ZÜRICH (BLK) – Im November 2008 ist beim Ammann Verlag der Erzählband „Auf Reisen“ von Matthias Zschokke erschienen.
Klappentext: Von Berlin reist einer los, nicht ohne uns hintersinnig seine Stadt zu empfehlen, bricht auf in die verführerischen Landschaften und Metropolen Europas, landet in Amman und bereist Jordanien, um letztlich auch Big Apple seine Aufwartung zu machen. Vom Essen, Trinken und Schlafen ist die Rede, von der Pekunia, die dafür aufgewendet werden muß, und vom Rausch eines Staunenden ob der Köstlichkeiten und unerwarteten Ereignisse, aber auch von der angestauten Wut eines Enttäuschten, wenn er sich geneppt fühlt. Ein herzerfrischendes, lebendiges und informatives Buch, eine Verführung zum Reisen, an die Tische und in die Betten, die an den verwunschensten Orten auf uns warten.
Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren. Aufgewachsen im Kanton Aargau, besuchte er von 1970 – 1974 das Gymnasium in Biel. Von 1974 – 1977 Schauspielschule in Zürich. Von 1977 – 1980 hatte er ein Engagement als Schauspieler am Schauspielhaus Bochum. Seit 1980 lebt und arbeitet Matthias Zschokke als freier Autor und Filmemacher in Berlin. (ber/mül)
Leseprobe:
©Ammann Verlag©
WEIMAR. In der Berliner Bahnhofsbuchhandlung überblätterte ich ein paar Reiseführer. Alle waren sich in einem Punkt einig: Zu einem Ausflug in die deutsche Klassik gehört Lotte in Weimar von Thomas Mann. Also kaufte ich das Buch und setzte mich in den Zug. Die Fahrt ist schön. Links und rechts endlos flaches Land – das untere Fünftel des Zugfensters einnehmend –, darüber riesig der Himmel. Manchmal ein knorriger Baum, ein Teich, ein Wildschwein, dunkle, dicke Vögel. Man schaut hinaus und wird ganz ruhig. Ab und zu dachte ich: Caspar David Friedrich. Dann begann ich zu lesen. Himmel und Gemüt verdunkelten sich; was für ein entsetzliches Buch. Ohne einmal Luft zu holen, dröhnt es einem den Kopf voll mit besessen zusammengehamstertem Wissensballast, verschmockt altertümelnd vorgetragen. Geblieben ist mir davon nur, daß Goethe Caspar David Friedrich nicht mochte und fand, man könne dessen Bilder ebensogut verkehrt herum aufhängen. Dann kam ich in Weimar an. Es schneite, stürmte und blitzte (ein Schneegewitter, höchst selten, wie tags darauf in der „Thüringer Allgemeinen“ stand). Ein Taxi brachte mich zum Goethehaus am Frauenplan; ich nahm an, dort sei das Zentrum.
Die Stadt ist jedoch sehr klein. Die Sorge, ins Abseits zu geraten, ist überflüssig. Hundert Meter weiter, am Wielandplatz, steht das Christliche Hotel „Amalienhof“ mit seiner klassizistischen Fassade (wie ich erfuhr, das einzige Hotel, das alle Revolutionen und Renovationen überstanden hat und deshalb unter Denkmalschutz steht). Ich fragte nach einem Zimmer, einem großen, bitte, worauf die Frau an der Rezeption freundlich antwortete: „Wir haben nur große, aber die Suite ist auch frei, die können Sie zum normalen Zimmerpreis haben; riecht zwar ein wenig nach Farbe, es wurde frisch gestrichen, aber wenn Sie das nicht stört?“ Und sie führte mich in einen herrschaftlichen Salon mit Schlafzimmer und Bad.
Ganz Weimar wimmelte von freundlichen Leuten, sogar den Dialekt mochte ich gern hören. Kellner und Kellnerinnen erinnerten an Zöglinge aus hochgelegenen Internaten. Sie lachten vor Aufregung, wurden beim Bedienen rot aus Verlegenheit, vergaßen, von welcher Seite auf-, von welcher abgetragen wird, baten um Verzeihung – entzückend. Die Wärterinnen in den Museen und Wohnhäusern musterten mich mißtrauisch, wie freilaufende Katzen mit schlechten Erfahrungen, doch kaum fragte ich sie etwas, tauten sie auf und entpuppten sich als hervorragende Kennerinnen der Exponate, die sie beaufsichtigen. Aus Berlin bin ich Aufpasser gewohnt, die „Sssssurückbleim“ knurren, wenn ich zu nah an ein Bild trete. Den Rest der Zeit starren sie trotzig vor sich hin.
Nie würde ich dort wagen, jemanden um Erläuterungen zu bitten; er ist schließlich kein Auskunftsbüro, sondern zum Schutz der Objekte bestellt. Ebenso wie Kellner und Verkäuferinnen dort nicht dazu da sind, Gäste oder Kunden zu beglücken, sondern sie zu ernüchtern und gefügig, wenn nicht sogar niederzumachen.
In Weimar herrscht ein anderer Ton. Im Schillerhaus – dem anrührendsten der diversen Dichterwohnhäuser – stand ich vor einem Nähkästchen. Die Aufpasserin erklärte, das habe Schiller seinem Diener zu dessen Hochzeit anfertigen lassen, und die Tränen sind mir in die Augen geschossen, so rührend kam mir das Tischchen vor. Oben, im Arbeits- und Sterbezimmer, wurde ich wieder schier übermannt; da erzählte sie mir angesichts des schmalen Betts, unter was für entsetzlichen Qualen Schiller hier – man könne es nicht anders sagen – verreckt sei; sie habe gerade eine frühe Biographie gelesen, nichts Seriöses, aber das Herz sei ihr fast zerbrochen dabei. Und hier, nebenan, in der winzigen Mansarde, hier habe er gewöhnlich geschlafen, auf einer Matratze am Boden. Das Bett habe er sich erst zuletzt, wegen seiner Krankheit, ins Schreibzimmer stellen lassen. Und überall diese Tapeten aus Kassel – was für märchenhafte Tapeten!
Zum Schluß beschwor sie mich geradezu, unbedingt auch das Wittumspalais anschauen zu gehen, das sei das schönste und authentischste aller Wohnhäuser, da habe Anna Amalia gewohnt, die Herzoginmutter, deretwegen Weimar heute überhaupt Weimar sei ... Und so habe ich mir im Lauf der Tage alles angeschaut, was man gesehen haben muß, und kann bestätigen: Man muß es gesehen haben.
Essen? Auf der Suche danach spazierte ich abends durchs Städtchen. Die Beleuchtung ist fahl, die Gassen sind trüb und leer, die paar Gaststätten mit thüringischen Spezialitäten funzeln vor sich hin. Der gastronomische Trübsinn der deutschen siebziger Jahre senkte sich schwer auf mich. Um nicht vor einem tiefgekühlten Kloß mit Rotkohl zu enden, zog ich mich schließlich ins berühmte Hotel „Elephant“ zurück, mit seinem dreihundert Jahre alten Gästebuch, in dem sich ein Haufen höchst zweifelhafter Namen im Licht einiger glanzvoller zu sonnen versucht. Zuerst ging ich in die „Liszt-Bar“, einen großen, ernsten Raum, halb Bauhaus, halb Art déco, sehr ansprechend, dann auf die Toilette, eine marmorne Fürstengruft, deren Strenge mich so begeisterte, daß ich entschied, zu bleiben und ins hoteleigene Restaurant „Anna Amalia“ zu gehen, einen prachtvoll renovierten Saal – alles in diesem herrischen Stil –, wo ich ziemlich einsam saß und fabelhaft aß.
Am folgenden Abend schlich ich wieder um die dubiosen Kloß-Kneipen („Zum alten Zausel“, „Zur Siechen-Tränke“), gelangte in die Hummelstraße – ja, auch Johann Nepomuk Hummel hat hier gelebt, ebenso wie Bach –, wo ein Italiener für solche kocht, die dem wilden Osten nicht recht trauen. Es war bei ihm so sympathisch, daß ich mir daraufhin Hummelmusik besorgte, die nun, während ich das schreibe, gefällig vor sich hin summt und brummt. Mit Sicherheit hat sie Goethe, wenn sie im Sommer durch seine geöffneten Fenster drang, beim Verseschmieden nicht abgelenkt. Außer vielleicht das Septett Opus 74, ein merkwürdig verbocktes Ding, das die klassische Glätte sprengt. Einmal übrigens wagte ich dann doch einen thüringischen Abend, in „Sommer’s“, einer Weinstube, deren Eröffnung Goethe durchaus noch erlebt haben könnte. Die Klöße und das Fleisch waren gut, das schwarze Bier vorzüglich, der weiße Lokalwein (Saale-Unstrut) ebenfalls – und immer wieder: lauter reizende Menschen.
Dann natürlich das Goethehaus. Schon nur das Entree, in das er sich eine sogenannt italienische Treppe hat einbauen lassen, eine Art Behindertenrampe mit extrem niedrigen Stufen, über die er den Besuchern entgegengleiten oder -schweben konnte. Wer Schauspieler kennt, weiß, welch magischer Ort eine Treppe für sie ist; ein Auftritt über die Treppe ist das schönste Geschenk, das man einem Showstar machen kann. Goethe war Theatermann. Das ganze Haus ist durchinszeniert mit sicherem Gespür für Effekt – angefangen beim viel zu großen Junokopf im Salon, dem die Aufgabe zukommt, den ankommenden Gast zu überwältigen, was er bravourös schafft.
Alles stellt Kunstsinn dar, Süden, Überfluß, Großzügigkeit, souveräne Nonchalance, doch alles ist Bühnenbild, Requisit. Die griechisch-römischen Plastiken sind Kopien aus Gips (zum Teil angemalt mit Graphit, damit sie Bronze spielen können). Die italienischen Malereien sind ebensowenig Originale – ein Herr Meyer aus dem schweizerischen Stäfa hat sie in Goethes Auftrag in Italien abgemalt. Alles ist ein bißchen eng, behelfsmäßig. Das sind auch die herzoglichen Schlösser: Rumpelschlößchen, in denen Marmor prinzipiell nur gemalt vorkommt und Fußböden aus einfachen Brettern zusammengenagelt sind; Parkett ist ein seltener Luxus; Statuen – darunter so zauberhafte wie „Die Frierende“ im Schloß Tiefurt – konnte man sich nur als Nachbildungen aus Papiermaché leisten. Ein ganzes kleines Fürstentum, alles andere als vermögend, das sich streckt nach hehrer Größe, Freizügigkeit, Offenheit, Lebensideal. Klassik nicht als Erhabenheit, keine kalte Pose, kein erklommener Gipfel, nichts Erreichtes, sondern etwas Geträumtes, etwas heiß Ersehntes. Das wußte ich nicht; es hat mich für sich eingenommen.
Die Parkanlagen, die das Stadtschloß, die Sommersitze und das Städtchen offen miteinander verbinden, ohne Mauern, die das Fließen stören, die morschen Villen, die später dazugekommen sind, die Ilm, die sich frei durchschlängelt – in die Goethe zur Empörung des Weimarer Hofs nackt hineinzusteigen pflegte, um sich darin zu waschen –, die Schwäne darauf, die Rostbratwürste an den Straßen (unbedingt vom Holzkohlengrill), das Café am Frauentor (unbedingt thüringische Schmandtorte), das Neue Museum (unbedingt), die Pension im Haus der Frau von Stein, verwunschen wie Dornröschens Schloß, in der schon Marlene Dietrich wohnte, als sie noch Geigenvirtuosin werden wollte und in Weimar Unterricht nahm – das alles ist zutiefst deutsch, schwermütig, mit dem innigen Wunsch nach Heiterkeit, melancholisch zum Umarmen.
Am letzten Tag fuhr ich nach Ettersburg, einer verträumt maroden Sommerresidenz zehn Minuten außerhalb, wo schon Goethe . . . Von dort führt ein Pfad, eine sogenannte Zeitschneise, den Hügel hinauf zum ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald. Ich stapfte durch den nassen Schnee, an schwarzen Baumgerippen vorbei, rutschte aus, verfluchte die modischen Schwätzer mit ihrer idiotischen Zeitschneise (eine schlichte Waldschneise, geeignet, um darin Schlagholz zu Tal zu befördern, aber nicht, um darin bergaufzusteigen). Endlich kam ich oben an. Die letzten Meter führen eine steile Böschung hinauf über eine Metalltreppe. Darunter der ehemalige Todesstreifen zwischen Lager und Zaun. Die Stufen der Treppe sind auffallend flach und ähneln auf irritierende Weise denen im Goethehaus. Am Ende der Treppe angelangt, öffnet sich dem Blick eine gigantisch öde, kahle Hochebene. Irgendwo steht darauf verloren eine dunkle Steinbaracke, das ehemalige Krematorium, woanders noch eine, der ehemalige Arrestzellenbau, wo drittes noch eine, das Desinfektionsgebäude, beklemmend weit auseinander liegend alles, erschlagend. Eine ungeheure Gedenkstätte. Am Ausgang wartet ein Bus, der einen über die Blutstraße nach Weimar zurückbringt, vorbei an leerstehenden russischen Kasernen, durch trostlose Randbesiedlung, zum Bahnhof, dann Goetheplatz, Heinestraße, Wielandplatz, Humboldtstraße – vielleicht ist die Zeitschneise doch alles andere als idiotisch.
© Ammann Verlag ©
Literaturangabe:
ZSCHOKKE, MATTHIAS: Auf Reisen. Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 2009. 240 S., 19.90 €.
Weblink: