass sich allabendlich im Restaurant Helvezia, das die Tante des kleinen Jungen betreibt, die Dorfbewohner auf ein „Schwäzli“ versammeln. Den Alltagsbeschreibungen werden einzigartige Ereignisse gegenübergestellt: etwa das 100-jährige Jubiläum des Helvezia, wie der Bruder des Protagonisten beim Skifahren rücklings in den reißenden Bach fällt oder wie er selbst zusammen mit seinem Bruder im Skilift steckenbleibt und beide von einem Hubschrauber gerettet werden. Und auch, dass der Großvater an Lungenkrebs stirbt.

Diese 154 Absätze, die zwischen ein paar Zeilen bis zu einer Seite lang sind, stellen kein Tagebuch dar – dazu fehlt es an Daten, an Emotionalem und Intimen. Diese Absätze wirken eher wie nüchterne Protokolle, die sich vor allem äußeren Beschreibungen widmen. So sind die Sätze kurz und nüchtern. Affektive oder empathische Wörter fehlen – Freude oder Traurigkeit werden von dem Jungen nicht artikuliert. Weder seine eigenen, noch die der Familie oder Dorfbewohner. Dennoch schafft es der Text durch diese oberflächliche Beschreibung der Ereignisse Gefühle auszudrücken.

Wir erfahren auch Witziges aus den Augen des Fünfjährigen. Der Humor resultiert oft allein aus der Tatsache, dass der Protagonist Analogien herstellt, die gar nicht vorhanden sind. Klar, dass ein Kind wenig Erfahrung hat, die Welt sehr naiv betrachtet und sich die Dinge selbst zusammenreimt. Als Beispiel sei hier erwähnt, dass er ein Kaninchen hat, das Nachwuchs bekommen hat. Eines Morgens sind die kleinen Kaninchen weg. Der Nachbarsjunge erklärt, dass man die neugeborenen Kaninchen nicht berühren dürfe, denn die Mutter würde sie ansonsten auffressen. Etwas später weigert sich der Protagonist das Baby einer Nachbarin anzufassen, weil er denkt, dass seine Mutter sonst das Kleinkind aufessen würde.

Was dieses Buch hervorhebt und besonders macht, ist, dass Camenisch den hochdeutschen Grundtext mit surselvischen, schwyzerdütschen und italienischen Wörtern und Redewendungen durchsetzt und so die sprachliche Realität und das regionale Selbstverständnis spiegelt, wie sie in der Graubündner Region und allen voran im Oberland anzutreffen sind. An der Schnittstelle zwischen der deutschen und italienischen Sprache entsteht eine Sprachkompetenz, die der kleine Junge stellvertretend für alle, die in der Region mindestens zweisprachig aufwachsen, verkörpert. Diese spielerische Kompetenz erinnert an die Bukowina, jene ehemalige Provinz der kaiserlich und königlichen Monarchie von Österreich und Ungarn, in der viele Sprachen zusammenkamen. Das Phänomen ist treffend beschrieben in „Jossel Wassermanns Heimkehr“ von Edgar Hilsenrath, der den hochdeutschen Text mit jiddischen, ruthenischen oder rumänischen Wörtern durchsetzt. Wer nun befürchtet, dass er das Surselvische nicht versteht, sei beruhigt, denn Camenisch bietet mindestens einmal eine angehängte Übersetzung. Die meisten Wörter sind jedoch leicht vom Deutschen ableitbar, manchmal muss man sie sich laut vorlesen, dann versteht man den Sinn.

Eine Kostprobe: „Die Tatta schaut zurück, komm, Fido, ti planori, mach vorwärts. Der Fido ist auf halbem Weg. Er geht langsam am Strassenrand. Lang macht er nicht mehr mit, sagt die Tante als der Fido vor der Helvezia ankommt. Sie hat eine Cigaretta zwischen den Fingern und macht rrrrrrrrr, wenn sie den Rauch aus der Cigaretta ausblässt.“ Der Hund Fido wird wenig später vom Vater des Jungen erschossen.

Dieses „Protokoll“ der Kindheit handelt auch von Gewalt oder Gewaltandrohung, auf jeden Fall ist sie mit physischen oder psychischen Schmerzen verbunden: Sowohl der Junge als auch sein Bruder werden am Kopf verletzt, so dass sie genäht werden müssen; mit dem Neffen der Nachbarn gibt es „Schlägarai“; der Großvater schimpft die Jungen, in die Kirche zu gehen; die Mutter verzweifelt an ihren beiden Söhnen und der Vater ist von Mal zu Mal ärgerlicher und bestraft sie. Selbst die Konfrontation mit dem Tod des Tats, der „Kartoffeln in der Lunge hat“ beschreibt uns der Junge.

Camenisch ist mit diesem Zweitling ein großartiger Text gelungen, der nicht nur die Sprachen seiner Heimat zusammenbringt, sondern eine Welt im Vorderrhein-Tal am Anfang der 80er Jahre aus der Distanz eines Kindes beschreibt. Er zeigt aber auch auf, dass das Oberland sich in einem Umbruch befindet: Rückgang der traditionellen Werte, Verlust der Mehrsprachigkeit, Argwohn vor dem Fremden. Camenisch tut gut daran, diese mehrsprachige Welt über die Bündner Grenzen hinaus bekannt zu machen und sie am Leben zu erhalten, indem er eine literarische Form für sie findet.

Im Gegensatz zum Erstling „Sez Ner“ ist der jetzige Text melancholischer und weniger ironisch gebrochen. Unerwartet und sehr schön ist sein Schlussabsatz, in dem der kleine Junge mit seiner Freundin hinter den Bahnhof geht und sich immer weiter vom Dorf entfernt, bis sie es hinter sich lassen. – Treffender kann man die Situation der Oberländer nicht beschreiben: widersprüchlich und schwermütig zugleich. Aus diesem einengenden Dorf zu entkommen, sich in der (zeitlichen) Ferne an die Kindheit zu erinnern und die zwiespältige Gewissheit zu haben, dass diese Welt nicht mehr existiert.

Man darf sich nicht wundern, wenn Camenisch, der Abschlussstudent des Literaturinstituts Biel, auch in Zukunft mit Stipendien und Preisen geehrt wird.

Literaturangabe:

ARNO CAMENISCH: Hinter dem Bahnhof. Urs Engeler Editor, Holderbank SO, 2010. 95 S., 17 €.


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