Stuttgart (BLK) – Das „Celan-Handbuch“ ist im April im J. B. Metzler Verlag erschienen.
Klappentext: Begegnung mit Paul Celan. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter des 20. Jahrhunderts. Sein Werk, vor allem die „Todesfuge“, ist fester Bestandteil des literarischen Kanons, seine Wirkung auf Kunst, Musik, Theologie und Philosophie allgegenwärtig. Sein Leitmotiv: die Shoah. Das Handbuch schlüsselt Gedichte, Prosa und Übersetzungen auf, beleuchtet historische und biographische Hintergründe, setzt sich mit den Plagiats-Vorwürfen auseinander und führt durch die Celan-Forschung. Eine Annäherung an den Dichter, die bislang fehlte.
Markus May, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft in Verbindung mit Neuerer Deutscher Literaturgeschichte, Universität Erlangen-Nürnberg; Peter Goßens, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Komparatistik, Universität Bochum; Jürgen Lehmann, Professor em. für Vergleichende Literaturwissenschaft in Verbindung mit Neuerer Deutscher Literaturgeschichte, Universität Erlangen-Nürnberg. (fri/wip)
Leseprobe:
© J. B. Metzler Verlag ©
I. Grundlagen
1. Leben und Werk im Überblick
1.1. Voraussetzungen für die Forschung
„Was muß ich wissen, um zu verstehen?“ fragte Peter Horst Neumann in seiner Rezension der C.-Biographie von Israel Chalfen (Neumann, 100)und wies damit auf ein zentrales Problem bei der Beschäftigung mit C.s Werk hin. C. selbst hatte schon in seiner Bremer Rede (GW III, 185 f.) wie auch in der Meridian-Rede (GW III, 187–202) explizit auf die lebensweltlichen Dimensionen seiner Gedichte hingewiesen. Das Gedicht, so C. in der Meridian-Rede, ist „gestaltgewordene Sprache des Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz“ (GW III, 197 f.). Auch in den persönlichen Erläuterungen, die er zu seiner Dichtung gab, betont er die existenziellen Dimensionen seines poetischen Schaffens. So schrieb er am 23. Juni 1962 an den Jugendfreund Erich Einhorn: „Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte – ich bin, Du siehst es, Realist auf meine Weise“ (Celan/Eichhorn, 6). Andererseits ist C.s Lyrik natürlich kein biographistisches Bekenntniswerk, in dem die Quellen mehr oder minder offensichtlich zutage treten. C. war ein Meister des Verbergens, der das lebensweltliche Material wie eine „Schmuggelware“ (Szondi, 135) in seine Gedichte einbrachte. Immer wieder betonen Erinnerungstexte gerade von C. nur entfernt Bekannten, dass er Details über die Entstehung und den Hintergrund seiner Gedichte für sich behielt: „Schwer nur vermag man sich vorzustellen, daß C. Auszüge aus den Erinnerungen an seine Gedichte zugänglich gemacht hätte. Eifersüchtig hütete er das Geheimnis der Werkstatt. Jegliche Auskunft bezeichnete einen Vorbehalt, hielt sich den Rückzug frei“ (Baumann, 31).
