Von Wilfried Mommert
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral - das habe ich zwar geschrieben, aber doch nicht als meine Meinung, sondern als Ansicht des Lumpenproletariats!“ Bertolt Brecht wird laut und deutlich im Gespräch mit Gustav Just, stellvertretender Chefredakteur der kulturpolitischen DDR-Wochenzeitung „Sonntag“ in seinem Haus in Buckow bei Berlin. Er habe auch noch „Gedichte über den 17. Juni“ in seinen Unterlagen, meinte Brecht, aber die seien „zu scharf“ und die Zeit für eine Veröffentlichung noch nicht reif, erinnert sich Just an Brechts Aussagen dazu. „Von der jetzigen Parteiführung hielt er nicht viel.“
Der Bericht über das Gespräch mit Brecht im Sommer 1956, wenige Wochen vor dessen Tod im August desselben Jahres, ist in dem Band mit 59 „Begegnungen mit Brecht“ enthalten, der vom Leiter des Berliner Brecht-Archivs, Erdmut Wizisla, herausgegeben wurde. Es sind Briefe, Tagebücher, Probenberichte, Streitgespräche mit Brecht und allgemeine Beschreibungen der Person des Lyrikers und Bühnenautors („Dreigroschenoper“, „Mutter Courage“) von Zeitzeugen wie Carl Zuckmayer, Lotte Lenya, Ruth Berlau, Peter Suhrkamp, Giorgio Strehler, Walter Benjamin, Peter Huchel und Peter Palitzsch, deren Aussagen Wizisla aus den verschiedensten früheren Publikationen zusammengestellt hat, aber auch aus diesem Anlass geschriebene Beiträge. Es sind Kollegen, Freunde, Mitarbeiter, Schüler und auch Widersacher.
„Kein Heiligenbild, aber manche Überraschung, hoffentlich eine Art Entstaubung“, meint der Herausgeber zu seinem Band. Auf alle Fälle ist es ein spannend zu lesendes Buch, das den Menschen Brecht in all seinen Widersprüchlichkeiten in vielen Facetten und Farben noch einmal lebendig werden lässt. Auch wenn schon ganze Bibliotheken über Brecht geschrieben worden sind, das neue Buch ist eine wahre Fundgrube für Brecht-Liebhaber und eine gut aufbereitete Fibel für „Anfänger“, die einen der größten Dramatiker des 20. Jahrhunderts näher kennenlernen wollen, wenn sie sich gleichzeitig in seine Werke vertiefen.
„Wie Brecht eigentlich war, lässt sich so wenig sagen, wie es sich für irgend einen Menschen sagen lässt“, meint Wizisla. „Aber wir nähern uns Antworten, wenn wir viele Stimmen hören“, die sich aber manchmal auch widersprechen, weil es auch Stimmen sind von Menschen, die Brecht sehr nahe standen oder ihn nur flüchtig kannten und doch ein Bild entwarfen oder festhielten, die von Brecht angezogen oder abgestoßen oder sogar beides zusammen waren. „Hinter seinen kleinen versteckten Augen wetterleuchtet es von Widersprüchen“, notierte sich Max Frisch einmal. Es fehlen in dem neuen Band allerdings Menschen, die Brecht am nächsten standen wie seine Frau und Mitarbeiterin Helene Weigel oder die Kinder Hanne, Stefan und Barbara.
Der Mailänder Theatermacher Giorgio Strehler, dem Brecht wohl seinen europäischen und internationalen Durchbruch zu verdanken hat, sah in Brecht einen zurückhaltenden, fast schüchternen Menschen, aber auch einen „extrovertierten, auch heftigen, gefürchteten und zugleich liebevollen Chef“ seiner Mitarbeiter. Das erste, was Elias Canetti, der von den Gedichten in der „Hauspostille“ hingerissen war, an Brecht auffiel, war die „proletarische Verkleidung“.
Der Maler George Grosz schrieb 1935 über den bereits im Exil lebenden Brecht: „Netter Kerl. Ulkiges Haus. Strenger Marxist. Lebt in guten Verhältnissen...großartige Type er, queer aber hochbegabt - voller Paradoxe.“ Walter Benjamin notierte sich 1938 Brechts feine Differenzierung: „Ich bin ja nicht gegen das Asoziale - ich bin gegen das Nichtsoziale“, aber auch kräftige Ausfälle: „Die Deutschen sind ein Scheißvolk. Das ist nicht wahr, daß man von Hitler keine Schlüsse auf die Deutschen ziehen darf.“
Nach dem Untergang Hitler-Deutschlands ließ sich Brecht in Ost-Berlin nieder und arrangierte sich, „er war ein listiger Realist“, notierte der Dichter und Herausgeber der angesehenen DDR-Zeitschrift „Sinn und Form“, Peter Huchel, über seinen Förderer und Beschützer, aber: „Brecht war für diesen Staat, ich habe niemals eine gegenteilige Äußerung von ihm gehört, er kritisierte zwar oft Zustände, vor allem auf kulturellem Gebiet, die ihm nicht behagten...doch am 1. Mai zog er mit den Mitgliedern des Berliner Ensembles an der Ehrentribüne vorbei.“ Aber die „Spaltung des Landes“ war ihm „unerträglich“.
Literaturangabe:
WIZISLA, ERDMUT (HRSG.): Begegnungen mit Brecht. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2009. 400 S., 19,90 €.
Weblink: