BERLIN (BLK) – Im September 2011 ist im Suhrkamp Verlag der Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky erschienen. Der Roman ist u.a. für den Deutschen Buchpreis 2011 nominiert worden
Klappentext: Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Daß ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern – in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet nun Strauße, ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Alle verweigern sich dem Lauf der Natur, den Inge Lohmark tagtäglich im Unterricht beschwört. Als sie Gefühle für eine Schülerin der 9. Klasse entwickelt, die über die übliche Haßliebe für die Jugend hinausgehen, gerät ihr biologistisches Weltbild ins Wanken. Mit immer absonderlicheren Einfällen versucht sie zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr literarisches Debüt, der Matrosenroman „Blau steht dir nicht“, erschien 2008. Für ihren Atlas der abgelegenen Inseln wurde sie unter anderem mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.
Leseprobe:
©Suhrkamp©
Naturhaushalte
„Setzen“, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf“, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen unter den Arten, zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungsgefüge von Gemeinschaft und Raum. Vom Nahrungsnetz des Mischwaldes kamen sie zur Nahrungskette der Wiese, von den Flüssen zu den Seen und schließlich zur Wüste und zum Wattenmeer.
„Sie sehen, niemand – kein Tier, kein Mensch – kann ganz für sich allein existieren. Zwischen den Lebewesen herrscht Konkurrenz. Und manchmal auch so etwas wie Zusammenarbeit. Aber das ist eher selten. Die wichtigsten Formen des Zusammenlebens sind Konkurrenz und Räuber-Beute-Beziehung. „
Während Inge Lohmark an der Tafel Pfeile von den Moosen, Flechten und Pilzen zu den Regenwürmern und Hirschkäfern, Igeln und Spitzmäusen, dann zur Kohlmeise, zum Reh und zum Habicht, schließlich einen letzten Pfeil zum Wolf zog, entstand nach und nach die Pyramide, auf deren Spitze der Mensch neben ein paar Raubtieren hockte.
„Tatsache ist, dass es kein Tier gibt, das Adler oder Löwen frisst.“
Sie trat einen Schritt zurück, um die ausladende Kreidezeichnung zu betrachten. Das Wirkungspfeilschema vereinte Produzenten mit Konsumenten erster und zweiter Ordnung, Erzeuger mit den Erst-, Zweit- und Drittverbrauchern sowie den unvermeidlichen kleinteiligen Zersetzern, allesamt verbunden in Atmung, dem Verlust von Wärme und Zuwachs von Biomasse. In der Natur hatte alles seinen Platz, und wenn vielleicht auch nicht jedes Lebewesen, so doch zumindest jede Art ihre Bestimmung: fressen und gefressen werden. Es war wunderbar.
„Übertragen Sie das in Ihr Heft.“
Was sie sagte, wurde gemacht.
Das Jahr begann jetzt. Die Juniunruhe war endgültig vorbei, die Zeit der brütenden Hitze und nackten Oberarme. Die Sonne knallte durch die Glasfront und verwandelte das Klassenzimmer in ein Treibhaus. In leeren Hinterköpfen keimte die Sommererwartung. Die bloße Aussicht darauf, ihre Tage nichtsnutzig zu verschwenden, raubte den Kindern jede Konzentration. Mit Schwimmbadaugen, fettiger Haut und schwitzigem Freiheitsdrang hingen sie auf den Stühlen und dösten den Ferien entgegen. Die einen wurden fahrig und unzurechnungsfähig. Andere täuschten wegen des nahenden Zeugnisses Unterwürfigkeit vor und schoben ihre Bio-Leistungskontrollen aufs Lehrerpult wie Katzen erlegte Mäuse auf den Wohnzimmerteppich. Nur um in der nächsten Stunde nach der Benotung zu fragen, mit gezücktem Taschenrechner, begierig darauf, die Verbesserung ihres Durchschnitts auf drei Stellen hinter dem Komma zu berechnen.
Aber Inge Lohmark gehörte nicht zu den Lehrern, die am Ende des Schuljahres einknickten, nur weil sie bald ihr Gegenüber verlieren würden. Sie hatte keine Angst davor, so ganz auf sich gestellt in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Einige Kollegen wurden, je näher die Sommerpause rückte, von geradezu zärtlicher Nachgiebigkeit heimgesucht. Ihr Unterricht verkam zum hohlen Mitmachtheater. Ein versonnener Blick hier, ein Tätscheln da, Kopf-Hoch-Getue, elendiges Filmeschauen. Eine Inflation guter Noten, der Hochverrat am Prädikat Sehr gut. Und erst die Unsitte, Endjahresnoten abzurunden, um ein paar hoffnungslose Fälle in die nächste Klasse zu hieven. Als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus.
Inge Lohmark ließ sich nicht mehr auslaugen. Sie war dafür bekannt, dass sie die Zügel anziehen und die Leine kurz halten konnte, ganz ohne Tobsuchtsanfall und Schlüsselbundwerferei. Und sie war stolz darauf. Nachlassen konnte man immer noch. Hier und da ein Zuckerbrötchen aus heiterem Himmel.
Wichtig war, den Schülern die Richtung vorzugeben, ihnen Scheuklappen anzulegen, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu fördern. Und wenn wirklich mal Unruhe herrschte, brauchte man nur mit den Fingernägeln über die Tafel zu kratzen oder vom Hundebandwurm zu erzählen. Für die Schüler war es ohnehin das Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren. Anstatt ihnen vorzugaukeln, sie hätten irgendetwas zu sagen. Bei ihr gab es kein Mitsprache recht und keine Wahlmöglichkeit. Niemand hatte eine Wahl. Es gab die Zuchtwahl und sonst nichts.
Das Jahr begann jetzt. Auch wenn es schon längst angefangen hatte. Es begann für sie heute, am ersten September, der dieses Jahr auf einen Montag fiel. Und Inge Lohmark fasste ihre guten Vorsätze jetzt, im verwelkten Sommer, und nicht in der grellen Silvesternacht. Sie war immer froh, dass ihr Schulplaner sie sicher über den kalendarischen Jahreswechsel brachte. Ein einfaches Umblättern, ohne Countdown und Sektglasgeklirre.
Inge Lohmark sah über die drei Bankreihen und bewegte den Kopf dabei nicht einen einzigen Zentimeter. Das hatte sie perfektioniert in all den Jahren: den allmächtigen, unbewegten Blick. Laut Statistik waren immer mindestens zwei dabei, die sich wirklich für das Fach interessierten. Aber wie es aussah, war die Statistik in Gefahr. Gauß’sche Normalverteilung hin oder her. Wie hatten sie es nur bis hierher geschafft?
Man sah ihnen die sechs Wochen Gammelei an. Die Bücher hatte keiner von denen aufgeschlagen. Große Ferien. Nicht mehr ganz so groß wie früher. Aber immer noch zu lang! Es würde mindestens einen Monat dauern, bis man sie wieder an den Biorhythmus der Schule gewöhnt hatte. Wenigstens musste sie sich nicht ihre Geschichten anhören. Die konnten sie der Schwanneke erzählen, die mit jeder neuen Klasse ein Kennenlernspiel veranstaltete. Nach einer halben Stunde waren alle Beteiligten in den Fäden eines roten Wollknäuels verheddert und konnten die Namen und Hobbies ihrer Sitznachbarn aufsagen.
Es waren nur vereinzelt ein paar Plätze besetzt. So fiel erst recht auf, wie wenige es waren. Spärliches Publikum in ihrem Naturtheater: zwölf Schüler – fünf Jungen, sieben Mädchen. Der dreizehnte war wieder zurück auf die Realschule gegangen, obwohl die Schwanneke sich mächtig für ihn ins Zeug gelegt hatte. Mit wiederholten Nachhilfestunden, Hausbesuchen und psychologischem Gutachten. Irgendeine Konzentrationsstörung. Was es nicht alles gab! Lauter angelesene Entwicklungsstörungen. Nach der Leserechtschreibschwäche die Rechenschwäche. Was würde als Nächstes kommen? Eine Biologie-Allergie? Früher gab es nur Unsportliche und Unmusikalische. Und die mussten trotzdem loslaufen und mitsingen. Alles nur eine Frage des Willens.
Es lohnte einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Früher oder später würden die Unterbelichteten ohnehin auf der Strecke bleiben. Es war empfehlenswert, sie mit der Wahrheit so früh wie möglich zu konfrontieren, anstatt ihnen nach jedem Scheitern eine neue Chance zu geben. Mit der Wahrheit, dass sie die Voraussetzungen dafür, ein vollwertiges, also nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, einfach nicht mitbrachten. Wozu die Heuchelei? Nicht jeder konnte es schaffen. Warum auch? Blindgänger waren in jedem Jahrgang dabei. Bei manchen konnte man schon froh sein, wenn es gelang, ihnen ein paar grundlegende Tugenden anzutrainieren. Höflichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit. Es war ein Jammer, dass es keine Kopfnoten mehr gab. Ordnung. Fleiß. Mitarbeit. Betragen. Ein Armutszeugnis für dieses Bildungssystem.
