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Lebensgeschichte

Grégoire Bouilliers amüsanter, neuer Roman „Ich über mich“

© Die Berliner Literaturkritik, 22.09.10

MÜNCHEN (BLK) – Der autobiografische Roman „Ich über mich“ von Grégoire Bouillier ist im Februar 2010 im Nagel & Kimche Verlag erschienen. Er wurde von Oliver Ilan Schulz aus dem Französischen übersetzt.

Klappentext: Erfrischend und geistreich erzählt Grégoire Bouillier seine Geschichte und die seiner Familie, eine Chronik hochkomischer Ereignisse, die ihn in Frankreich zur Kultfigur machte. Als der siebenjährige Grégoire seiner Mutter auf die Frage, ob er sich von ihr geliebt fühle, schüchtern antwortet: „Vielleicht etwas zu sehr“, will sie sich sofort aus dem Fenster stürzen. Papa kann sie gerade noch zurückhalten. Keine Frage, sie ist ein hysterischer Freigeist, und das prägt Grégoires Weltbild genauso wie das Verhältnis von Literatur und Hochstapelei. Ein witziges und launehebendes Vergnügen!

Grégoire Bouillier, 1960 in Tizi-Ouzou, Algerien geboren, ist ein französischer Schriftsteller. 2002 erschien sein Debüt „Rapport sur moi“. Heute lebt er in Paris. (wer)

 

Leseprobe:

                                                               ©Carl Hanser Verlag©

Ich hatte eine glückliche Kindheit.

An einem Sonntagnachmittag kommt plötzlich meine Mutter in unser Zimmer, wo mein Bruder und ich spielen, jeder in seiner Ecke: „Kinder, glaubt ihr, dass ich euch liebe?“ Ihre Stimme ist eindringlich, ihre Nasenflügel phantastisch. Mein Bruder gibt eine klare Antwort. Ich zögere, eigentlich bin ich erst sieben Jahre alt. Ich bin mir der Gelegenheit bewusst und fürchte zugleich die Folgen. Schließlich murmle ich: „Vielleicht liebst du uns ein bisschen zu sehr.“ Entsetzt starrt mich meine Mutter an.

Sie verharrt einen Moment fassungslos, geht zum Fenster, reißt es auf und will sich aus dem fünften Stock stürzen. Vom Lärm aufgeschreckt, erwischt mein Vater sie auf dem Balkon, als sie schon mit einem Bein über dem Abgrund hängt. Meine Mutter heult auf und schlägt um sich. Ihre Schreie erfüllen den Hof. Mein Vater zerrt sie schonungslos nach hinten und trägt sie wie einen Sack zurück ins Zimmer. In ihrem Gerangel schlägt der Kopf meiner Mutter gegen die Wand, und es macht klong. Lange Zeit blieb ein kleiner Blutfleck an der Wand, ein sichtbares Zeichen dieser Szene. Irgendwann ziehe ich mit schwarzem Filzstift Kreise darum und nutze ihn als Zielscheibe für meine Dartpfeile; wenn ich ins Schwarze treffe, stelle ich mir für einen kurzen Moment vor, ich könnte wieder ohne Furcht sprechen.

Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, war sie sechzehn Jahre alt und er achtzehn. Das war 1956 bei einem bunten Abend in dem Haus in Bois-Colombes, das die Familie meines Vaters nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen hatte. Mein Vater beteiligte sich an der Gestaltung des Abends: Er hatte eine Band mit Jurakommilitonen und spielte Schlagzeug. Meine Mutter half ihm beim Abwasch; ein Jahr später waren sie verheiratet, und mein Bruder wurde geboren; sie gaben ihm den Vornamen Olivier, und das ohne besonderen Grund, soviel ich weiß.

Mein Vater hatte kaum Gelegenheit, seinen Sohn zu sehen: Die Armee zog ihn zum Wehrdienst ein. Es war kein guter Zeitpunkt für eine Einberufung. Wegen der Ereignisse, die man noch nicht Algerienkrieg nannte, musste er statt der üblichen achtzehn Monate fast drei Jahre lang dienen. Er war in Tizi Ouzou stationiert, der Hauptstadt der Großen Kabylei, wo seinen Erzählungen nach nicht viel passierte. 

So schnell von ihrem Mann getrennt zu werden, verdross meine Mutter. Ihre Entscheidung war flugs getroffen: Sie überließ das Baby ihren Schwiegereltern und folgte dem Mann, den sie liebte, nach Algerien. Für ein siebzehnjähriges Mädchen war eine derartige Beharrlichkeit damals recht ungewöhnlich. Dort liebten sie sich. Dreifach genäht hält besser, denn bald verfiel ein Assistenzarzt im Krankenhaus von Tizi Ouzou den Reizen meiner Mutter, mit denen sie nicht geizte, und gesellte sich zu ihrem Treiben; bei einem dieser flotten Dreier wurde ich gezeugt.

„Du bist ein Kind der Liebe“, sagte mir meine Mutter in meiner Kindheit immer wieder, ohne dass ich verstand, was das zu bedeuten hatte und ob es nicht eher beunruhigend war. In Gesellschaft erwähnte sie gerne meinen dunklen Teint und die Tatsache, dass ich nichts von einem Bouillier hätte.

Als sie mir viel später auf meinen Wunsch die Umstände meiner Zeugung enthüllte, sagte sie zum Schluss, sie habe in einer Zeitschrift gelesen, dass die Spermien zweier Männer, die in der Vagina einer Frau ejakulieren, nicht miteinander wetteifern, sondern verschmelzen, um die Eizelle zu befruchten und einen Mutanten hervorzubringen. Sie erzählte mir auch, mein Vater sei sehr potent und homosexuell gewesen; später behauptete sie, das habe sie gesagt, um mir eine Freude zu machen.

                                                             ©Carl Hanser Verlag©

Literaturangabe:

BOUILLIER, GRÉGOIRE: Ich über mich. Übersetzt aus dem Französischen von Ilan Schulz. Nagel & Kimche Verlag, München 2010. 160 S., 15.90 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag


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