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Begegnung mit der Fremde

Hugo Hamiltons neuestes Werk „Der irische Freund“

© Die Berliner Literaturkritik, 26.07.11

MÜNCHEN (BLK) – Im Mai 2011 ist im Luchterhand Literaturverlag der neue Roman von Hugo Hamilton erschienen. „Der irische Freund“ wurde von Henning Ahrens aus dem Englischen übersetzt.

Klappentext: Wie ist das, wenn man sich in der Fremde eine neue Heimat aufbaut? In seinem neuen Roman erzählt Hugo Hamilton die Geschichte des Serben Vid Cosic, der nach Dublin geht und dort ein neues Leben, Arbeit, Freunde sucht. Der Blick des Fremden auf Irland, seine Menschen und seine Eigenheiten ist ebenso faszinierend wie die Geschichte der Freundschaft zwischen dem zurückhaltenden Vid und dem temperamentvollen Iren Kevin, einer Freundschaft, die auf Loyalität und Schuld gegründet ist und den Verrat schon in sich trägt.

Hugo Hamilton wurde 1953 als Sohn eines irischen Vaters und einer deutschen Mutter in Dublin geboren. Er arbeitete zunächst als Journalist, bevor er Kurzgeschichten und Romane veröffentlichte. Mit seinen Erinnerungsbänden „Gescheckte Menschen“ und „Der Matrose im Schrank“ erregte er großes Aufsehen. 2007 erschien „Die redselige Insel“, ein Reisetagebuch auf den Spuren Heinrich Bölls, und zuletzt der Roman „Legenden“ (2008). Hugo Hamilton lebt mit seiner Familie in Dublin.

Leseprobe:

 ©Luchterhand©

1

Ihr seid schon komisch hier.

 Zum Beispiel, was die Freundschaft angeht.

 In diesem Land ist die Freundschaft einmalig, ich kenne nichts Vergleichbares. Sie kommt aus dem Nichts. Mit voller Wucht. Ganz oder gar nicht. Ich habe an Orten gelebt, wo man die Freundschaft wie eine Balkonbepflanzung sorgfältig über einen langen Zeitraum pflegt. Hier scheint sie wild zu wachsen.

 Man könnte sagen, dass ich ihm behilflich war. Ich fand sein Handy auf der Straße. Ein Bild seiner Freundin war darauf, sie lachte in die Kamera. Sie hieß Helen. Ich hätte alle ihre Nachrichten an ihn lesen können, aber ich wollte nicht neugierig sein. Ich rief sie an und vereinbarte, ihm das Handy noch am gleichen Abend zurückzugeben. Das war eigentlich schon alles. Eine Selbstverständlichkeit. Ich wartete vor einem Laden mit längeren Öffnungszeiten, und als er auf mich zukam, lächelte er so breit, als würden wir uns schon seit einer Ewigkeit kennen. Er bedankte sich und blieb dann stehen. Er ließ mich nicht gehen. Bevor ich mich versah, revanchierte er sich bei mir und lud mich auf einen Drink in eine Bar ein. Er stellte sich als Kevin vor. Kevin Concannon. Ich kannte seinen Namen schon, aber so war es gewissermaßen offiziell. Er sei Anwalt, erzählte er mir, das Handy sei lebenswichtig für ihn, und er sei froh, dass es nicht in falsche Hände geraten sei.

 Er zeigte Interesse an mir und wollte wissen, was ich tat. Als ich sagte, ich sei Bautischler auf Arbeitssuche, versprach er, sich umzuhören. Falls ich interessiert sei, könne er mir vielleicht einen Job verschaffen. Er nahm meinen Namen und meine Nummer in seine Kontaktliste auf. Vid Ćosić. Er wiederholte meinen Nachnamen mehrmals, weil er ihn richtig aussprechen wollte. Ćosić. Wie Tschos-itsch.

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 „Woher kommst du, Vid?“

 „Belgrad“, sagte ich, um es kurz zu machen.

 Ich hatte wenig Lust, ausführlich zu erklären, warum ich hierhergekommen war und was ich zurückgelassen hatte.

„Serbien“, fügte ich hinzu. „Früheres Jugoslawien.“

 Was soll man sagen, wenn sich bei der Nennung seines Heimatlandes jeder nur an eines erinnert? Ich erzählte ihm, ich sei nach einem schweren Autounfall abgehauen. Ich habe reisen, etwas Neues sehen wollen.