Je später man einen Versager loswurde, desto gefährlicher wurde er. Fing an, seine Mitmenschen zu bedrängen und unberechtigte Forderungen zu stellen: nach vorzeigbaren Abschlussnoten, einer positiven Beurteilung, womöglich sogar nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz und einem glücklichen Leben. Das Resultat langjähriger Unterstützung, kurzsichtigen Wohlwollens und fahrlässiger Großherzigkeit. Wer den hoffnungslosen Fällen weismachte, dazuzugehören, der brauchte sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann mit Rohrbomben und Kleinkalibergewehren in die Schule marschierten, um sich zu rächen für all das, was ihnen jahrelang versprochen und immer wieder vorenthalten wurde. Und dann mit Lichterketten ankommen.
Neuerdings pochte ja jeder auf seine Selbstverwirklichung. Es war lächerlich. Nichts und niemand war gerecht. Eine Gesellschaft schon gar nicht. Nur die Natur vielleicht. Nicht umsonst hatte uns das Prinzip der Auslese zu dem gemacht, was wir heute waren: das Lebewesen mit dem am tiefsten gefurchten Gehirn.
Aber die Schwanneke mit ihrer Integrationswut hatte es wieder nicht lassen können. Was sollte man auch von jemandem erwarten, der aus Bankreihen Buchstaben und aus Stühlen Halbkreise formte: Lange Zeit ein großes U, das ihren Lehrertisch umarmte. Neuerdings war es sogar ein eckiges O, so dass sie mit allen verbunden war und es keinen Anfang und kein Ende mehr gab, sondern nur noch den runden Augenblick, wie sie einmal im Lehrerzimmer kundtat. Von den Elftklässlern ließ sie sich duzen. Karola sollen wir sie nennen, hatte Inge Lohmark eine Schülerin sagen hören. Karola! Meine Güte. Sie waren doch nicht beim Frisör!
Inge Lohmark siezte ihre Schüler ab der neunten Klasse. Es war eine Angewohnheit aus der Zeit, in der sie in diesem Lebensjahr der Jugend geweiht worden waren. Mit Weltall, Erde, Mensch und sozialistischem Nelkenstrauß. Es gab kein wirkungsvolleres Mittel, sie an die eigene Unfertigkeit zu erinnern und sie sich vom Leib zu halten.
Zum professionellen Verhältnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis. Armselig, aber begreiflich, wenn Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten. Das Kriechen vor dem Machthaber. Unverzeihlich hingegen war es, wie sich Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen. Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals bunte Tücher. Blondierte Strähnen. Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu machen. Ohne Würde. Den letzten Rest Anstand gaben sie preis für die kurze Illusion einer Gemeinschaft. Allen voran natürlich die Schwanneke mit ihren Lieblingen: tuschelnden Gören, die sie in Pausengespräche verwickelte, und Stimmbruchopfer, vor denen sie glupschäugig und mit Schminklippen die allerbilligste Schlüsselreizshow abzog. Wohl lange nicht in den Spiegel geschaut.
Inge Lohmark hatte keinen Liebling, und sie würde nie einen haben. Das Schwärmen war ein unreifer, fehlgeleiteter Gefühlsüberschwang, eine hormonell bedingte Exaltiertheit, die Heranwachsende befiel. Dem Rockzipfel der Mutter schon entwöhnt, aber den Reizen des anderen Geschlechts noch nicht gewachsen. Ersatzweise wurde ein hilfloser Geschlechtsgenosse oder ein unerreichbarer Volljähriger zum Adressaten unausgegorener Gefühle. Fleckige Wangen. Klebrige Augen. Entzündete Nerven. Eine peinliche Verfehlung, die sich im Normalfall mit der abgeschlossenen Reifung der Keimdrüsen von selbst erledigte. Aber natürlich: Wem die fachliche Kompetenz fehlte, der wurde seinen Unterrichtsstoff nur noch mithilfe sexueller Signale los. Scharwenzelnde Referendare. Sogenannte Lieblingslehrer. Die Schwanneke.
©Suhrkamp©
Literaturangabe:
SCHALANSKY, JUDITH: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 224 S., 21,90 €.
Weblink: