Von Evelyn Gaida
„Ein Körper dicht an einer Mauer stehend.“ Oben „auf der Mauerkrone in Mörtel“ Glasscherben, vom körperlosen Septemberlicht durchflutet, Wolkenschatten, Schattenrisse von Zweigen auf dem Pflaster. Der Beginn eines Romans sollte – Theodor Fontane zufolge – „bereits den Keim des Ganzen“ enthalten. Vermutlich hätte er seine Freude an den Eingangsszenen von Julia Bleskens Debütroman „Ich bin ein Rudel Wölfe“ gehabt. Die Autorin gruppiert das Romangeschehen kunstvoll um Bruchstellen und Übergangssituationen – in individueller, in gesellschaftlicher und in metaphorischer Hinsicht. Die Thematik der „Wende“ wird äußerst vielschichtig beleuchtet und der persönliche Wendepunkt verschränkt sich mit dem historischen: Eine junge Frau verlässt nach dem Mauerfall fluchtartig, ohne Abschied, ihre Familie und ihr Dorf in der ehemaligen DDR, um in Berlin zu studieren. Doch ihre Kindheit und Jugend bleiben nicht zurück – „lange vergangene Bilder“, Erinnerungsbilder, Bilder von machtvoller Präsenz ergreifen von ihr Besitz.
„Auf und davon. Allein in der Nacht.“ Der einzige, der „letzte Ton“, das Brechen von Eisschollen auf dem See im Rücken der Hauptfigur namens Re. Auseinandergebrochenes, das auf neue Weise zusammengesetzt werden muss, spiegelt auch die Struktur des Romans wider: Ein beständiges Wechselspiel zwischen der Handlung nach dem Fortgehen und den Erinnerungsstücken aus der Zeit davor entfacht Textdynamik und Lesesog. Wie ein Mosaik setzt sich nach und nach das Porträt einer Familie, einer Landschaft, einer ländlichen Lebenswelt zusammen und gleichzeitig die Identitätssuche der Erzählerin. Sie muss sich zwischen auseinanderstrebenden Polen ausloten und ihren eigenen Rhythmus finden. Blesken entwirft eine Collage, die sich sukzessive um den Fluchtpunkt einer Entscheidung verdichtet: Wird Re zurückkehren oder wird ihr ein Neuanfang gelingen?
Da ist auf der einen Seite das Nach-Wende-Berlin, dessen Reizüberfluss und Schnelllebigkeit der Erzählerin zum Inbegriff der Auflösung und Haltlosigkeit werden. Diese Stadt zwischen Umbruch, Brachlage und kreativem Freiraum gerät ihr zur Löschung und Leerstelle, über die sich das Zurückliegende hermacht. „Und vielleicht blieb ihr deshalb alles fern“, kann sie dort nicht Tritt fassen und bleibt außen vor, in einem Zeit-Vakuum voll der Erinnerung.
Im Gegensatz zur Großstadt sind Res Wahrnehmungen ihres Herkunftsortes von intensiver Charakteristik. Die Welt der Kindheit und Jugend ihrer Hauptfigur erweckt Blesken in geradezu physischer Nähe und Plastizität durch eine eindringliche und poetische Sprache der unprätentiösen Treffsicherheit. Ihre Sprache ist einfach und klar, ohne der Komplexität zu entbehren. Das Betrachtete erhält so ein wirkungsstarkes Eigenleben. Teer an den nackten Füßen, Staub in der Kehle, die durchdringenden Gerüche und das Schmecken des Sommers, das Gefühl des grünschlickigen Seewassers auf der Haut – Blesken macht Natur-Erleben gegenwärtig, wie es nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz heraus möglich scheint: Der Weg der heute in Berlin lebenden, 33-jährigen Autorin führte sie nach dem Zusammenbruch der DDR als Heranwachsende von Berlin nach Sachsen-Anhalt, wo ihre Familie einen Bauernhof kaufte.