 „Absolut verständlich“, sagte er.

 Ist es wichtig, woher man kommt? Vielleicht ist es ganz egal. Ich wollte mein Heimatland vergessen und neu anfangen. Ich wollte hier Fuß fassen, Land und Leute erkunden. Ich kannte schon ein paar berühmte Namen, zum Beispiel James Joyce und George Best, Bono und Bobby Sands. Ich kannte die wichtigsten Orte wie das General Post Office, den Schauplatz des Osteraufstands, und Burgh Quay, wo der Bus nach Galway abfuhr. Direkt neben der Einwanderungsbehörde. Ich begriff langsam, wie es hier lief, hatte kapiert, wie man »Wie geht’s, wie steht’s?« und »Wo geht’s ab?« sagen musste. Ich begann, die Witze zu verstehen, und versuchte, nicht immer alles bierernst zu nehmen. Ich arbeitete an meinem Akzent, verinnerlichte alle Klischees – zu guter Letzt und in neun von zehn Fällen heilt die Zeit alle Wunden. Um auf keinen Fall falsch verstanden zu werden, benutzte ich nur unverfängliche Ausdrücke. Ich vermied Abkürzungen, verkniff mir Kalauer und die Veralberung von Eigennamen. Ich versuchte, Wörter wie „krass“, „mega2 oder „affengeil“ möglichst selten zu benutzen. Ich war vorsichtig mit Redewendungen wie „Beine in die Hand nehmen“ oder „vor der Glotze hängen“. Ich mied Formulierungen wie „zisch Ab“ oder „verpiss dich“, weil ich befürchtete, jemanden zu beleidigen. Außerdem konnte ich das Wort „fuck“ nicht richtig aussprechen. Aus meinem Mund klang es immer zu hart. In diesem Land wurde es auf so viele Arten ausgesprochen, dass ich irgendwann das Handtuch geworfen hatte.

 Er fragte, wie gut ich Irland kennen würde, wo ich schon gewesen sei. Ich erzählte, dass ich den Westen kennenlernen wolle, doch er schlug einen Abstecher nach Süden vor.

 „Warst du schon auf Dursey Island?“

 „Nein“, antwortete ich.

 Er klang ein wenig herrisch und sah mir direkt in die Augen, sein Blick war fest. Er trat einfach so in mein Leben, gab mir Ratschläge, traf Entscheidungen für mich.

 „Du musst zuerst nach Dursey Island“, sagte er. „Alles andere kann warten.“

 „Warum?“

 „Es ist ein einzigartiger Ort“, sagte er. „Heute lebt dort kaum noch jemand. Es gibt nur dich und das Meer.“

 Aus welchem Grund sollte ich dorthin? Hatte er eine besondere Beziehung zu dem Ort? Angeblich gab es sechs Grade des Abstands, aber in diesem Land gab es höchstens einen oder zwei. Er schaute zur Tür des Pubs, als könnte er das ganze Land und alle Menschen darin sehen. Er erklärte mir, wie ich auf die Insel kam, die vor dem Südwestzipfel der Beara-Halbinsel in County Cork lag.

 „Du setzt mit einer Seilbahn über“, sagte er. „Es dürfte die einzige Strecke im Atlantik sein, die man in einer Seilbahn überquert.“

 „Du machst Witze“, sagte ich.

 „Nein, im Ernst“, erwiderte er. „Du kannst es nachprüfen, Vid. Es stimmt.“

 „Dursey Island.“

 „Dursey Island“, wiederholte er. „Erzähl ja niemandem, dass du noch nie dort warst.“

 Er gab mir einen Klaps auf den Rücken. Dann stand er auf, bedankte sich noch einmal und ging.

 Zwei Tage später befolgte ich seinen Rat tatsächlich. Ich würde ihm erst glauben, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hatte.

