Von Andreas Landwehr
PEKING (BLK) - Es ist das erfolgreichste Buch der neueren Geschichte Chinas. Schätzungsweise 20 Millionen Exemplare sind in fünf Jahren verkauft worden - mehr als drei Viertel Raubkopien. „Der Zorn der Wölfe“ wird kontrovers diskutiert, bescheinigt es doch den Chinesen, „schwach wie die Schafe“ zu sein - im Gegensatz zu den Mongolen, die von ihren natürlichen Feinden, den Wölfen, gelernt haben. „Ihr Chinesen habt einfach keinen Mumm in den Knochen“, sagt ein Mongole der Hauptfigur Chen Zhen, ein chinesischer Student, der sich während der Kulturrevolution freiwillig zum Arbeitseinsatz im Grasland gemeldet hatte. Elf Jahre lebte der Autor Jiang Rong selbst bei den Mongolen, lernte von den Viehzüchtern und den Wölfen, die für ihn ein „wichtiges kulturelles Konzept“ darstellen.
Aus seiner Sicht würde den Chinesen heute eine Transfusion mit Wolfsblut guttun. Der Held in seinem autobiografischen Roman verweist dafür auch auf die Stärke der Teutonen, Germanen und Angelsachsen. „In ihnen fließt das Blut der Wölfe.“ Er folgert: „Die eher kleinmütigen Chinesen aber bräuchten diesen wilden Geschmack in ihren Adern.“ In dem fast 700 Seiten umfassenden, spannend geschriebenen Naturepos stellt der Autor die Nomaden des Graslandes, die „die hervorragende Kriegsschule der Wölfe besucht“ haben, den ackerbautreibenden Chinesen gegenüber, die durch den Konfuzianismus zu Untertanen, sprich zur Schwäche, erzogen worden sind. „Die Fähigkeit eines Volkes zum eigenen Schutz und zur Selbstverteidigung ist Grundlage seines Überlebens.“
Wer aus solchem Sozialdarwinismus nationalistische Thesen folgert, tut den Motiven des pensionierten Pekinger Politikprofessors Lü Jiamin, der sich hinter dem Pseudonym Jiang Rong verbirgt, allerdings Unrecht. In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur dpa in Peking wehrt sich der 62-Jährige vehement gegen Vorwürfe, den Nationalismus zu nähren oder gar ein starkes, faschistisches China zu befürworten. Dass selbst Chinas Militärs ihren Soldaten die Lektüre empfiehlt, ist auch Beifall von der falschen Seite, wenngleich nicht unprovoziert. Mit der Kritik am schwachen Chinesen trifft Jiang Rong einen Nerv in einer Gesellschaft, die von der Propaganda lernt, sich Demütigungen wie einst durch die imperialistischen Mächte nicht mehr gefallen zu lassen, und dabei übersieht, dass solch ein Nationalismus nur das Vakuum durch den Rückzug kommunistischer Ideologie auffüllt.
„Zu viele Menschen missbrauchen mich“, klagt Jiang Rong. „Mein Buch predigt Freiheit und Unabhängigkeit.“ Es gehe allein um die Menschen, die den konfuzianischen Gehorsam abschütteln, sich als mündige Bürger gegen die mächtige Partei erheben und wie die Wölfe kämpfen sollten. Er weiß, wovon er spricht: Bei der Demokratiebewegung 1989 hatte der Professor seine Studenten zu Protesten angeführt. Nach der blutigen Niederschlagung der Demonstrationen am 4. Juni 1989 kam er 18 Monate ins Gefängnis. Sein Buch hätte 2004 nicht veröffentlicht werden können, wenn die wahre Identität von Jiang Rong bekanntgewesen wäre.
Die politischen Kontroversen um das Buch überdecken auch völlig, dass es über weite Strecken um die Tiere des Graslandes und das Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch geht, das die unwissenden Chinesen zerstören, so dass heute heftige Sandstürme über Peking hinwegfegen. Den Geist der Wölfe, der sich über Chinas Gesellschaft legen soll, bringt der Autor im Interview auf fünf Punkte: Freiheit, Unabhängigkeit, Wettbewerb, Mut und Teamgeist. „Ich glaube, dass wir keine Reform in Richtung Demokratie und Freiheit und wirtschaftliche Veränderung schaffen können, wenn wir nicht den Charakter der Nation verändern.“ Doch dürfe nichts überstürzt werden, mahnt Jiang Rong. China brauche Zeit: „20 oder 30 Jahre.“
Literaturangaben:
RONG, JIANG: Der Zorn der Wölfe: Goldmann Verlag, München 2008. 704 S., 24,95 €.