Von Nada Weigelt
NEW YORK / TORONTO (BLK) – Das großartige Liebesdrama „Der Englische Patient“ hat Millionen Zuschauer tief bewegt. Der Film wurde 1997 mit neun Oscars ausgezeichnet und gilt als Meisterwerk des im März gestorbenen britischen Regisseurs Anthony Minghella. Doch der eigentliche Schöpfer der Geschichte ist der kanadische Schriftsteller Michael Ondaatje. Sein brillanter gleichnamiger Roman lieferte die Vorlage für die kunstvoll verschränkte Erzählung um vier vom Schicksal zusammengeworfene Menschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Am Freitag (12. September 2008) wird der in Toronto lebende Autor 65 Jahre alt.
Mit seiner geschliffenen, dichten Sprache, den fantasiereichen Bildern und seiner ungewöhnlichen Collage-Technik gilt Ondaatje als der vielleicht größte Erzähler Kanadas. „Eine Gliederung käme mir gefährlich langweilig vor“, sagte er einmal. „Mir würde die Spannung fehlen, die ich brauche, wenn ich an einem Buch arbeite.“
Im „Englischen Patienten“ lässt er eine kanadische Krankenschwester, einen Dieb, einen Minenräumer und einen nach einem Abschuss schwer verbrannten Piloten in einer zerstörten Villa in Florenz zusammenkommen. Zwischen den vier Entwurzelten bildet sich ein intensives, spannungsgeladenes Beziehungsgeflecht, das letztlich jedoch die Einsamkeit jedes Einzelnen nicht aufheben kann.
Ondaatje erhielt für den Roman 1992 als erster kanadischer Schriftsteller den renommierten Booker Prize. Anthony Minghella las die Geschichte in einer Nacht durch und war so fasziniert, dass er am selben Morgen einen Produzenten dafür suchte. Wegen Streitigkeiten mit dem Studio über die Besetzung dauert es mit der Produktion eine Zeit. Am 6. November 1996 jedoch können Regisseur und Autor in Los Angeles einen Film präsentieren, mit dem sie beide hochzufrieden sind. In den Hauptrollen sind wie geplant Ralph Fiennes, Juliette Binoche, Willem Dafoe und Kristin Scott Thomas zu sehen.
„Der Erfolg hat mich in die Lage versetzt, das zu tun, was ich will“, sagte der experimentierfreudige Autor später. 1943 in Colombo im heutigen Sri Lanka als jüngstes von vier Kindern geboren, war Ondaatje zunächst auf der Teeplantage seines holländischen Vaters aufgewachsen. Als er fünf war, ließen sich die Eltern scheiden. Mit elf zog er seiner Mutter, einer Theater- und Tanzlehrerin, nach London nach, mit 19 wanderte er nach Kanada aus.
Schon seine beiden ersten Lyrikbände lassen die Kritik aufhorchen. Den Durchbruch schafft er 1970 mit dem Buch „Die gesammelten Werke von Billy the Kid“, einem Kaleidoskop aus Gedichten, Kurzprosa, Bildern und Interviews zu dem legendären amerikanischen Outlaw, das zum Bestseller wird. Daneben arbeitet er mehr als 25 Jahre lang im Herausgeberteam des renommierten kanadischen Kleinverlags „Coach House Press“ und lehrt am Glendon College in Toronto Englische Literatur. Heute gibt der als verschlossen geltende Autor mit seiner zweiten Frau Linda Spalding das Literaturjournal „Brick“ heraus.
In sein Geburtsland, das frühere Ceylon, kehrte Ondaatje erstmals 1978 nach fast 25 Jahren zurück, 1980 folgt eine zweite Reise. Aus der Suche nach der eigenen Vergangenheit entsteht der persönliche Erinnerungsband „Es liegt in der Familie“ (1982, dt. 1992). Auch der spätere Roman „Anils Geist“ (2000), der eine Menschenrechtlerin ins Bürgerkriegsland Sri Lanka begleitet, greift auf die interkulturellen Erfahrungen zurück.
Mit seinem jüngsten Werk „Divisadero“ stieß der Kanadier im vergangenen Jahr erstmals auf ein geteiltes Echo. Die Geschichte um eine ungewöhnliche Patchwork-Familie, die an ihrer inneren Spannung zerbricht, erhebt so radikal wie bisher kein anderes Werk des Autors das Fragmentarische zum Erzählstil. „Ein Roman für geübte, süchtige Leser“, befand Elke Heidenreich. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sprach dagegen von einer Totgeburt. „Jedes neue Buch ist der Versuch, etwa noch Schwierigeres zu tun“, sagt Ondaatje. „Und jedes Buch ist schwieriger zu schreiben als das zuvor.“
Literaturangaben:
ONDAATJE, MICHAEL: Anils Geist. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. dtv, München 2001. 323 S., 9,50 €.
---: Der Englische Patient. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen. dtv, München 2007. 383 S., 10 €.
---: Divisadero. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Hanser, München 2007. 280 S., 21,50 €.
---: Es liegt in der Familie. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. dtv, München 1997. 207 S., 9 €.
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