 Ich fuhr nach der Karte und verfranste mich. Also hielt ich bei einem Pub, um mich nach dem Weg zu erkundigen. Der Mann hinter der Bar schnitt gerade eine Zitrone in Scheiben, unterbrach seine Arbeit aber, um mir den Weg zu beschreiben. Ich verstand seinen Akzent nicht und konnte meinen Blick nicht von dem Filetiermesser lösen, mit dem er herumfuchtelte. Die Wörter ergossen sich über die Theke, und ich war so abgelenkt, weil er das Messer ständig durch die Luft schnellen ließ, dass ich kaum etwas mitbekam. Der Zitronenduft stieg in meine Nase, und ich wartete auf das Ende der Wegbeschreibung. Er schien meine Verwirrung zu bemerken, denn er fing noch einmal von vorn an. Aber ich konnte mich wieder nicht konzentrieren, weil ich immer nur die silbern blitzende Klinge in seiner Hand anstarrte. Er richtete das Messer auf mich und stieß ruckartig zu, erst nach vorn, dann nach oben. „Immer geradeaus“, sagte er. Hätte ich dicht vor ihm gestanden, dann hätte er mich in den Hals gestochen. Ich nickte höflich, weil er zu erwarten schien, dass ich seine Anweisungen wie ein Schuljunge wiederholte. Ich bedankte mich, um zu vermeiden, dass er mir zum dritten Mal wild fuchtelnd den Weg beschrieb, und sagte, ich wüsste jetzt Bescheid.

 Dann fuhr ich in einer schwankenden Seilbahngondel nach Dursey Island, hoch über dem Wasser und mit dem Herz in der Hose, wie man so schön sagt. Als ich ausstieg, fragte ich mich, was an dieser Insel so besonders sein sollte. Sie war zwar wunderschön und auch geschichtsträchtig, aber ich wusste nicht recht, was ich hier zu suchen hatte. Ich wanderte eine Weile umher und fotografierte. Einige Meeresvögel kannte ich noch nicht. Die Wolken waren mir auch neu, denn sie waren schneller und niedriger und schienen vom Atlantik aus unbedingt das Land erreichen zu wollen. Die Wellen brachen sich mit einem Geräusch auf den Felsen, das an das wiederholte laute Zuschlagen einer riesigen Kühlschranktür erinnerte. Ich fand, dass es bessere Ausflugsziele gab, noch beeindruckendere und noch einsamere Orte wie beispielsweise Skellig Rock, der sich wie eine gewaltige, schwarze Rückenflosse aus dem Meer erhob. Auf dem Wasser tanzte Sonnenlicht. Es sah nach Regen aus, aber es blieb trocken. Ein heftiger Wind zerrte an meiner Jacke, und ich glaubte kurz, jemand würde hinter mir stehen. Aber da war niemand, und ich kam mir vor wie der letzte Mensch auf Erden.

 Nach ein oder zwei Stunden wollte ich auf das Festland zurückkehren. In der Seilbahngondel, die auf mich zukam, konnte ich einen Jungen erkennen. Als die Tür aufglitt, sprangen ein Dutzend wie aus einer Falle befreite Schafe heraus, deren Hufe auf dem Stahl kratzten und klackerten. Sie hatten es so eilig, das Gras zu erreichen, dass sie eine Art Bockspringen veranstalteten.

 Ein Schaf blieb mit einem Bein zwischen Gondel und Plattform stecken, und der Junge versuchte, es zu befreien. Das Tier hatte panische Angst und kämpfte mit weit aufgerissenen Augen um sein Entkommen. Ich half dem Jungen, der mir erzählte, dass die Insel heutzutage vor allem als Weide genutzt wurde. Es gab einige Ferienhäuser, aber die Besitzer waren nur selten da. Die Schafe rupften am Gras, als hätten sie die gefährliche Überfahrt bereits vergessen. Auf der Rückfahrt überwältigten mich die Gerüche von Kötteln und Schafen, und meine Angst legte sich erst, als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Ich sah zu, wie die Schwester des Jungen weitere Schafe mit Pfiffen und der Unterstützung ihres Hundes in die Gondel trieb. Dann fuhren sie alle gemeinsam zur Insel. Zwischendurch stellte ich mir vor, wie die Tür aufging und die Schafe ins Meer purzelten, eines nach dem anderen, panisch strampelnd, während sie immer rasanter auf den Tod zustürzten. Aber nichts geschah, und abgesehen von der Tatsache, dass ich dort gewesen war, gab es wenig oder nichts Erinnernswertes.

©Luchterhand©

Literaturangabe:

HAMILTON, HUGO: Der irische Freund. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Luchterhand Literatur Verlag, München 2011. 285 S., 19,99 €.

Weblink:

Luchterhand

 


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