Dichtung, betont C., „ist eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration“ (GW III, 198). Das Gedicht scheint auf diese konzentrierte Weise geschlossen, hermetisch, und ist dennoch auf der Suche nach einem Gesprächspartner, einem Gegenüber, dem es sich mitteilen kann: „Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber“ (GW III, 198). In der Begegnung des Gedichtes mit diesem Anderen, dem Leser, geben sich die ‚geschmuggelten’ Details lebensweltlichen Wissens wieder zu erkennen und konstruieren einen neuen semantischen Raum: „Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich“ (GW III, 198). Die auf diese Weise proklamierte Existenzialitätdes Gedichtes macht es zur Aufgabe des Lesers, sich der Frage nach der Relevanz von Daten, der Herkunft von Zitaten und den autobiographischen Bezügen in C.s Dichtung zu stellen, ohne sein Verständnis der Gedichte auf eine einfache Referenzstruktur zu reduzieren. Im Gegenteil, wenn C. vom Leser der Gedichte fordert: „Lesen Sie. Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst“ (Chalfen, 7), entwirft er das Ideal einer im Sinne des Historisch-faktischen fast voraussetzungslosen Lektüre, die den gelegten Spuren und den Dimensionen ihrer Neukonstellation im Gedicht folgen soll. Die etymologische, biographische und historische Herkunft und Bedeutung des Materials ist nur eine Station im Prozess des Verstehens. Das Gedicht, C.s Gedichte, konstituieren eine „einmalige, punktuelle Gegenwart“ aus dem „Hier und Jetzt“ und lassen im Akt des Lesens die „Unmittelbarkeit und Nähe“ des Anderen, „dessen Zeit“ „mitsprechen“ (GW III, 198 f.).
Biographie und Interpretation
Es wundert nicht, dass die Frage nach dem Umgang mit lebensweltlichem Material zu einer der zentralen Fragen auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den celanschen Gedichten geworden ist. Noch in seinem Nachwort zur Auswahlausgabe der Gedichte rückte Beda Allemann die Frage nach dem „im weitesten Sinne autobiographischen Aspekt der Dichtung Celans“ (Allemann, 162) zugunsten einer sprachphilosophischen Perspektive in den Hintergrund. Die „spezifische Form der Wirklichkeitssuche“, so Allemann, „wird verständlicher auf dem Hintergrund eines Weges, der vom Sprachverlust bedroht war“ (ebd., 162 f.). Diesem drohenden Sprachverlust begegnet die Lyrik C.s „mit Hilfe von Transformationen“ eines lebensweltlichen Wissens, um es auf diese Weise vor „dem Untergang zu retten“ (ebd., 163).
Doch schon im Jahr nach C.s Tod wird Peter Szondi die grundlegende Frage stellen, vor der die Interpreten von C.s Lyrik seitdem stehen: „Inwiefern ist das Gedicht durch Äußerliches bedingt, und inwiefern wird solche Fremdbestimmung aufgehoben durch die eigene Logik des Gedichts?“ (Szondi, 120). Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Gedicht Du liegst (GW II, 334), das während C.s Berlinaufenthalt am 22./23. Dezember 1967 entstanden ist. Szondi hatte ihn in diesen Tagen begleitet und war dementsprechend gut über die biographischen Umstände der Entstehung informiert (vgl. Szondi, 116–119). C.s Gedicht gibt die Fülle des „biographisch-historischen Materials“ (ebd., 120) nur ausgesprochen selektiv wieder: Zwar ist das Gedicht „ohne die Erlebnissequenz des Berlinaufenthalts [...] nicht denkbar“, aber die „Bedingtheit des Gedichts [wird] durch die Zufälle des realen Lebens [...] bereits eingeschränkt, ja durchkreuzt durch die Auswahl aus ihnen“ (ebd.). Die Fülle der biographischen Details, aber auch ihre gegenwärtige Relevanz, wird durch die „Autonomie [...] der immanenten Logik des Gedichts“ (ebd., 135) transformiert und ihr Gültigkeitsbereich beschränkt. Für Szondi halten sich die „Fremdbestimmung“ der realen Bezüge und die „Selbstbestimmung“ einer immanenten Logik in C.s Gedichten „die Waage“ (ebd., 120) und müssen folgerichtig auch beide bei der Analyse berücksichtigt werden.
Die damit aufgeworfene Frage wird in der Folgezeit unterschiedlich beantwortet. Während Hans-Georg Gadamer betont, dass man „nicht Privates und Ephemeres wissen“ muss und dass man, „wenn man es weiß, von ihm wegdenken und nur das denken [soll], was das Gedicht weiß“ (Gadamer, 128), warnt Marlies Janz davor, die „politischen und historischen Sachgehalte in den Bereich bloßer Faktenkontingenz“ zu verbannen und „damit letztlich auch die spezifisch ästhetischen Gehalte“ der Celanschen Gedichte zu verkennen (Janz, 199). Im Anschluss an Szondi wird Jacques Derrida Jahre später festhalten, dass „eine direkte Zeugenschaft, bezüglich jener Umstände, unter welchen ein Gedicht geschrieben wurde, besser: der Umstände, die von einem Gedicht benannt, die von ihm im eigenen Leib verschlüsselt, verkleidet oder datiert aufbewahrt werden, zugleich unerläßlich, wesentlich, aber doch auch nur von zusätzlichem Informationswert, letztlich also unwesentlich [ist], da die besagte Zeugenschaft allenfalls ein Mehr an Verständlichkeit bewirken mag, worauf ein Gedicht getrost verzichten kann“ (Derrida, 40). Vor ähnlichen Problemen sieht sich die Forschung auch angesichts der Fülle der nachweisbaren Zitate und Lektürespuren, die einem in Werk C.s begegnen. Nicht erst seit der Überführung der Celanschen Bibliothek in das Deutsche Literaturarchiv, aber seitdem verstärkt, sind die Lektürespuren in den Bänden der Bibliothek als oftmals „auslösende ‚idées’ in einem poetischen „Transformationsprozeß“ (Seng, 32) erkannt worden. Doch ist die „Physiologie des Lesens“ bei C., so die Herausgeber des Verzeichnisses der Philosophischen Bibliothek, „nicht nur in textgenetischer Hinsicht interessant“, sondern bildet zugleich auch „ein einzigartiges Zeugnis seiner intellektuellen Leidenschaften“ sowie „einen umfassenden Einblick in die ‚mitsprechende Gedankenwelt’“ C.s (Philosophische Bibliothek, 728, vgl. außerdem: Barnert, Böschenstein (1987, 1993, 1995), Gellhaus, Ivanović (1995), Seng, Wiedemann). Die Breite und der Umfang des Lektürekanons überrascht, zumal neben den ca. 5000 erhaltenen Bänden der realen Bibliothek in Marbach zunehmend auch die Bedeutung einer ‚virtuellen Lektürewelt’ aus Bücher-, Zeitschriften- und Zeitungslektüren erkennbar wird (vgl. Philosophische Bibliothek, 729 f., Wiedemann, aber auch zahlreiche Kommentare in KG). Zugleich wesentlich und unwesentlich“ (Derrida, 40): In dieser Ambivalenz bewegt sich die Auseinandersetzung mit Daten, biographischen Fakten und Zitaten. Eine endgültige Antwort auf die Zulässigkeit einer bestimmten Form des Umgangs ist vermutlich nicht zu geben. Methodisch scheint der von Szondi vorgeschlagene Weg, der vom Gedicht ausgeht und das positive Wissen zur Überprüfung der eigenen Erkenntnis heranzieht, ein guter Ansatz, vorausgesetzt, dass der Interpret sich mit entsprechender Aufmerksamkeit und Konzentration dem Text als eigentlichem Gegenstand seiner Arbeit widmet. Dass dies nicht immer der Fall ist bzw. war, hat Winfried Menninghaus mit berechtigter Polemik beschrieben. Nach seiner Darstellung feierte die Forschung bis zum Ende der 1980er Jahre beinahe jede Verifizierung eines lebensweltlichen Faktums in den Gedichten als interpretatorischen Erfolg und vergaß darüber oft die Auseinandersetzung mit dem Text. Für Menninghaus stellte sich die Situation folgendermaßen dar: „Anspielungen und Zitate werden zwar nicht unvermittelt und direkt als die ultima ratio des interpretatorischen Detektivspiels ausgegeben – insofern hält man Vorwürfe methodischer Naivität auf Distanz. Sie werden aber immerhin als Voraussetzung und meist auch als Schlüsseldaten für Gedichtlektüre eingesetzt – sonst müßte man die schönen Funde ja für wertlos halten“ (Menninghaus, 81)
Die Forschungssituation heute
So berechtigt diese Kritik ist, muss man auch die besondere Situation der frühen Forscher berücksichtigen: Ihnen stand, neben ihrer wissenschaftlichen Kompetenz und der intensiven Lektüre, für ihre Arbeit nur ein weitgehend unerschlossenes Werk zur Verfügung: So erschien die erste umfassende Gesamtausgabe der Celanschen Schriften, sieht man von verschiedenen Auswahlausgaben ab, erst 1983. C.-Philologie in diesen Jahren war Pionierarbeit, zudem waren viele Forscher dieser Zeit in nicht unerheblicher Weise von ihrer persönlichen Bekanntschaft mit C. beeinflusst. Auf die ‚Entdeckung’ eines lebensweltlichen Details konnte man also zu Recht mit einigem Stolz verweisen, musste aber, und dahin zielt die Kritik von Menninghaus, verantwortungsvoll im Sinne des Gedichtes mit diesen Fakten umgehen.
Nachlass und Bibliothek
Diese Situation hat sich seitdem, oder genauer: seit der Überführung des celanschen Nachlasses in das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (1990) entscheidend verändert. In den Jahren zuvor wurde der Nachlass in der familiären Wohnung in Paris und in Sommerhaus der Familie in Moisville aufbewahrt und dort vorläufig erfasst. Auf Grundlage dieser früheren Vorarbeiten wurden die umfangreichen Materialien des Nachlasses, d. h. die Handschriften der publizierten und unpublizierten Gedichte, Entwürfe, Übersetzungen, Briefe und persönlichen Dokumente, in Marbach erstmals systematisch erschlossen und der Forschung durch eine detaillierte Inventarliste zugänglich gemacht. Andere Nachlassmaterialen, etwa die wichtigen Dokumente des in Bukarest aufbewahrten Frühwerks, wurden, so weit wie möglich, als Kopie ergänzt. Der Zugang zum Nachlass ist heute über die Marbacher Benutzungsbestimmungen geregelt und unterliegt, zumindest in den unpublizierten Teilen, einem besonderen Genehmigungsverfahren.
Als besondere Sammlung befinden sich in Marbach auch große Teile der Celanschen Bibliothek. Das in Paris und Moisville erstellte Bestandsverzeichnis entspricht nicht der Marbacher Ordnung, auch wurde dieses Verzeichnis des Pariser Bestandes bislang nicht mit den Marbacher Beständen abgeglichen. Bis auf wenige Teilbereiche (vgl. u. a. das Verzeichnis der Bibliothèque philosophique (Philosophische Bibliothek), der Russika (Ivanović), aber auch Goßens 2000, 348– 353) liegt daher kein zuverlässiges Verzeichnis der Bibliothek vor. Ein vollständiges und sorgfältig erarbeitetes Bibliotheksverzeichnis, möglichst auch in Buchform, wäre daher für die zukünftige Forschung ein wesentliches und dringend benötigtes Hilfsmittel. Ein solches Verzeichnis sollte jedoch nicht nur den Marbacher Bestand, sondern möglichst auch andere Lektürespuren, die sog. ‚imaginäre Bibliothek Celans’, berücksichtigen.
Die mit der Erschließung des Nachlasses einsetzende Editionsflut stellt die Forschung der Gegenwart und der Zukunft vor ganz andere Probleme als in den Jahren zuvor: Nun ist es weniger der selektive Fund, als vielmehr die Fülle des positiven Wissens, das die C.-Forschung zum einen spannend, zum anderen auch sehr komplex macht. Es ist nichts Besonderes mehr, biographische Fakten zu kennen, schwieriger ist es jedoch, Biographie und Interpretation konsistent im szondischen Sinne miteinander zu verbinden.
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Literaturangaben:
MAY, MARKUS /GOSSENS, PETER / LEHMANN, JÜRGEN (Hrsg.): Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirken. J.B. Metzler, Stuttgart 2008. 399 S., 49,95 €.
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