Von Heinz-Peter Dietrich
ZÜRICH (BLK) – Sein Werk gehört zur großen Literatur und wird von vielen in einem Atemzug mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt genannt. Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer, der am Mittwoch (21. Mai 2008) 70 Jahre alt wird, ist spätestens seit Beginn der 90er Jahre ein Schriftsteller von Rang. Und das wäre er sicher auch geworden, wenn „Literatur-Papst“ Marcel Reich-Ranicki 1992 Widmers Werk „Der blaue Siphon“ nicht vor einem Millionenpublikum im Fernsehen bejubelt hätte: „Das muss man einfach lesen!“
Der 1938 in Basel Geborene schaut auf vier Jahrzehnte schriftstellerischen Wirkens zurück. Seinen Stil zeichne „der Wechsel der Töne aus: Ironie und Satire stehen neben surrealer und realistischer Präzision“, urteilte die Jury vor einem Jahr (2007), als Widmer den Friedrich-Hölderlin-Preis bekam. Widmer lebt nach 17 Jahren als freier Autor und Literaturkritiker in Frankfurt wieder in der Schweiz in Zürich. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Zu seinen bekanntesten Werken, in denen er individuelle Schicksale mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft, gehören „Der Geliebte der Mutter“ (2000), „Das Buch des Vaters“ (2004) und „Ein Leben als Zwerg“ (2006). Seiner Prosa, seinen Hör- und Theaterstücken sei nichts fremd, befanden die Juroren des Hölderlin-Preises. „Wir begegnen scheiternden Spitzenmanagern, seltsamen Zwergen und entrückten Künstlern ebenso wie scheinbar einfachen Leuten aus der urbanen und ländlichen Menschenprovinz.“ So sammle und schildere Widmer „die Fülle der Welt“.
Widmers Vater war Gymnasiallehrer und Literaturkritiker, ein Freund Heinrich Bölls. Urs Widmer promovierte nach seinem Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegsliteratur. Von 1967 an arbeitete er zunächst als Lektor beim Suhrkamp Verlag. Sein erstes eigenes Werk „Alois“ erschien 1968 beim Verlag Diogenes, dem Widmer bis heute die Treue gehalten hat.
Nach dem Erfolg der Erzählung „Der blaue Siphon“ wurden auch der halb auf Englisch geschriebene Roman „Liebesbrief an Mary“ (1993), die Bücher „Im Kongo“ (1996) und „Der Geliebte der Mutter“ (2000), das Theaterstück „Top Dogs“ (1996) und die Komödie „Bankgeheimnisse“ (2001) Bestseller. Widmer ist eben beides: Dramatiker und Roman- Autor. „Ich habe schon immer schubartige Anfälle gehabt und je nachdem, kam dabei Theater oder Prosa heraus“, sagt er.
Auf der Bühne erzielte 1997 sein Stück „Top Dogs“, in dem es um den Absturz von entlassenen Spitzenmanagern geht, einen großen Erfolg bei Publikum und Kritik. Das Thema um den freien Fall gefeuerter Manager der obersten Etagen zeigte schon damals eine weitere Seite Widmers. Er sieht in der „Sprache der globalen Wirtschaft“ eine große Herausforderung. Wenn menschliches Handeln nur noch unter dem Gesichtspunkt der Effizienz gesehen werde, habe dies einen „präfaschistischen Beiklang“, lautete Widmers Kritik in einer Poetik-Vorlesung an der Universität Frankfurt.
Für die Aufgabe der Schriftsteller findet der mit vielen Preisen ausgezeichnete Widmer denn auch einen poetischen Vergleich: Schriftsteller müssten – wie die Regenwürmer die Erde – die „Sprache der Ökonomie“ auflockern. „Das Abweichen von der Norm“ proklamierte Widmer als oberstes Ziel für den Dichter. Ob Georg Büchner, Franz Kafka oder (Widmers Schweizer Landsmann) Robert Walser – schon immer seien Grenzgänger für den Literaturbetrieb interessanter gewesen als der „Mainstream“. Und nur wenige Autoren hätten es verstanden, das Abweichen von der Norm so gut zu inszenieren wie Goethe, meinte Widmer.