Die dörfliche Sphäre wird dabei keineswegs verklärt, sondern in ihrer klaustrophobischen Enge und Zerrissenheit gezeigt. Das diffizile, geradezu telepathische Verwachsensein mit dem Bruder beinhaltet für Re auch seinen Machtanspruch und ihre innere Abhängigkeit. Dem liebevoll-zärtlichen Einverständnis mit dem Großvater steht die Härte der Großmutter entgegen, die zupackend-praktische Arbeitstauglichkeit zum obersten Maßstab erhebt. Für die Geschwister birgt die Landschaft unerschöpflichen Detailreichtum – ihrer Mutter raubt sie als ausweglose Einöde und unerbittliche Monotonie buchstäblich den Verstand.
Der Bruder widersetzt sich rigoros dem DDR-Gemeinschaftskommando, wodurch er und Re zu Außenseitern werden, die sich gegenüber den Angriffen „der Anderen“ behaupten müssen. Nach der Wende werden die ökonomisch nicht ganz Profitablen, nicht ganz Verwertbaren, ‚Labilen‘ wie Res Mutter, als Erste entlassen. Deplatzierte, aus den allseitigen Funktionsverschaltungen gefallene Menschen bleiben übrig, Abwanderung und letzter Zerfall machen sich breit, während der Ausverkauf beginnt und abstruseste Methoden, an Geld zu kommen, kursieren. Bleskens Blick richtet sich dabei fern der bereitgestellten Weltanschauungen auf die Einzelnen und das Menschliche, auf das also, woran alle Ideologien scheitern.
Die Erzählerin tritt schauend und beschreibend hinter Dingen und Menschen zurück, denen sie offenen, unvoreingenommenen Raum stellt, für sich selbst zu sprechen und zu existieren. Es wird ebenso dem Leser freigestellt, Unausgesprochenes oder Implizites auszufüllen und das spannungsvolle Schweigen zwischen den Zeilen aufzunehmen. Den ihr begegnenden Bildern der Welt dient Re als Absorptionsfolie, sich darauf niederzuschlagen wie die leitmotivischen Wolkenformationen. „Der Schnee deckt alles zu, absorbiert das Um-Mich-Herum. Absorption ist das völlige Verschwinden von Teilchen beim Durchgang durch Materie. Ich bin Materie. Alles geht durch mich hindurch, als gäbe es mich gar nicht.“ Die Rede ist jedoch nicht von fotografischer Aufnahme und Wiedergabe – immer wieder geht betont sinnlich evozierte Gegenständlichkeit in Empfindung über, Materie in Atmosphäre, wird das beschreibende Wort von einem Sprach- und Bildfluss hingerissen. Neben der Identitätssuche und der gesellschaftlichen Umwälzung wird so eine Reflexion auf Zwischenreiche und Übergänge per se eröffnet: auf das prekäre Verhältnis von Gegenstand und Wort, das beständige Übergehen von physisch greifbarer Welt in Wahrnehmung, in Poesie. „Die Worte hüpfen mir vom Gaumen auf die Zunge, springen über meine Lippen, aus dem Mund, leicht und aus dem Stoff, der der Sonne entgegenfliegt.“
„Atmen, schreiben und sprechen ist bei mir eins“ verriet die Autorin am 16. September in Ravensburg bei einem Gespräch mit dem renommierten Literaturkritiker Peter Hamm. Er gehörte auch zur Jury des Hermann-Lenz-Stipendiums, das Blesken in diesem Jahr erhielt. Mit ihrer Erzählung „Tabula rasa“ gewann die studierte Historikerin 2003 zudem den Bettina-von-Arnim-Preis und nahm in Berlin am Literarischen Colloquium für junge Autoren teil. In den Literaturbetrieb sei sie, Hamm zufolge, jedoch noch gar nicht eingebunden. Die Möglichkeiten des gegenseitigen Austauschs hätten ihr gerade auch gezeigt, wie wichtig es ist, bei sich selber bleiben zu können, sagte Blesken. Mit ihrem Buch und durch diese Aussage bringt sie in Erinnerung, dass Literatur allein dem Dargestellten selbst verpflichtet ist, diesem gerecht zu werden. „Wolken. Windsbraut. Woge. Wortgepränge.“ Julia Blesken lässt Worte, Dinge und Figuren ihrer Darstellung funkeln.
Literaturangabe:
BLESKEN, JULIA: Ich bin ein Rudel Wölfe. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2009. 224 S., 20 €.
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